Bei Einbruch der Dunkelheit, als Iping eben begann, einen schüchternen Blick auf die Trümmer der festlichen Veranstaltungen zu werfen, schritt ein kleiner, dicker Mann in einem schäbigen Zylinder mühsam den Birkenwald an der Straße nach Bramblehurst entlang. Er trug drei Bücher, die durch ein eigentümliches elastisches Band zusammengehalten wurden, und ein in ein blaues Tischtuch eingewickeltes Bündel. Sein rotes Gesicht zeigte deutliche Spuren von Müdigkeit und Angst, und von Zeit zu Zeit schien er einen komischen Anlauf zu einer beschleunigteren Gangart zu nehmen. Eine Stimme, die nicht seine eigene war, folgte ihm, und wieder und wieder stöhnte er unter dem Druck einer unsichtbaren Hand.
»Wenn Sie mir noch einmal entwischen«, sagte die Stimme, »wenn Sie noch einmal den Versuch dazu machen – –«
»Herr Gott!«, stöhnte Mr. Marvel. »Meine Schulter ist schon ganz zerquetscht.«
»Dann töte ich Sie, auf Ehre!«, fuhr die Stimme fort.
»Ich wollte Ihnen gar nicht entwischen«, sagte Marvel schluchzend. »Ich schwöre, dass ich nicht die Absicht hatte. Ich kannte nur die Richtung nicht. Wie, zum Teufel, konnte ich die Richtung kennen? Ich bin ja so herumgestoßen worden – –«
»Sie werden noch viel mehr herumgestoßen werden, wenn Sie sich nicht zusammennehmen«, erwiderte die Stimme, und Mr. Marvel wurde plötzlich ganz still. Er stieß die Luft durch die Zähne und in seinen Augen malte sich die Verzweiflung.
»Es ist schon schlimm genug, dass diese einfältigen Pinsel dort unten mein Geheimnis kennen, auch ohne dass Sie mit meinen Büchern sich davonmachen. Für manche von ihnen ist es ein Glück, dass sie umkehrten und nach Hause rannten! Da bin ich nun … Niemand hat vorher gewusst, dass ich unsichtbar bin! Und was soll ich jetzt anfangen?«
»Was soll ich anfangen?«, fragte Marvel beiseite.
»Alles ist verraten. Es wird in die Zeitungen kommen. Jeder wird nach mir suchen. Jeder wird auf seiner Hut sein – – –«
Die Stimme brach in wilde Verwünschungen aus und verstummte. In Mr. Marvels Gesicht trat immer deutlicher dumpfe Verzweiflung hervor, und sein Schritt verlangsamte sich.
»Vorwärts«, rief die Stimme.
Das Gesicht Mr. Marvels wurde aschgrau zwischen den roten Flecken.
»Lassen Sie die Bücher nicht fallen, Sie Dummkopf«, sagte die Stimme in scharfem Tone.
»Tatsache ist«, fuhr die Stimme fort, »dass ich Sie verwenden muss … Sie sind ein armseliges Werkzeug, aber es geht nicht anders.«
»Ein elendes Werkzeug«, beteuerte Marvel.
»So ist es«, meinte die Stimme.
»Ich bin das schlechteste Werkzeug, das Sie wählen konnten«, setzte Marvel hinzu.
»Ich bin nicht kräftig«, fuhr er nach einem entmutigenden Stillschweigen fort.
»Ich bin nicht übermäßig kräftig«, wiederholte er.
»Nein?«
»Und mein Herz ist angegriffen. Dieser kleine Auftrag – ich habe ihn natürlich ausgeführt. Aber, bei Gott! Mir war zum Umfallen!«
»Nun?«
»Ich habe weder Kraft noch Mut genug für die Dinge, welche Sie verlangen – – –«
»Ich werde Sie anfeuern.«
»Ich wünschte, Sie täten es nicht. Es wäre mir nicht lieb, Ihre Pläne zunichte zu machen, wissen Sie. Aber es wäre möglich, dass ich aus purer Angst und Jämmerlichkeit – –«
»Ich würde es Ihnen nicht raten«, sagte die Stimme ruhig, aber nachdrücklich.
»Ich wollte, ich wäre tot«, sagte Marvel.
»Wo bleibt die Gerechtigkeit?«, fuhr er fort. »Sie müssen zugeben … Ich glaube, ich habe ein Recht – –«
»Vorwärts«, sagte die Stimme.
Mr. Marvel beschleunigte den Schritt und eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander.
»Es ist verteufelt schwer«, sagte Mr. Marvel.
Das hatte keine Wirkung. Er versuchte einen anderen Angriff.
»Was habe ich davon«, begann er in dem Tone eines schwer gekränkten Mannes.
»Oh, seien Sie still!«, sagte die Stimme mit erstaunlicher Energie. »Ich werde schon für Sie sorgen. Sie werden tun, was ich Ihnen befehle. Sie können es ganz gut ausführen. Dass Sie ein Dummkopf sind, ist ja klar, aber Sie werden – –«
»Ich sage Ihnen, Herr, ich passe nicht dazu. Bei aller schuldigen Hochachtung – aber es ist so – –«
»Wenn Sie nicht ruhig sind, werden Sie Ihre Knochen spüren«, sagte der Unsichtbare. »Ich will ungestört Nachdenken.«
Kurze Zeit darauf sah man zwei gelbe Lichter durch die Bäume schimmern und ein viereckiger Kirchturm stieg im Dunkel vor ihnen auf. »Ich werde meine Hand auf Ihrer Schulter liegen lassen, bis wir das Dorf hinter uns haben«, sagte die Stimme. »Gehen Sie geradeaus durch und machen Sie keine Dummheiten, es könnte Ihnen schlecht bekommen.«
»Ich weiß es«, seufzte Mr. Marvel, »ich weiß es.«
Und die unglückliche Gestalt in dem schäbigen Zylinderhut ging schweigend mit ihrer Last durch das Dorf und verschwand im Dunkel.
Die zehnte Stunde des nächsten morgens fand Mr. Marvel unrasiert, schmutzig und von der Reise vollkommen erschöpft auf der Bank vor einem kleinen Wirtshaus in einer Vorstadt von Port Stowe sitzen. Er hatte die Hände in den Taschen und sah recht nervös und unbehaglich drein. Neben ihm lagen die Bücher, jetzt aber mit Schnüren ordentlich zusammengebunden. Das Bündel war infolge einer Änderung in den Plänen des Unsichtbaren in den Fichtenwäldern bei Bramblehurst zurückgelassen worden und Mr. Marvel saß auf der Bank und befand sich, obwohl niemand auch nur die leiseste Notiz von ihm nahm, in fieberhafter Aufregung. Wieder und wieder steckte er die Hände mit seltsam verwirrten Bewegungen in die verschiedenen Taschen seines Anzuges.
Er war beinahe eine Stunde so dort gesessen, als ein ältlicher Matrose mit einer Zeitung in der Hand aus dem Wirtshaus kam und sich neben ihm niederließ.
»Ein schöner Tag«, bemerkte der Matrose.
Mr. Marvel sah sich ängstlich um. »Sehr«, sagte er.
»Gerade das richtige Wetter für diese Jahreszeit«, fuhr der Matrose mit großer Bestimmtheit fort.
»Gewiss«, entgegnete Mr. Marvel.
Der Matrose zog einen Zahnstocher hervor und beschäftigte sich (mit Erlaubnis) einige Minuten mit demselben. Inzwischen hatten seine Augen volle Freiheit, Mr. Marvels staubbedecktes Gesicht und die Bücher neben ihm zu betrachten. Als er sich ihm genähert hatte, hatte er einen Ton gehört, wie wenn Geldstücke in einer Tasche klimpern. Der Gegensatz zwischen der äußeren Erscheinung Marvels und diesem Zeichen von Wohlhabenheit fiel ihm auf. Dann wanderten seine Gedanken wieder zu einem Gegenstande zurück, der seinen Geist in hohem Grade beschäftigte.
»Bücher?«, sagte er endlich, den Zahnstocher geräuschvoll aus dem Munde nehmend.
Mr. Marvel blickte erschrocken auf die Bücher. »O, ja«, sagte er. »Das sind Bücher.«
»Es stehen manchmal merkwürdige Dinge in den Büchern«, sagte der Matrose.
»Da haben Sie recht«, erwiderte Mr. Marvel.
»Und es gibt auch sonst merkwürdige Dinge«, meinte der Matrose.
»Auch das ist richtig«, entgegnete Mr. Marvel. Er blickte den Sprecher an und schaute sich dann um.
»Es stehen merkwürdige Dinge zum Beispiel in den Zeitungen«, fuhr ersterer fort.
»So ist es.«
»In dieser Zeitung«, sagte der Matrose.
»Ah!«, sagte Mr. Marvel.
»Da steht eine Geschichte«, fuhr der Matrose fort, Marvel mit nachdenklicher Aufmerksamkeit betrachtend. »Da steht zum Beispiel eine Geschichte von einem unsichtbaren Menschen.«
Mr. Marvel verzog den Mund, kratzte sich auf dem Kopfe und fühlte, wie seine Ohren zu glühen begannen. »Was werden sich die Leute nächstens ausdenken?«, fragte er zaghaft. »Wo denn, in Amerika oder Australien?«
»Keines von beiden«, antwortete der Matrose. »Hier.«
»Herrgott!«, rief Mr. Marvel zusammenfahrend.
»Wenn ich sage hier«, erklärte der Matrose zu Mr. Marvels ungeheurer Erleichterung, »so meine ich natürlich nicht in diesem Orte, sondern hier in der Gegend.«
»Ein unsichtbarer Mensch!«, rief Mr. Marvel.
»Und was tut er denn?«
»Alles«, erwiderte der Matrose, Marvel scharf beobachtend, und erklärte dann: »Alles – alles – mögliche.«
»Ich habe seit vier Tagen keine Zeitung in der Hand gehabt«, sagte Marvel.
»In Iping fing es an«, erzählte der Matrose.
»Wirklich!«, sagte Marvel.
»Dort tauchte er auf. Woher er kam, scheint niemand zu wissen. Hier steht es: ›Seltsame Ereignisse in Iping!‹ Und das Blatt sagt, dass vollkommen verlässliche Aussagen vorliegen, die ganz unanfechtbar sind.«
»Herrgott!«, sagte Mr. Marvel.
»Aber es ist auch eine ganz ungewöhnliche Geschichte. Ein Pfarrer und ein Doktor sind Zeugen – sahen ihn ganz genau – oder vielmehr sahen ihn nicht. Er hat, heißt es, im ›Fuhrmann‹ gewohnt und niemand scheint von seinem Unglück gewusst zu haben, heißt es, bis die Verbände von seinem Kopf heruntergerissen wurden. Das geschah bei einem Streit im Wirtshaus, heißt es. Da bemerkte man, dass sein Kopf unsichtbar war. Sofort wurden Maßnahmen getroffen, ihn festzunehmen, aber er warf seine Kleider ab, heißt es, und es gelang ihm zu entkommen, nachdem er, heißt es, in einem verzweifelten Kampfe unserem allgemein beliebten und tüchtigen Gendarmen, Mr. I.A. Jaffers, mehrere schwere Verletzungen beigebracht hatte … Die Geschichte hat doch Hand und Fuß, nicht? Namen und alles.«
»Herrgott!«, sagte Mr. Marvel, nervös nach allen Seiten blickend, wobei er versuchte, das Geld in seinen Taschen insgeheim zu zählen, und von einem seltsamen neuen Gedanken erfüllt. »Das klingt wahrhaftig erstaunlich.«
»Nicht wahr? Ganz außerordentlich nenne ich es. Ich habe nie vorher etwas von einem unsichtbaren Menschen gehört, niemals, aber heutzutage hört man von einer so erstaunlichen Menge von merkwürdigen Dingen – dass – –«
»Hat er sonst nichts getan?«, fragte Marvel und versuchte dabei gelassen auszusehen.
»Ist das nicht genug?«, meinte der Matrose.
»Ist er nicht vielleicht zurückgekommen?«, fragte Marvel. »Er entwischte nur, und sonst geschah nichts?«
»Nichts!«, erwiderte der Matrose. »Ist denn das nicht genug?«
»Vollkommen genug«, bestätigte Marvel.
»Ich dächte, das wäre genug«, sagte der Matrose. »Ich dächte, das wäre überreichlich genug.«
»Er hat keine Helfer gehabt – es steht nichts von Helfern, nicht wahr?«, fragte Mr. Marvel ängstlich.
»Genügt Ihnen einer von der Sorte nicht?«, fragte der Matrose. »Nein, er war, Gott sei Dank muss man wohl sagen, allein.«
Er nickte langsam mit dem Kopfe. »Schon der Gedanke, dass dieser Kerl die Gegend unsicher macht, stimmt mich unbehaglich! – – Er ist jetzt frei, und man hat Ursache, anzunehmen, dass er den Weg nach Port Stowe eingeschlagen hat. – Sie sehen, wir stecken mitten drin! Diesmal ist es keine amerikanische Räubergeschichte. Und wenn man bedenkt, was er alles tun kann! Was würden Sie anfangen, wenn er einen Tropfen über den Durst getrunken hätte, und es ihm einfiele, mit Ihnen Händel zu suchen? Angenommen, dass er stehlen wollte – wer könnte ihn hindern? Er kann rauben, er kann einbrechen, er kann eben so sicher durch eine Kette von Polizeileuten kommen, als Sie oder ich einen Blinden erwischen könnten! Noch leichter und sicherer! Denn die Blinden haben ungewöhnlich scharfe Sinne, habe ich mir sagen lassen. Und wenn er – – –« »Er ist gewaltig im Vorteil, natürlich«, sagte Mr. Marvel. »Und – sehen Sie.«
»Gewaltig im Vorteil«, bestätigte der Matrose.
Die ganze Zeit über hatte Mr. Marvel aufmerksam herumgespäht, auf leise Fußtritte gehorcht, unmerkliche Bewegungen zu erkennen gesucht. Er schien vor einem großen Entschluss zu stehen –er hustete hinter der vorgehaltenen Hand.
Wieder blickte er herum – horchte – rückte nahe an den Matrosen heran und senkte die Stimme.
»Die Sache ist die, ich – ich weiß zufällig verschiedenes von diesem Unsichtbaren. Aus privaten Quellen.«
»Oh!«, sagte der Matrose. »Sie?«
»Ja, ich«, erwiderte Mr. Marvel.
»Nicht möglich!«, rief der Matrose. »Und darf man fragen – –?«
»Sie werden verblüfft sein«, sagte Mr. Marvel hinter der Hand hervor. »Es ist kolossal.«
»Was Sie sagen!«
»Die Sache ist die«, begann Mr. Marvel eifrig, mit vertraulichem Geflüster. Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck vollkommen. »Au!«, rief er und richtete sich steif auf; auf seinem Gesicht spiegelte sich körperliches Leiden. »Au weh!«
»Was gibt’s?«, fragte der Matrose betroffen.
»Zahnschmerzen«, antwortete Mr. Marvel und legte die Hand auf seine Wange. Er griff nach seinen Büchern. »Ich muss gehen«, sagte er und rutschte in seltsamer Weise auf der Bank von seinem Genossen fort.
»Aber Sie wollten mir doch gerade von diesem unsichtbaren Menschen erzählen«, warf der Matrose ein.
Mr. Marvel schien mit sich selbst zu Rate zu gehen.
»Unsinn«, sagte eine Stimme.
»Es war nur Unsinn«, sagte Mr. Marvel.
»Aber es steht in der Zeitung«, wendete der Matrose ein.
»Nichtsdestoweniger ist es Unsinn«, sagte Marvel. »Ich kenne den Kerl, welcher die Lüge zuerst verbreitete. Es gibt überhaupt keinen unsichtbaren Menschen …«
»Aber die Zeitungen? Wollen Sie damit sagen – –?«
»Kein wahres Wort daran«, beharrte Mr. Marvel.
Der Matrose starrte ihn an, die Zeitung noch immer haltend. Mr. Marvel drehte sich um. »Warten Sie ein wenig«, rief der Matrose, wobei er sich langsam erhob. »Wollen Sie damit sagen – –?«
»Ja« erwiderte Mr. Marvel.
»Warum haben Sie mich denn immer weiter reden lassen – all das unsinnige Zeug, was? Wie können Sie sich unterstehen, einen Menschen so zum Narren zu halten?«
Mr. Marvel blies die Luft durch die Zähne. Der Matrose wurde plötzlich sehr rot und ballte die Fäuste.
»Seit zehn Minuten spreche ich da«, sagte er, »und du kleiner dickbauchiger Hanswurst hast nicht einmal soviel Lebensart – –«
»Hüten Sie sich, mit mir anzufangen«, sagte Mr. Marvel.
»Mit dir anfangen! Ich hätte nicht übel Lust –«
»Vorwärts!«, sagte eine Stimme, und Mr. Marvel wurde plötzlich herumgedreht und in einer sehr komischen Weise zum Gehen gebracht. »Ja, schauen Sie nur, dass Sie weiterkommen«, sagte der Matrose. »Wen meinen Sie?«, antwortete Mr. Marvel. Er bewegte sich aber schon mit seltsamen, hastigen Schritten ruckweise vorwärts. Nicht lange darauf hörte man ihn mit sich selbst sprechen. Einwendungen machen und heftige Beschuldigungen hervorbringen.
»Dummer Kerl!«, sagte der Matrose, der, die Beine auseinandergespreizt und die Hände in die Taschen versenkt, der enteilenden Gestalt nachblickte. »Ich will dich lehren, mich zum Narren halten, du dummer Kerl, du! Hier steht es in der Zeitung!«
Mr. Marvel sprach unzusammenhängendes Zeug vor sich hin und verschwand bei einer Biegung. Der Matrose stand aber noch immer breitspurig in der Mitte der Straße, bis ein Fleischerwagen ihn von dort vertrieb. Dann wendete er sich Port Stowe zu. »Wirklich merkwürdige Narren«, sagte er zu sich selbst. »Nur um mich zu ärgern – das war seine dumme Absicht … Es steht aber doch in der Zeitung!«
Und noch etwas anderes sehr Merkwürdiges war, wie er bald darauf hörte, ganz in seiner Nähe vorgefallen. Und das war eine Vision von »einer Handvoll Gold« (nicht mehr und nicht weniger), die ohne sichtbaren Halt an der Mauer der St. Michaels Straße entlang gewandert war. Ein anderer Seemann hatte am selben Morgen dieses Wunder gesehen. Er hatte nach dem Golde gehascht, war aber zu Boden geschlagen worden. Als er seiner Sinne wieder mächtig war, war das Truggold verschwunden. Unser Matrose erklärte, er sei in der Laune, alles zu glauben, aber das sei ein wenig zu stark. Später allerdings änderte er seine Meinung.
Die Geschichte vom fliegenden Geld war richtig. Und überall in der ganzen Gegend hatten an jenem Tage Geldrollen oder einzelne Goldstücke aus den Geldladen der Geschäfte und Wirtshäuser – bei dem schönen Wetter standen die Türen überall offen – ja selbst aus der Filiale der mächtigen Bank von England sich in aller Stille und mit großer Geschicklichkeit von selbst davongemacht, waren ruhig längs der Mauern an schattigen Orten davongeschwebt und hatten sich so den suchenden Blicken entzogen. Und immer und unfehlbar fand ihr geheimnisvoller Flug in den Taschen jenes nervösen Herrn mit dem unmodernen Zylinder, der vor dem Wirtshause in einer Vorstadt von Port Stowe saß, sein Ende, obwohl kein menschliches Auge es gewahr wurde.
Erst zehn Tage später, als die Ereignisse von Burdock schon allbekannt waren, brachte der Matrose alle diese Vorkommnisse in Verbindung und es dämmerte ihm, wie nahe er dem geheimnisvollen Unsichtbaren gewesen war.
Spät am Nachmittag saß Dr. Kemp in seinem Studierzimmer in der Villa auf dem Hügel, von dem aus man Burdock überblickt. Das Studierzimmer war ein hübscher, kleiner, aussichtsturmartiger Raum mit drei Fenstern nach Norden, Westen und Süden. An den Wänden standen Regale mit Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften, in der Mitte ein großer Schreibtisch. Unter dem einen der Fenster befand sich ein Tischchen mit einem Mikroskop, Messinstrumenten, Reinkulturen und allerlei Flaschen. Obgleich die Sonne noch am Himmel stand, war die Lampe im Zimmer schon angezündet; die Fensterläden waren nicht geschlossen, da Dr. Kemp nicht Gefahr lief, von Neugierigen belästigt zu werden. Er war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann mit flachsblondem Haar und fast weißem Schnurrbart. Von dem Werk, an dem er arbeitete, hatte er eine hohe Meinung; es musste ihn nach seiner Meinung zum Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften machen.
Bald schweifte sein Auge von seiner Arbeit ab und heftete sich auf den glühenden Sonnenball, der hinter dem gegenüberliegenden Hügel verschwand. Wohl eine Minute blieb er mit der Feder im Munde regungslos sitzen und bewunderte die reichen Goldtöne auf dem Gipfel des Berges; dann fesselte die kleine, schwarze Gestalt eines Mannes, der den Hügel herab direkt auf die Villa zurannte, seine Aufmerksamkeit. Es war ein untersetzter, kleiner Mann mit einem Zylinder; und er lief so schnell, dass man seine Füße kaum mehr sehen konnte.
»Wieder ein solcher Esel«, sagte Dr. Kemp. »Gerade so ein Esel wie der Mann, der heute früh an der Ecke in mich hineinrannte und schrie: ›Der Unsichtbare kommt!‹ Die Leute sind wie besessen. Man glaubt förmlich ins dreizehnte Jahrhundert zurückversetzt zu sein.«
Er stand auf, ging ans Fenster und blickte auf den Abhang hinunter, auf den sich langsam die Dämmerung senkte, und auf die dunkle, kleine Gestalt, die in gewaltigen Sätzen den Hügel herunterkam. »Er scheint es verflucht eilig zu haben«, sagte Dr. Kemp, »und doch scheint er nicht vorwärts zu kommen. Wenn er die Taschen voll Blei hätte, könnte er sich nicht schwerfälliger bewegen.«
Im nächsten Augenblick wurde die dahinstürmende Gestalt durch einige höhergelegene Villen seinen Blicken entzogen. Eine kleine Strecke weiter unten tauchte sie wieder auf, dann verschwand sie immer wieder bei jedem der drei einzeln stehenden Häuser, die auf dem Wege lagen, um ihm endlich knapp unter dem Hügel gänzlich aus den Augen zu kommen.
»Esel!«, sagte Dr. Kemp nochmals, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sich wieder an seinem Schreibtisch nieder.
Aber diejenigen, welche auf der offenen Landstraße gingen und den Ausdruck des Entsetzens auf dem in Schweiß gebadeten Gesicht des Flüchtlings sahen, teilten die verächtliche Ansicht des Doktors durchaus nicht. Vorüber keuchte der Mann, und wie er lief, tönte etwas an ihm, wie der Klang einer wohlgefüllten Börse, die hin und her geworfen wird. Er blickte weder rechts noch links; seine weit geöffneten Augen starrten gerade vor sich hin, nach dem Ort unten, wo die Laternen angezündet wurden und Menschen sich in den Straßen drängten. Sein hässlich geformter Mund öffnete sich, auf seinen Lippen lag weißer Schaum und schwer und pfeifend ging sein Atem. Die Leute, an denen er vorbeikam, blieben stehen und blickten sich mit leisem Unbehagen nach dem Grunde dieser Eile um.
Dann begann auf einmal ein Hund, der auf der Straße spielte, zu bellen und zu winseln und verkroch sich unter ein Tor; und während die Leute noch staunend dastanden, kam etwas – ein Windstoß – ein Tap, Tap, Tap – ein keuchender Atem – schnell an ihnen vorüber.
Alles schrie auf und sprang zur Seite. Durch Zurufe verbreitete es sich im Ort. Man schrie auf der Straße, bevor Marvel noch den halben Weg zurückgelegt hatte. Die Menschen stürzten mit der Neuigkeit in die Häuser und schlugen die Türen hinter sich zu. Er hörte es und machte eine letzte verzweifelte Anstrengung. Die bleiche Furcht kam herangezogen, flog ihm voraus und hatte in einem Augenblick die ganze Stadt ergriffen.
»Der Unsichtbare kommt! Der Unsichtbare!«