H. G. Wells – Gesammelte Werke

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13. Kapitel – Mr. Marvel will abdanken

Bei Ein­bruch der Dun­kel­heit, als Iping eben be­gann, einen schüch­ter­nen Blick auf die Trüm­mer der fest­li­chen Ver­an­stal­tun­gen zu wer­fen, schritt ein klei­ner, di­cker Mann in ei­nem schä­bi­gen Zy­lin­der müh­sam den Bir­ken­wald an der Stra­ße nach Bramb­le­hurst ent­lang. Er trug drei Bü­cher, die durch ein ei­gen­tüm­li­ches elas­ti­sches Band zu­sam­men­ge­hal­ten wur­den, und ein in ein blau­es Tisch­tuch ein­ge­wi­ckel­tes Bün­del. Sein ro­tes Ge­sicht zeig­te deut­li­che Spu­ren von Mü­dig­keit und Angst, und von Zeit zu Zeit schi­en er einen ko­mi­schen An­lauf zu ei­ner be­schleu­nig­te­ren Gan­gart zu neh­men. Eine Stim­me, die nicht sei­ne ei­ge­ne war, folg­te ihm, und wie­der und wie­der stöhn­te er un­ter dem Druck ei­ner un­sicht­ba­ren Hand.

»Wenn Sie mir noch ein­mal ent­wi­schen«, sag­te die Stim­me, »wenn Sie noch ein­mal den Ver­such dazu ma­chen – –«

»Herr Gott!«, stöhn­te Mr. Mar­vel. »Mei­ne Schul­ter ist schon ganz zer­quetscht.«

»Dann töte ich Sie, auf Ehre!«, fuhr die Stim­me fort.

»Ich woll­te Ih­nen gar nicht ent­wi­schen«, sag­te Mar­vel schluch­zend. »Ich schwö­re, dass ich nicht die Ab­sicht hat­te. Ich kann­te nur die Rich­tung nicht. Wie, zum Teu­fel, konn­te ich die Rich­tung ken­nen? Ich bin ja so her­um­ge­sto­ßen wor­den – –«

»Sie wer­den noch viel mehr her­um­ge­sto­ßen wer­den, wenn Sie sich nicht zu­sam­men­neh­men«, er­wi­der­te die Stim­me, und Mr. Mar­vel wur­de plötz­lich ganz still. Er stieß die Luft durch die Zäh­ne und in sei­nen Au­gen mal­te sich die Verzweif­lung.

»Es ist schon schlimm ge­nug, dass die­se ein­fäl­ti­gen Pin­sel dort un­ten mein Ge­heim­nis ken­nen, auch ohne dass Sie mit mei­nen Bü­chern sich da­von­ma­chen. Für man­che von ih­nen ist es ein Glück, dass sie um­kehr­ten und nach Hau­se rann­ten! Da bin ich nun … Nie­mand hat vor­her ge­wusst, dass ich un­sicht­bar bin! Und was soll ich jetzt an­fan­gen?«

»Was soll ich an­fan­gen?«, frag­te Mar­vel bei­sei­te.

»Al­les ist ver­ra­ten. Es wird in die Zei­tun­gen kom­men. Je­der wird nach mir su­chen. Je­der wird auf sei­ner Hut sein – – –«

Die Stim­me brach in wil­de Ver­wün­schun­gen aus und ver­stumm­te. In Mr. Mar­vels Ge­sicht trat im­mer deut­li­cher dump­fe Verzweif­lung her­vor, und sein Schritt ver­lang­sam­te sich.

»Vor­wärts«, rief die Stim­me.

Das Ge­sicht Mr. Mar­vels wur­de asch­grau zwi­schen den ro­ten Fle­cken.

»Las­sen Sie die Bü­cher nicht fal­len, Sie Dumm­kopf«, sag­te die Stim­me in schar­fem Tone.

»Tat­sa­che ist«, fuhr die Stim­me fort, »dass ich Sie ver­wen­den muss … Sie sind ein arm­se­li­ges Werk­zeug, aber es geht nicht an­ders.«

»Ein elen­des Werk­zeug«, be­teu­er­te Mar­vel.

»So ist es«, mein­te die Stim­me.

»Ich bin das schlech­tes­te Werk­zeug, das Sie wäh­len konn­ten«, setz­te Mar­vel hin­zu.

»Ich bin nicht kräf­tig«, fuhr er nach ei­nem ent­mu­ti­gen­den Still­schwei­gen fort.

»Ich bin nicht über­mä­ßig kräf­tig«, wie­der­hol­te er.

»Nein?«

»Und mein Herz ist an­ge­grif­fen. Die­ser klei­ne Auf­trag – ich habe ihn na­tür­lich aus­ge­führt. Aber, bei Gott! Mir war zum Um­fal­len!«

»Nun?«

»Ich habe we­der Kraft noch Mut ge­nug für die Din­ge, wel­che Sie ver­lan­gen – – –«

»Ich wer­de Sie an­feu­ern.«

»Ich wünsch­te, Sie tä­ten es nicht. Es wäre mir nicht lieb, Ihre Plä­ne zu­nich­te zu ma­chen, wis­sen Sie. Aber es wäre mög­lich, dass ich aus pu­rer Angst und Jäm­mer­lich­keit – –«

»Ich wür­de es Ih­nen nicht ra­ten«, sag­te die Stim­me ru­hig, aber nach­drück­lich.

»Ich woll­te, ich wäre tot«, sag­te Mar­vel.

»Wo bleibt die Ge­rech­tig­keit?«, fuhr er fort. »Sie müs­sen zu­ge­ben … Ich glau­be, ich habe ein Recht – –«

»Vor­wärts«, sag­te die Stim­me.

Mr. Mar­vel be­schleu­nig­te den Schritt und eine Zeit lang gin­gen sie schwei­gend ne­ben­ein­an­der.

»Es ist ver­teu­felt schwer«, sag­te Mr. Mar­vel.

Das hat­te kei­ne Wir­kung. Er ver­such­te einen an­de­ren An­griff.

»Was habe ich da­von«, be­gann er in dem Tone ei­nes schwer ge­kränk­ten Man­nes.

»Oh, sei­en Sie still!«, sag­te die Stim­me mit er­staun­li­cher Ener­gie. »Ich wer­de schon für Sie sor­gen. Sie wer­den tun, was ich Ih­nen be­feh­le. Sie kön­nen es ganz gut aus­füh­ren. Dass Sie ein Dumm­kopf sind, ist ja klar, aber Sie wer­den – –«

»Ich sage Ih­nen, Herr, ich pas­se nicht dazu. Bei al­ler schul­di­gen Hochach­tung – aber es ist so – –«

»Wenn Sie nicht ru­hig sind, wer­den Sie Ihre Kno­chen spü­ren«, sag­te der Un­sicht­ba­re. »Ich will un­ge­stört Nach­den­ken.«

Kur­ze Zeit dar­auf sah man zwei gel­be Lich­ter durch die Bäu­me schim­mern und ein vier­e­cki­ger Kirch­turm stieg im Dun­kel vor ih­nen auf. »Ich wer­de mei­ne Hand auf Ih­rer Schul­ter lie­gen las­sen, bis wir das Dorf hin­ter uns ha­ben«, sag­te die Stim­me. »Ge­hen Sie ge­ra­de­aus durch und ma­chen Sie kei­ne Dumm­hei­ten, es könn­te Ih­nen schlecht be­kom­men.«

»Ich weiß es«, seufz­te Mr. Mar­vel, »ich weiß es.«

Und die un­glück­li­che Ge­stalt in dem schä­bi­gen Zy­lin­der­hut ging schwei­gend mit ih­rer Last durch das Dorf und ver­schwand im Dun­kel.

14. Kapitel – In Port Stowe

Die zehn­te Stun­de des nächs­ten mor­gens fand Mr. Mar­vel un­ra­siert, schmut­zig und von der Rei­se voll­kom­men er­schöpft auf der Bank vor ei­nem klei­nen Wirts­haus in ei­ner Vor­stadt von Port Sto­we sit­zen. Er hat­te die Hän­de in den Ta­schen und sah recht ner­vös und un­be­hag­lich drein. Ne­ben ihm la­gen die Bü­cher, jetzt aber mit Schnü­ren or­dent­lich zu­sam­men­ge­bun­den. Das Bün­del war in­fol­ge ei­ner Än­de­rung in den Plä­nen des Un­sicht­ba­ren in den Fich­ten­wäl­dern bei Bramb­le­hurst zu­rück­ge­las­sen wor­den und Mr. Mar­vel saß auf der Bank und be­fand sich, ob­wohl nie­mand auch nur die lei­ses­te No­tiz von ihm nahm, in fie­ber­haf­ter Auf­re­gung. Wie­der und wie­der steck­te er die Hän­de mit selt­sam ver­wirr­ten Be­we­gun­gen in die ver­schie­de­nen Ta­schen sei­nes An­zu­ges.

Er war bei­na­he eine Stun­de so dort ge­ses­sen, als ein ält­li­cher Ma­tro­se mit ei­ner Zei­tung in der Hand aus dem Wirts­haus kam und sich ne­ben ihm nie­der­ließ.

»Ein schö­ner Tag«, be­merk­te der Ma­tro­se.

Mr. Mar­vel sah sich ängst­lich um. »Sehr«, sag­te er.

»Gera­de das rich­ti­ge Wet­ter für die­se Jah­res­zeit«, fuhr der Ma­tro­se mit großer Be­stimmt­heit fort.

»Ge­wiss«, ent­geg­ne­te Mr. Mar­vel.

Der Ma­tro­se zog einen Zahn­sto­cher her­vor und be­schäf­tig­te sich (mit Er­laub­nis) ei­ni­ge Mi­nu­ten mit dem­sel­ben. In­zwi­schen hat­ten sei­ne Au­gen vol­le Frei­heit, Mr. Mar­vels staub­be­deck­tes Ge­sicht und die Bü­cher ne­ben ihm zu be­trach­ten. Als er sich ihm ge­nä­hert hat­te, hat­te er einen Ton ge­hört, wie wenn Geld­stücke in ei­ner Ta­sche klim­pern. Der Ge­gen­satz zwi­schen der äu­ße­ren Er­schei­nung Mar­vels und die­sem Zei­chen von Wohl­ha­ben­heit fiel ihm auf. Dann wan­der­ten sei­ne Ge­dan­ken wie­der zu ei­nem Ge­gen­stan­de zu­rück, der sei­nen Geist in ho­hem Gra­de be­schäf­tig­te.

»Bü­cher?«, sag­te er end­lich, den Zahn­sto­cher ge­räusch­voll aus dem Mun­de neh­mend.

Mr. Mar­vel blick­te er­schro­cken auf die Bü­cher. »O, ja«, sag­te er. »Das sind Bü­cher.«

»Es ste­hen manch­mal merk­wür­di­ge Din­ge in den Bü­chern«, sag­te der Ma­tro­se.

»Da ha­ben Sie recht«, er­wi­der­te Mr. Mar­vel.

»Und es gibt auch sonst merk­wür­di­ge Din­ge«, mein­te der Ma­tro­se.

»Auch das ist rich­tig«, ent­geg­ne­te Mr. Mar­vel. Er blick­te den Spre­cher an und schau­te sich dann um.

»Es ste­hen merk­wür­di­ge Din­ge zum Bei­spiel in den Zei­tun­gen«, fuhr ers­te­rer fort.

»So ist es.«

»In die­ser Zei­tung«, sag­te der Ma­tro­se.

»Ah!«, sag­te Mr. Mar­vel.

»Da steht eine Ge­schich­te«, fuhr der Ma­tro­se fort, Mar­vel mit nach­denk­li­cher Auf­merk­sam­keit be­trach­tend. »Da steht zum Bei­spiel eine Ge­schich­te von ei­nem un­sicht­ba­ren Men­schen.«

Mr. Mar­vel ver­zog den Mund, kratz­te sich auf dem Kop­fe und fühl­te, wie sei­ne Ohren zu glü­hen be­gan­nen. »Was wer­den sich die Leu­te nächs­tens aus­den­ken?«, frag­te er zag­haft. »Wo denn, in Ame­ri­ka oder Aus­tra­li­en?«

»Kei­nes von bei­den«, ant­wor­te­te der Ma­tro­se. »Hier

»Herr­gott!«, rief Mr. Mar­vel zu­sam­men­fah­rend.

»Wenn ich sage hier«, er­klär­te der Ma­tro­se zu Mr. Mar­vels un­ge­heu­rer Er­leich­te­rung, »so mei­ne ich na­tür­lich nicht in die­sem Orte, son­dern hier in der Ge­gend.«

»Ein un­sicht­ba­rer Mensch!«, rief Mr. Mar­vel.

»Und was tut er denn?«

»Al­les«, er­wi­der­te der Ma­tro­se, Mar­vel scharf be­ob­ach­tend, und er­klär­te dann: »Al­les – al­les – mög­li­che.«

»Ich habe seit vier Ta­gen kei­ne Zei­tung in der Hand ge­habt«, sag­te Mar­vel.

»In Iping fing es an«, er­zähl­te der Ma­tro­se.

»Wirk­lich!«, sag­te Mar­vel.

»Dort tauch­te er auf. Wo­her er kam, scheint nie­mand zu wis­sen. Hier steht es: ›Selt­sa­me Er­eig­nis­se in Iping!‹ Und das Blatt sagt, dass voll­kom­men ver­läss­li­che Aus­sa­gen vor­lie­gen, die ganz un­an­fecht­bar sind.«

»Herr­gott!«, sag­te Mr. Mar­vel.

»Aber es ist auch eine ganz un­ge­wöhn­li­che Ge­schich­te. Ein Pfar­rer und ein Dok­tor sind Zeu­gen – sa­hen ihn ganz ge­nau – oder viel­mehr sa­hen ihn nicht. Er hat, heißt es, im ›Fuhr­mann‹ ge­wohnt und nie­mand scheint von sei­nem Un­glück ge­wusst zu ha­ben, heißt es, bis die Ver­bän­de von sei­nem Kopf her­un­ter­ge­ris­sen wur­den. Das ge­sch­ah bei ei­nem Streit im Wirts­haus, heißt es. Da be­merk­te man, dass sein Kopf un­sicht­bar war. So­fort wur­den Maß­nah­men ge­trof­fen, ihn fest­zu­neh­men, aber er warf sei­ne Klei­der ab, heißt es, und es ge­lang ihm zu ent­kom­men, nach­dem er, heißt es, in ei­nem ver­zwei­fel­ten Kamp­fe un­se­rem all­ge­mein be­lieb­ten und tüch­ti­gen Gen­darmen, Mr. I.A. Jaf­fers, meh­re­re schwe­re Ver­let­zun­gen bei­ge­bracht hat­te … Die Ge­schich­te hat doch Hand und Fuß, nicht? Na­men und al­les.«

 

»Herr­gott!«, sag­te Mr. Mar­vel, ner­vös nach al­len Sei­ten bli­ckend, wo­bei er ver­such­te, das Geld in sei­nen Ta­schen ins­ge­heim zu zäh­len, und von ei­nem selt­sa­men neu­en Ge­dan­ken er­füllt. »Das klingt wahr­haf­tig er­staun­lich.«

»Nicht wahr? Ganz au­ßer­or­dent­lich nen­ne ich es. Ich habe nie vor­her et­was von ei­nem un­sicht­ba­ren Men­schen ge­hört, nie­mals, aber heut­zu­ta­ge hört man von ei­ner so er­staun­li­chen Men­ge von merk­wür­di­gen Din­gen – dass – –«

»Hat er sonst nichts ge­tan?«, frag­te Mar­vel und ver­such­te da­bei ge­las­sen aus­zu­se­hen.

»Ist das nicht ge­nug?«, mein­te der Ma­tro­se.

»Ist er nicht viel­leicht zu­rück­ge­kom­men?«, frag­te Mar­vel. »Er ent­wisch­te nur, und sonst ge­sch­ah nichts?«

»Nichts!«, er­wi­der­te der Ma­tro­se. »Ist denn das nicht ge­nug?«

»Voll­kom­men ge­nug«, be­stä­tig­te Mar­vel.

»Ich däch­te, das wäre ge­nug«, sag­te der Ma­tro­se. »Ich däch­te, das wäre über­reich­lich ge­nug.«

»Er hat kei­ne Hel­fer ge­habt – es steht nichts von Hel­fern, nicht wahr?«, frag­te Mr. Mar­vel ängst­lich.

»Ge­nügt Ih­nen ei­ner von der Sor­te nicht?«, frag­te der Ma­tro­se. »Nein, er war, Gott sei Dank muss man wohl sa­gen, al­lein.«

Er nick­te lang­sam mit dem Kop­fe. »Schon der Ge­dan­ke, dass die­ser Kerl die Ge­gend un­si­cher macht, stimmt mich un­be­hag­lich! – – Er ist jetzt frei, und man hat Ur­sa­che, an­zu­neh­men, dass er den Weg nach Port Sto­we ein­ge­schla­gen hat. – Sie se­hen, wir ste­cken mit­ten drin! Dies­mal ist es kei­ne ame­ri­ka­ni­sche Räu­ber­ge­schich­te. Und wenn man be­denkt, was er al­les tun kann! Was wür­den Sie an­fan­gen, wenn er einen Trop­fen über den Durst ge­trun­ken hät­te, und es ihm ein­fie­le, mit Ih­nen Hän­del zu su­chen? An­ge­nom­men, dass er steh­len woll­te – wer könn­te ihn hin­dern? Er kann rau­ben, er kann ein­bre­chen, er kann eben so si­cher durch eine Ket­te von Po­li­zei­leu­ten kom­men, als Sie oder ich einen Blin­den er­wi­schen könn­ten! Noch leich­ter und si­che­rer! Denn die Blin­den ha­ben un­ge­wöhn­lich schar­fe Sin­ne, habe ich mir sa­gen las­sen. Und wenn er – – –« »Er ist ge­wal­tig im Vor­teil, na­tür­lich«, sag­te Mr. Mar­vel. »Und – se­hen Sie.«

»Ge­wal­tig im Vor­teil«, be­stä­tig­te der Ma­tro­se.

Die gan­ze Zeit über hat­te Mr. Mar­vel auf­merk­sam her­um­ge­späht, auf lei­se Fuß­trit­te ge­horcht, un­merk­li­che Be­we­gun­gen zu er­ken­nen ge­sucht. Er schi­en vor ei­nem großen Ent­schluss zu ste­hen –er hus­te­te hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand.

Wie­der blick­te er her­um – horch­te – rück­te nahe an den Ma­tro­sen her­an und senk­te die Stim­me.

»Die Sa­che ist die, ich – ich weiß zu­fäl­lig ver­schie­de­nes von die­sem Un­sicht­ba­ren. Aus pri­va­ten Quel­len.«

»Oh!«, sag­te der Ma­tro­se. »Sie?«

»Ja, ich«, er­wi­der­te Mr. Mar­vel.

»Nicht mög­lich!«, rief der Ma­tro­se. »Und darf man fra­gen – –?«

»Sie wer­den ver­blüfft sein«, sag­te Mr. Mar­vel hin­ter der Hand her­vor. »Es ist ko­los­sal.«

»Was Sie sa­gen!«

»Die Sa­che ist die«, be­gann Mr. Mar­vel eif­rig, mit ver­trau­li­chem Ge­flüs­ter. Plötz­lich än­der­te sich sein Ge­sichts­aus­druck voll­kom­men. »Au!«, rief er und rich­te­te sich steif auf; auf sei­nem Ge­sicht spie­gel­te sich kör­per­li­ches Lei­den. »Au weh!«

»Was gib­t’s?«, frag­te der Ma­tro­se be­trof­fen.

»Zahn­schmer­zen«, ant­wor­te­te Mr. Mar­vel und leg­te die Hand auf sei­ne Wan­ge. Er griff nach sei­nen Bü­chern. »Ich muss ge­hen«, sag­te er und rutsch­te in selt­sa­mer Wei­se auf der Bank von sei­nem Ge­nos­sen fort.

»Aber Sie woll­ten mir doch ge­ra­de von die­sem un­sicht­ba­ren Men­schen er­zäh­len«, warf der Ma­tro­se ein.

Mr. Mar­vel schi­en mit sich selbst zu Rate zu ge­hen.

»Un­sinn«, sag­te eine Stim­me.

»Es war nur Un­sinn«, sag­te Mr. Mar­vel.

»Aber es steht in der Zei­tung«, wen­de­te der Ma­tro­se ein.

»Nichts­de­sto­we­ni­ger ist es Un­sinn«, sag­te Mar­vel. »Ich ken­ne den Kerl, wel­cher die Lüge zu­erst ver­brei­te­te. Es gibt über­haupt kei­nen un­sicht­ba­ren Men­schen …«

»Aber die Zei­tun­gen? Wol­len Sie da­mit sa­gen – –?«

»Kein wah­res Wort dar­an«, be­harr­te Mr. Mar­vel.

Der Ma­tro­se starr­te ihn an, die Zei­tung noch im­mer hal­tend. Mr. Mar­vel dreh­te sich um. »War­ten Sie ein we­nig«, rief der Ma­tro­se, wo­bei er sich lang­sam er­hob. »Wol­len Sie da­mit sa­gen – –?«

»Ja« er­wi­der­te Mr. Mar­vel.

»Wa­rum ha­ben Sie mich denn im­mer wei­ter re­den las­sen – all das un­sin­ni­ge Zeug, was? Wie kön­nen Sie sich un­ter­ste­hen, einen Men­schen so zum Nar­ren zu hal­ten?«

Mr. Mar­vel blies die Luft durch die Zäh­ne. Der Ma­tro­se wur­de plötz­lich sehr rot und ball­te die Fäus­te.

»Seit zehn Mi­nu­ten spre­che ich da«, sag­te er, »und du klei­ner dick­bau­chi­ger Hans­wurst hast nicht ein­mal so­viel Le­bens­art – –«

»Hü­ten Sie sich, mit mir an­zu­fan­gen«, sag­te Mr. Mar­vel.

»Mit dir an­fan­gen! Ich hät­te nicht übel Lust –«

»Vor­wärts!«, sag­te eine Stim­me, und Mr. Mar­vel wur­de plötz­lich her­um­ge­dreht und in ei­ner sehr ko­mi­schen Wei­se zum Ge­hen ge­bracht. »Ja, schau­en Sie nur, dass Sie wei­ter­kom­men«, sag­te der Ma­tro­se. »Wen mei­nen Sie?«, ant­wor­te­te Mr. Mar­vel. Er be­weg­te sich aber schon mit selt­sa­men, has­ti­gen Schrit­ten ruck­wei­se vor­wärts. Nicht lan­ge dar­auf hör­te man ihn mit sich selbst spre­chen. Ein­wen­dun­gen ma­chen und hef­ti­ge Be­schul­di­gun­gen her­vor­brin­gen.

»Dum­mer Kerl!«, sag­te der Ma­tro­se, der, die Bei­ne aus­ein­an­der­ge­spreizt und die Hän­de in die Ta­schen ver­senkt, der entei­len­den Ge­stalt nach­blick­te. »Ich will dich leh­ren, mich zum Nar­ren hal­ten, du dum­mer Kerl, du! Hier steht es in der Zei­tung!«

Mr. Mar­vel sprach un­zu­sam­men­hän­gen­des Zeug vor sich hin und ver­schwand bei ei­ner Bie­gung. Der Ma­tro­se stand aber noch im­mer breit­spu­rig in der Mit­te der Stra­ße, bis ein Flei­scher­wa­gen ihn von dort ver­trieb. Dann wen­de­te er sich Port Sto­we zu. »Wirk­lich merk­wür­di­ge Nar­ren«, sag­te er zu sich selbst. »Nur um mich zu är­gern – das war sei­ne dum­me Ab­sicht … Es steht aber doch in der Zei­tung!«

Und noch et­was an­de­res sehr Merk­wür­di­ges war, wie er bald dar­auf hör­te, ganz in sei­ner Nähe vor­ge­fal­len. Und das war eine Vi­si­on von »ei­ner Hand­voll Gold« (nicht mehr und nicht we­ni­ger), die ohne sicht­ba­ren Halt an der Mau­er der St. Mi­chaels Stra­ße ent­lang ge­wan­dert war. Ein an­de­rer See­mann hat­te am sel­ben Mor­gen die­ses Wun­der ge­se­hen. Er hat­te nach dem Gol­de ge­hascht, war aber zu Bo­den ge­schla­gen wor­den. Als er sei­ner Sin­ne wie­der mäch­tig war, war das Trug­gold ver­schwun­den. Un­ser Ma­tro­se er­klär­te, er sei in der Lau­ne, al­les zu glau­ben, aber das sei ein we­nig zu stark. Spä­ter al­ler­dings än­der­te er sei­ne Mei­nung.

Die Ge­schich­te vom flie­gen­den Geld war rich­tig. Und über­all in der gan­zen Ge­gend hat­ten an je­nem Tage Geldrol­len oder ein­zel­ne Gold­stücke aus den Geld­la­den der Ge­schäf­te und Wirts­häu­ser – bei dem schö­nen Wet­ter stan­den die Tü­ren über­all of­fen – ja selbst aus der Fi­lia­le der mäch­ti­gen Bank von Eng­land sich in al­ler Stil­le und mit großer Ge­schick­lich­keit von selbst da­von­ge­macht, wa­ren ru­hig längs der Mau­ern an schat­ti­gen Or­ten da­von­ge­schwebt und hat­ten sich so den su­chen­den Bli­cken ent­zo­gen. Und im­mer und un­fehl­bar fand ihr ge­heim­nis­vol­ler Flug in den Ta­schen je­nes ner­vö­sen Herrn mit dem un­mo­der­nen Zy­lin­der, der vor dem Wirts­hau­se in ei­ner Vor­stadt von Port Sto­we saß, sein Ende, ob­wohl kein mensch­li­ches Auge es ge­wahr wur­de.

Erst zehn Tage spä­ter, als die Er­eig­nis­se von Bur­dock schon all­be­kannt wa­ren, brach­te der Ma­tro­se alle die­se Vor­komm­nis­se in Ver­bin­dung und es däm­mer­te ihm, wie nahe er dem ge­heim­nis­vol­len Un­sicht­ba­ren ge­we­sen war.

15. Kapitel – Der Flüchtling

Spät am Nach­mit­tag saß Dr. Kemp in sei­nem Stu­dier­zim­mer in der Vil­la auf dem Hü­gel, von dem aus man Bur­dock über­blickt. Das Stu­dier­zim­mer war ein hüb­scher, klei­ner, aus­sichtstur­mar­ti­ger Raum mit drei Fens­tern nach Nor­den, Wes­ten und Sü­den. An den Wän­den stan­den Re­ga­le mit Bü­chern und wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrif­ten, in der Mit­te ein großer Schreib­tisch. Un­ter dem einen der Fens­ter be­fand sich ein Tisch­chen mit ei­nem Mi­kro­skop, Mess­in­stru­men­ten, Rein­kul­tu­ren und al­ler­lei Fla­schen. Ob­gleich die Son­ne noch am Him­mel stand, war die Lam­pe im Zim­mer schon an­ge­zün­det; die Fens­ter­lä­den wa­ren nicht ge­schlos­sen, da Dr. Kemp nicht Ge­fahr lief, von Neu­gie­ri­gen be­läs­tigt zu wer­den. Er war ein hoch­ge­wach­se­ner, schlan­ker, jun­ger Mann mit flachs­blon­dem Haar und fast weißem Schnurr­bart. Von dem Werk, an dem er ar­bei­te­te, hat­te er eine hohe Mei­nung; es muss­te ihn nach sei­ner Mei­nung zum Mit­glied der kö­nig­li­chen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten ma­chen.

Bald schweif­te sein Auge von sei­ner Ar­beit ab und hef­te­te sich auf den glü­hen­den Son­nen­ball, der hin­ter dem ge­gen­über­lie­gen­den Hü­gel ver­schwand. Wohl eine Mi­nu­te blieb er mit der Fe­der im Mun­de re­gungs­los sit­zen und be­wun­der­te die rei­chen Gold­tö­ne auf dem Gip­fel des Ber­ges; dann fes­sel­te die klei­ne, schwar­ze Ge­stalt ei­nes Man­nes, der den Hü­gel her­ab di­rekt auf die Vil­la zu­rann­te, sei­ne Auf­merk­sam­keit. Es war ein un­ter­setz­ter, klei­ner Mann mit ei­nem Zy­lin­der; und er lief so schnell, dass man sei­ne Füße kaum mehr se­hen konn­te.

»Wie­der ein sol­cher Esel«, sag­te Dr. Kemp. »Gera­de so ein Esel wie der Mann, der heu­te früh an der Ecke in mich hin­ein­rann­te und schrie: ›Der Un­sicht­ba­re kommt!‹ Die Leu­te sind wie be­ses­sen. Man glaubt förm­lich ins drei­zehn­te Jahr­hun­dert zu­rück­ver­setzt zu sein.«

Er stand auf, ging ans Fens­ter und blick­te auf den Ab­hang hin­un­ter, auf den sich lang­sam die Däm­me­rung senk­te, und auf die dunkle, klei­ne Ge­stalt, die in ge­wal­ti­gen Sät­zen den Hü­gel her­un­ter­kam. »Er scheint es ver­flucht ei­lig zu ha­ben«, sag­te Dr. Kemp, »und doch scheint er nicht vor­wärts zu kom­men. Wenn er die Ta­schen voll Blei hät­te, könn­te er sich nicht schwer­fäl­li­ger be­we­gen.«

Im nächs­ten Au­gen­blick wur­de die da­hin­stür­men­de Ge­stalt durch ei­ni­ge hö­her­ge­le­ge­ne Vil­len sei­nen Bli­cken ent­zo­gen. Eine klei­ne Stre­cke wei­ter un­ten tauch­te sie wie­der auf, dann ver­schwand sie im­mer wie­der bei je­dem der drei ein­zeln ste­hen­den Häu­ser, die auf dem Wege la­gen, um ihm end­lich knapp un­ter dem Hü­gel gänz­lich aus den Au­gen zu kom­men.

»Esel!«, sag­te Dr. Kemp noch­mals, dann dreh­te er sich auf dem Ab­satz um und ließ sich wie­der an sei­nem Schreib­tisch nie­der.

Aber die­je­ni­gen, wel­che auf der of­fe­nen Land­stra­ße gin­gen und den Aus­druck des Ent­set­zens auf dem in Schweiß ge­ba­de­ten Ge­sicht des Flücht­lings sa­hen, teil­ten die ver­ächt­li­che An­sicht des Dok­tors durch­aus nicht. Vor­über keuch­te der Mann, und wie er lief, tön­te et­was an ihm, wie der Klang ei­ner wohl­ge­füll­ten Bör­se, die hin und her ge­wor­fen wird. Er blick­te we­der rechts noch links; sei­ne weit ge­öff­ne­ten Au­gen starr­ten ge­ra­de vor sich hin, nach dem Ort un­ten, wo die La­ter­nen an­ge­zün­det wur­den und Men­schen sich in den Stra­ßen dräng­ten. Sein häss­lich ge­form­ter Mund öff­ne­te sich, auf sei­nen Lip­pen lag wei­ßer Schaum und schwer und pfei­fend ging sein Atem. Die Leu­te, an de­nen er vor­bei­kam, blie­ben ste­hen und blick­ten sich mit lei­sem Un­be­ha­gen nach dem Grun­de die­ser Eile um.

Dann be­gann auf ein­mal ein Hund, der auf der Stra­ße spiel­te, zu bel­len und zu win­seln und ver­kroch sich un­ter ein Tor; und wäh­rend die Leu­te noch stau­nend da­stan­den, kam et­was – ein Wind­stoß – ein Tap, Tap, Tap – ein keu­chen­der Atem – schnell an ih­nen vor­über.

 

Al­les schrie auf und sprang zur Sei­te. Durch Zu­ru­fe ver­brei­te­te es sich im Ort. Man schrie auf der Stra­ße, be­vor Mar­vel noch den hal­b­en Weg zu­rück­ge­legt hat­te. Die Men­schen stürz­ten mit der Neu­ig­keit in die Häu­ser und schlu­gen die Tü­ren hin­ter sich zu. Er hör­te es und mach­te eine letz­te ver­zwei­fel­te An­stren­gung. Die blei­che Furcht kam her­an­ge­zo­gen, flog ihm vor­aus und hat­te in ei­nem Au­gen­blick die gan­ze Stadt er­grif­fen.

»Der Un­sicht­ba­re kommt! Der Un­sicht­ba­re!«