H. G. Wells – Gesammelte Werke

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11. Kapitel – Im »Fuhrmann«

Um ge­nau zu ver­ste­hen, was im Gast­hof vor­ge­gan­gen war, muss man auf den Au­gen­blick zu­rück­grei­fen, wo Mr. Mar­vel zu­erst von Mr. Hux­ters Fens­ter aus ge­se­hen wur­de.

Zur sel­ben Zeit wa­ren Mr. Cuss und Mr. Bun­ting im Gast­zim­mer. Sie be­spra­chen ernst­haft die selt­sa­men Er­eig­nis­se des Mor­gens und un­ter­such­ten mit Mr. Halls Er­laub­nis die Hab­se­lig­kei­ten des Un­sicht­ba­ren aufs gründ­lichs­te. Jaf­fers hat­te sich von sei­nem Sturz teil­wei­se er­holt und war un­ter der Ob­hut teil­neh­men­der Freun­de nach Hau­se ge­schafft wor­den. Mrs. Hall hat­te die ver­streu­ten Klei­dungs­stücke des Frem­den weg­ge­räumt und die Stu­be in Ord­nung ge­bracht. Und bei dem Ti­sche am Fens­ter, wo der Frem­de ge­wöhn­lich ge­ar­bei­tet hat­te, war Mr. Cuss so­fort auf drei di­cke, hand­ge­schrie­be­ne Bü­cher mit der Auf­schrift »Ta­ge­buch« ge­sto­ßen.

»Ta­ge­buch!«, sag­te Mr. Cuss, die drei Bü­cher auf den Tisch le­gend. »Nun, et­was wer­den wir je­den­falls dar­aus er­fah­ren.« Der Pfar­rer hat­te die Hän­de auf den Tisch ge­stützt.

»Ta­ge­buch«, wie­der­hol­te Mr. Cuss und setz­te sich nie­der. Hier­auf leg­te er zwei Bü­cher über­ein­an­der, um das drit­te dar­auf zu stüt­zen und öff­ne­te die­ses. »Hm! – Kein Name auf dem ers­ten Blatt. Teu­fel! Nichts als Chif­fren und Zah­len.«

Der Pfar­rer trat zu ihm und blick­te über sei­ne Schul­tern ins Buch.

Sehr ent­täuscht wen­de­te Mr. Cuss die Sei­ten um. »Da soll gleich …! Es ist al­les in Ge­heim­schrift ab­ge­fasst, Bun­ting.«

»Kei­ne Fi­gu­ren?«, frag­te Mr. Bun­ting. »Kei­ne Zeich­nung, die ir­gend­ein Licht –«

»Se­hen Sie selbst«, er­wi­der­te Mr. Cuss. »Ma­the­ma­ti­sche For­meln, dann, nach den Buch­sta­ben zu schlie­ßen, Rus­sisch oder eine ähn­li­che an­de­re Spra­che und da wie­der Grie­chisch. Nun das Grie­chi­sche könn­ten Sie –«

»Na­tür­lich«, ent­geg­ne­te Mr. Bun­ting, nahm sei­ne Bril­le her­aus, rei­nig­te sie sorg­fäl­tig und fühl­te sich plötz­lich sehr un­be­hag­lich – denn, was er von die­ser Spra­che ver­stand, war wirk­lich nicht der Rede wert. »Ja, das Grie­chi­sche kann uns na­tür­lich einen Schlüs­sel ge­ben.«

»Ich will Ih­nen eine Stel­le su­chen.«

»Ich möch­te doch lie­ber die ein­zel­nen Bän­de erst durch­se­hen«, mein­te Mr. Bun­ting, noch im­mer sei­ne Au­genglä­ser rei­bend. »Erst müs­sen wir einen all­ge­mei­nen Ein­druck ge­win­nen, wis­sen Sie, und dann kön­nen wir ja einen Schlüs­sel su­chen.«

Er hus­te­te, setz­te die Bril­le auf, rück­te sie um­ständ­lich zu­recht, hus­te­te wie­der und wünsch­te im stil­len, dass sich et­was er­eig­nen möch­te, um die un­ver­meid­lich schei­nen­de Bla­ma­ge von ihm ab­zu­wen­den. Dann nahm er nach­läs­sig den Band auf, den ihm Mr. Cuss voll Un­ge­duld hin­reich­te. Und dann er­eig­ne­te sich wirk­lich et­was.

Die Tür öff­ne­te sich plötz­lich.

Bei­de Män­ner fuh­ren em­por, schau­ten sich um und wa­ren sicht­lich er­leich­tert, als sie ein rot­fle­cki­ges Ge­sicht un­ter ei­nem schä­bi­gen Zy­lin­der ge­wahr­ten. »Schank­zim­mer?«, frag­te das Ge­sicht, sie anglot­zend.

»Nein«, sag­ten die bei­den Her­ren zu­gleich.

»Drü­ben auf der an­de­ren Sei­te, mein Lie­ber«, fuhr Mr. Bun­ting fort. »Und schlie­ßen Sie ge­fäl­ligst die Tür«, setz­te Mr. Cuss ge­reizt hin­zu.

»Schon recht«, sag­te der Ein­dring­ling mit tiefer Stim­me, die von der Hei­ser­keit der ers­ten Fra­ge selt­sam ab­stach. »Schon gut«, wie­der­hol­te er dann mit der frü­he­ren Stim­me. »Aus dem Weg!«, und er ver­schwand und schloss die Tür hin­ter sich.

»Wahr­schein­lich ein Ma­tro­se«, sag­te Mr. Bun­ting. »Das sind ko­mi­sche Bur­schen. ›Aus dem Weg!‹ sag­te er. Ver­mut­lich ein see­män­ni­scher Aus­druck, der sich auf sein Fort­ge­hen be­zog.«

»Wohl mög­lich«, er­wi­der­te Mr. Cuss. »Mei­ne Ner­ven sind heu­te in ei­nem schreck­li­chen Zu­stand. Ich fuhr förm­lich zu­sam­men, als sich die Tür so öff­ne­te.«

Mr. Bun­ting lä­chel­te, als ob er selbst nicht auch zu­sam­men­ge­fah­ren wäre. »Und jetzt«, sag­te er mit ei­nem Seuf­zer, »zu den Bü­chern!«

»Ei­nen Au­gen­blick«, sag­te Mr. Cuss, ging auf die Tür zu und dreh­te den Schlüs­sel um. »Jetzt sind wir wohl vor je­der Stö­rung si­cher.«

Je­mand nies­te, als er die­se Wor­te sprach.

»Ei­nes ist un­be­streit­bar«, sag­te Mr. Bun­ting, sei­nen Stuhl ne­ben den­je­ni­gen Mr. Cuss’ zie­hend. »Es ha­ben sich in den letz­ten Ta­gen in Iping äu­ßerst merk­wür­di­ge Din­ge er­eig­net. Ich kann na­tür­lich an die­se lä­cher­li­che Ge­schich­te von ei­nem un­sicht­ba­ren Men­schen nicht glau­ben –«

»Sie ist un­glaub­lich«, mein­te Mr. Cuss, »un­glaub­lich. Aber Tat­sa­che ist, dass ich in sei­nen Är­mel hin­einsah. Ganz tief hin­ein –«

»Aber sind Sie Ih­rer Sa­che auch ganz si­cher? … Neh­men wir zum Bei­spiel einen Spie­gel an … Sin­ne­stäu­schun­gen las­sen sich so leicht her­vor­brin­gen. Ich weiß nicht, ob Sie je­mals einen wirk­lich gu­ten Ta­schen­spie­ler ge­se­hen ha­ben –«

»Ich will nicht wi­der­strei­ten«, sag­te Mr. Cuss. »Über die­sen Punkt ha­ben wir mehr als ge­nug dis­pu­tiert, däch­te ich. Aber hier ha­ben wir jetzt die Bü­cher … Ah! dies zum Bei­spiel hal­te ich für Grie­chisch! We­nigs­tens sind es grie­chi­sche Buch­sta­ben.«

Er deu­te­te auf die Mit­te der Sei­te. Mr. Bun­ting er­rö­te­te leicht, beug­te sich nie­der und mach­te sich schein­bar an sei­ner Bril­le zu schaf­fen. Mit dem Grie­chisch des klei­nen Man­nes war es nicht weit her, und doch war er fest über­zeugt, dass je­des Mit­glied der Ge­mein­de an sei­ne Kennt­nis grie­chi­scher und he­bräi­scher Ur­tex­te glaub­te. Und jetzt – soll­te er beich­ten? Soll­te er flun­kern? Plötz­lich fühl­te er et­was Frem­des an sei­nem Hal­se. Er such­te den Kopf zu be­we­gen und traf ein star­res Hin­der­nis.

Er emp­fand einen ei­gen­tüm­li­chen Schmerz – den Griff ei­ner schwe­ren, mus­ku­lö­sen Hand, wel­che sein Kinn mit un­wi­der­steh­li­cher Ge­walt auf den Tisch nie­der­drück­te. »Rührt euch nicht, ihr klei­nen Ker­le«, flüs­ter­te eine Stim­me, »sonst schla­ge ich euch bei­den die Schä­del ein!«

Er blick­te Mr. Cuss an, des­sen Ge­sicht sich dicht ne­ben dem sei­ni­gen be­fand, und sah in des­sen Mie­nen den Wi­der­schein sei­ner ei­ge­nen angst­vol­len Be­stür­zung.

»Es tut mir leid, dass ich so grob mit Ih­nen um­sprin­gen muss«, sag­te die Stim­me. »Aber es geht nicht an­ders.«

»Seit wann ist es er­laubt, in den pri­va­ten Auf­zeich­nun­gen ei­nes For­schers her­um­zu­stö­bern?«, fuhr die Stim­me fort und zwei Köp­fe be­rühr­ten gleich­zei­tig die Tisch­plat­te und vier Rei­hen Zäh­ne schlu­gen laut an­ein­an­der.

»Seit wann dringt man in die Pri­vat­zim­mer ei­nes un­glück­li­chen Men­schen ein?« Und der Stoß wie­der­hol­te sich.

»Wo hat man mei­ne Klei­der hin­ge­tan?«

»Hö­ren Sie«, fuhr die Stim­me wei­ter fort, »die Fens­ter sind ge­schlos­sen und den Schlüs­sel habe ich von der Tür ab­ge­zo­gen. Ich bin ein ziem­lich star­ker Mensch und habe die Feu­er­zan­ge bei der Hand – über­dies bin ich un­sicht­bar. Es ist zwei­fel­los, dass ich Sie bei­de er­schla­gen und selbst ganz leicht ent­wi­schen könn­te, wenn das mei­ne Ab­sicht wäre – be­grei­fen Sie das? Gut! Wenn ich Sie ver­scho­ne, wol­len Sie mir ver­spre­chen, kei­ne Dumm­hei­ten zu ma­chen und zu tun, was ich ver­lan­ge?«

Der Pfar­rer und der Dok­tor sa­hen ein­an­der an, und der letz­te­re ver­zog das Ge­sicht. »Ja«, sag­te Mr. Bun­ting, und der Dok­tor wie­der­hol­te: »ja«. Dann ließ der Druck auf ih­ren Na­cken nach, der Dok­tor und der Pfar­rer rich­te­ten sich mit hoch­ro­ten Ge­sich­tern auf und schüt­tel­ten die Köp­fe.

»Bit­te, blei­ben Sie sit­zen«, sag­te der Un­sicht­ba­re. »Se­hen Sie, hier ist die Feu­er­zan­ge.«

»Als ich in die­ses Zim­mer kam«, fuhr er fort, nach­dem er sei­nen bei­den Gäs­ten die Feu­er­zan­ge un­ter die Nase ge­hal­ten hat­te, »war ich nicht dar­auf ge­fasst, je­man­den dar­in zu fin­den. Hin­ge­gen er­war­te­te ich, au­ßer mei­nen Auf­zeich­nun­gen auch mei­ne Klei­der zu se­hen. Wo sind sie? Nein – ste­hen Sie nicht auf. Ich sehe, dass sie fort sind. Nun sind die Tage zwar warm ge­nug, dass ein un­sicht­ba­rer Mensch nackt her­um­ge­hen kann, die Näch­te je­doch sind ziem­lich kühl. Ich brau­che Klei­der – und an­de­re not­wen­di­ge Din­ge. Auch die­se drei Bü­cher muss ich wie­der ha­ben.«

12. Kapitel – Der Unsichtbare verliert die Geduld

Um ei­nes sehr pein­li­chen Grun­des wil­len, der sehr bald er­klärt wer­den soll, muss die Er­zäh­lung bei die­sem Punkt ab­bre­chen. Wäh­rend sich all das im Gast­zim­mer be­gab und Mr. Hux­ter be­ob­ach­te­te, wie Mr. Mar­vel ans Tor ge­lehnt sei­ne Pfei­fe schmauch­te, be­spra­chen ein Dut­zend Schrit­te ent­fernt Hall und Ted­dy Hen­frey in ver­wor­ren be­stürz­ter Wei­se das große Er­eig­nis von Iping.

Plötz­lich kam ein hef­ti­ger Schlag ge­gen die Gast­zim­mer­tür, ein gel­len­der Schrei, und dann – tie­fe Stil­le.

»Hal­lo!«, rief Ted­dy Hen­frey.

»Hal­lo!«, tön­te es zu­rück.

Es dau­er­te stets lan­ge, be­vor Hall et­was be­griff, dann aber war er stets sei­ner Sa­che ge­wiss. »Da ist was nicht in Ord­nung«, sag­te er, kam hin­ter dem Schank­tisch her­vor und nä­her­te sich der Gast­zim­mer­tür.

Ge­spannt hor­chend ta­ten er und Ted­dy ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts. Sie lie­ßen die Au­gen her­um­schwei­fen. »Da ist was nicht in Ord­nung«, wie­der­hol­te Hall, und Hen­frey nick­te bei­stim­mend. Sie spür­ten einen un­an­ge­neh­men Che­mi­ka­li­en­ge­ruch in der Luft und ver­nah­men das Ge­mur­mel ei­nes ei­lig und mit un­ter­drück­ter Stim­me ge­führ­ten Ge­sprächs.

 

»Fehlt Ih­nen et­was?«, frag­te Hall, an die Tür klop­fend.

Das Geräusch ver­stumm­te plötz­lich, einen Au­gen­blick blieb al­les still, dann wur­de das Ge­spräch im Flüs­ter­ton wie­der auf­ge­nom­men; dann hör­te man den Aus­ruf: »Nein, nein, nur das nicht!« Eine plötz­li­che Be­we­gung folg­te, das Um­stür­zen ei­nes Stuh­les und ein kur­z­er Kampf. Dann wie­der tie­fe Stil­le.

»Was zum Hen­ker!«, sag­te Hen­frey halb­laut.

»Fehlt – Ih­nen – et­was?«, frag­te Hall mit lau­ter Stim­me.

»Ga–ar nichts. Bit­te – stö–ren Sie uns nicht!«, ka­men die Wor­te des Pfar­rers merk­wür­dig stoß­wei­se zu­rück.

»Ko­misch!«, sag­te Mr. Hen­frey.

»Ko­misch!«, wie­der­hol­te Mr. Hall.

»›Stö­ren Sie uns nicht‹ rief er doch«, sag­te Hen­frey.

»Ja, das hör­te ich auch«, ver­setz­te Hall.

Sie lausch­ten wei­ter. Das Ge­spräch wur­de schnell und halb­laut fort­ge­führt. »Ich kann nicht!«, rief Mr. Bun­ting mit er­ho­be­ner Stim­me. »Ich sage Ih­nen, Herr, ich will nicht!«

»Was war das?«, frag­te Hen­frey.

»Er will nicht, sag­te er«, ver­setz­te Hall. »Er hat doch nicht zu uns ge­spro­chen, was?«

»Schänd­lich!«, sag­te Mr. Bun­ting drin­nen.

»Schänd­lich!«, sag­te Mr. Hen­frey. »Ich hör­te es ganz deut­lich.«

»Wer spricht jetzt?«, frag­te der an­de­re.

»Mr. Cuss, glau­be ich«, er­wi­der­te Hall. »Hörst du et­was?«

Die bei­den schwie­gen. Von drin­nen er­tön­ten un­be­stimm­te und ver­wor­re­ne Töne.

»Das klingt, wie wenn man das Tisch­tuch her­um­wer­fen wür­de«, sag­te Hall.

Mrs. Hall er­schi­en hin­ter dem Schank­tisch. Mr. Hall for­der­te sie durch Ges­ten zum Schwei­gen und Nä­her­kom­men auf. Hier­durch wur­de Mrs. Halls Wi­der­spruchs­geist er­regt.

»Wa­rum horchst du da, Hall?«, frag­te sie. »Hast du an ei­nem so ge­schäf­ti­gen Tage, wie dem heu­ti­gen, nichts Bes­se­res zu tun?«

Mr. Hall ver­such­te durch Gri­mas­sen und ver­schie­de­ne Zei­chen al­les zu er­klä­ren, aber Mrs. Hall be­stand auf ih­rem Wil­len. Sie er­hob ihre Stim­me noch lau­ter. So schli­chen Hall und Hen­frey ziem­lich be­schämt auf den Fuß­spit­zen zum Schank­tisch zu­rück, um die Sa­che klar­zu­le­gen.

An­fangs woll­te sie in dem, was die bei­den ge­hört hat­ten, nichts Auf­fal­len­des fin­den. Dann be­stand sie dar­auf, dass Hall schwei­gen sol­le, wäh­rend Hen­frey ihr die Ge­schich­te er­zähl­te. Sie war ge­neigt, das Gan­ze für Un­sinn zu hal­ten – viel­leicht hät­ten sie bloß mit dem Tisch und den Ses­seln ge­rückt.

»Ich hör­te ihn ganz be­stimmt ›schänd­lich‹ sa­gen«, ver­si­cher­te Hall.

»Das habe ich auch ge­hört, Mrs. Hall«, be­stä­tig­te Hen­frey.

»Was ist Be­son­de­res da­bei?«, be­gann Mrs. Hall.

»Pst!«, sag­te Mr. Ted­dy Hen­frey. »Hör­te ich nicht das Fens­ter ge­hen?«

»Wel­ches Fens­ter?«, frag­te Mrs. Hall.

»Das im Gast­zim­mer«, er­wi­der­te Hen­frey.

Alle lausch­ten ge­spannt. Mrs. Halls Blick war ge­ra­de­aus ge­rich­tet, und ohne et­was zu se­hen, blick­te sie auf die glän­zen­den Holz­strei­fen der Tor­ein­fas­sung, die wei­ße, be­leb­te Stra­ße und auf Hux­ters Aus­la­ge­fens­ter, in dem sich die Ju­ni­son­ne spie­gel­te. Plötz­lich öff­ne­te sich die Tür von Hux­ters La­den, und Hux­ter selbst er­schi­en, leb­haft ges­ti­ku­lie­rend, mit er­regt fun­keln­den Au­gen.

»Hal­lo!«, schrie er. »Hal­tet den Dieb!« Er lief quer über die Stra­ße auf das Hof­tor zu, hin­ter dem er ver­schwand.

Zu­gleich er­tön­te im Wohn­zim­mer ein Geräusch, als ob ein Fens­ter ge­schlos­sen wür­de.

Hall, Hen­frey und alle üb­ri­gen in der Schank­stu­be stürz­ten in bun­tem Durchein­an­der auf die Stra­ße. Sie sa­hen je­mand schnell um die Ecke nach der Düne zu ab­bie­gen und Mr. Hux­ter einen kom­pli­zier­ten Luft­sprung aus­füh­ren, wel­cher da­mit en­de­te, dass sei­ne Schul­tern und sein Ge­sicht den Erd­bo­den be­rühr­ten. Ver­wun­dert blie­ben die Leu­te auf der Stra­ße ste­hen, dann eil­ten sie vor.

Mr. Hux­ter hat­te die Be­sin­nung ver­lo­ren, Hen­frey blieb ste­hen, um die Tat­sa­che fest­zu­stel­len, wäh­rend Hall und zwei Ar­bei­ter aus der Schank­stu­be gleich­zei­tig vor­wärts stürz­ten, wo­bei sie un­ver­ständ­li­che Rufe aus­stie­ßen. Sie sa­hen Mr. Mar­vel bei der Kir­che um die Ecke ver­schwin­den. Hier­auf schie­nen sie zu der un­mög­li­chen Schluss­fol­ge­rung ge­langt zu sein, dass der Un­sicht­ba­re plötz­lich sicht­bar ge­wor­den sei, und be­gan­nen ihn so­fort zu ver­fol­gen. Aber Hall war kaum ein Dut­zend Schritt weit ge­kom­men, als er einen lau­ten Ruf des Er­stau­nens aus­stieß und kopf­über zur Sei­te flog, wo­bei er sich an einen der Ar­bei­ter klam­mer­te und die­sen mit sich zu Bo­den riss. Der zwei­te Ar­bei­ter kam auf ei­nem Um­we­ge nä­her, blick­te die bei­den ver­wun­dert an und setz­te, als er be­merk­te, dass Hall ohne äu­ße­re Ur­sa­che nie­der­ge­stürzt sei, sei­nen Weg fort, um so­fort einen Fuß­tritt zu er­hal­ten, der ihn, wie vor­her Hux­ter, zu ei­ner wei­te­ren Ver­fol­gung un­fä­hig mach­te. Als dann der ers­te Ar­bei­ter einen Ver­such mach­te, sich auf die Füße zu stel­len, wur­de er durch einen Schlag, der kräf­tig ge­nug ge­we­sen wäre, einen Och­sen zu fäl­len, bei­sei­te ge­schleu­dert.

Im sel­ben Au­gen­blick bo­gen die Leu­te, die von der Dorf­wie­se her­bei­ge­eilt wa­ren, um die Ecke. Als ers­ter er­schi­en der Ei­gen­tü­mer der Ko­kos­nuss­bu­de, ein kräf­ti­ger Mann in ei­ner blau­en Jer­sey­ja­cke. Er war nicht we­nig ver­wun­dert, die Stra­ße bis auf drei Men­schen, die sich mit selt­sa­men Be­we­gun­gen am Bo­den wälz­ten, leer zu fin­den. Und dann ge­sch­ah et­was mit ei­nem sei­ner Bei­ne, er stürz­te nie­der und ku­gel­te ge­ra­de zur rech­ten Zeit auf die Sei­te, um sich in den Bei­nen sei­nes Bru­ders und Ge­schäfts­teil­ha­bers zu ver­fan­gen, der ihm kopf­über folg­te. Und dann kam eine gan­ze Men­ge über­eif­ri­ger Men­schen her­an, die auf sie trat, über sie fiel und hef­tig fluch­te.

Als Hall mit Hen­frey und den bei­den Ar­bei­tern aus dem Hau­se ge­eilt war, war Mrs. Hall, die durch lang­jäh­ri­ge Er­fah­rung Selbst­be­herr­schung ge­lernt hat­te, in der Schank­stu­be bei der Geld­la­de zu­rück­ge­blie­ben. Plötz­lich öff­ne­te sich die Wohn­zim­mer­tür und Mr. Cuss er­schi­en. Er lief, ohne sie an­zu­bli­cken, die Stu­fen hin­un­ter, der Stra­ßen­bie­gung zu. »Hal­tet ihn!«, schrie er, »gebt acht, dass er das Bün­del nicht weg­wirft! So lan­ge er das Bün­del trägt, kann man ihn se­hen!«

Er wuss­te nichts von der Exis­tenz Mar­vels, denn der Un­sicht­ba­re hat­te die­sem die Bü­cher und das Bün­del im Hof über­ge­ben. Das Ant­litz Mr. Cuss’ war zor­nig und ent­schlos­sen, aber sein An­zug war sehr man­gel­haft – eine Art lo­sen, wei­ßen Kit­tels, der nur im al­ten Grie­chen­land ei­ner Mus­te­rung stand­ge­hal­ten hät­te. »Hal­tet ihn!«, brüll­te er. »Er hat mei­ne Ho­sen! – und die Klei­der des Pfar­rers, Stück für Stück!«

»Gleich will ich ihm nach!«, rief er Hen­frey zu, als er an dem am Bo­den lie­gen­den Hux­ter vor­bei­kam; aber als er um die Ecke bog, um sich der Men­ge an­zu­schlie­ßen, sah man ihn plötz­lich in sehr un­äs­the­ti­scher Wei­se auf der Erde lie­gen. Je­mand kam in vol­ler Hast vor­bei und trat ihm schwer auf die Fin­ger. Er schrie auf und ver­such­te auf die Füße zu kom­men. Da wur­de er noch­mals ge­sto­ßen und nie­der­ge­wor­fen und be­merk­te end­lich, dass die Ver­fol­gung des Un­sicht­ba­ren sich in eine Flucht ver­wan­delt hat­te. Al­les eil­te nach dem Dor­fe zu­rück. Wäh­rend er sich aber­mals er­hob, be­kam er eine schal­len­de Ohr­fei­ge, die ihn zum Wan­ken brach­te. Dann trat er den Rück­weg nach dem »Fuhr­mann« an und sprang da­bei über den von al­ler Welt ver­las­se­nen Hux­ter, der sich jetzt auf­ge­setzt hat­te, hin­weg.

Als er die Stu­fen zum Gast­hof halb er­stie­gen hat­te, ver­nahm er hin­ter sich einen plötz­li­chen Wut­schrei, der sich von dem Stim­men­ge­wirr deut­lich un­ter­schied, und einen weit­hin tö­nen­den Schlag in je­man­des Ge­sicht. Er er­kann­te die Stim­me als die­je­ni­ge des Un­sicht­ba­ren, und sie klang wie die ei­nes Men­schen, der durch einen hef­ti­gen Schmerz in Wut ver­setzt wird.

Im nächs­ten Au­gen­blick war Cuss wie­der im Gast­zim­mer.

»Er kommt zu­rück, Bun­ting!«, rief er, hin­ein­stür­zend. »Ret­ten Sie sich!«

Mr. Bun­ting stand am Fens­ter und war eif­rig da­mit be­schäf­tigt, sich so gut als mög­lich in einen Tep­pich und die »West-Sur­rey-Zei­tung« ein­zuhül­len.

»Wer kommt zu­rück?«, rief er, er­schreckt auf­fah­rend, so­dass sein im­pro­vi­sier­ter An­zug nahe dar­an war, ihm zu ent­glei­ten.

»Der Un­sicht­ba­re!«, er­wi­der­te Cuss und eil­te ans Fens­ter. »Wir soll­ten lie­ber von hier fort! Er kämpft wie wahn­sin­nig! Wie wahn­sin­nig!«

Im nächs­ten Au­gen­blick war er be­reits im Hof.

»Gü­ti­ger Him­mel!«, sag­te Mr. Bun­ting, zwi­schen zwei ent­setz­li­chen Al­ter­na­ti­ven schwan­kend. Er hör­te einen furcht­ba­ren Kampf im Vor­hau­se und sein Ent­schluss war ge­fasst. Er klet­ter­te aus dem Fens­ter, brach­te sei­ne Klei­dung so gut wie mög­lich in Ord­nung und floh, so schnell ihn sei­ne kur­z­en, di­cken Bei­ne tra­gen woll­ten.

Von dem Au­gen­blick an, da der Un­sicht­ba­re vor Wut ge­schri­en, und Mr. Bun­ting sei­ne denk­wür­di­ge Flucht durch das Dorf be­werk­stel­ligt hat­te, wird es un­mög­lich, eine zu­sam­men­hän­gen­de Dar­stel­lung der Er­eig­nis­se in Iping zu ge­ben. Mög­li­cher­wei­se ging des Un­sicht­ba­ren Ab­sicht ur­sprüng­lich da­hin, Mar­vels Rück­zug mit den Bü­chern und Klei­dern zu de­cken. Aber sei­ne gute Lau­ne, mit der es nie­mals weit her war, scheint ihn bei ei­nem Schla­ge, der ihn zu­fäl­lig traf, ganz ver­las­sen zu ha­ben, und er be­gann dar­auf los zu schla­gen und zu sto­ßen, um des rei­nen Ver­gnü­gens an der Sa­che wil­len.

Man den­ke sich die Stra­ße voll ei­len­der Men­schen, zu­schmet­tern­der Hau­sto­re und dich­ter Grup­pen, die um ein si­che­res Ver­steck kämpf­ten. Man stel­le sich vor, wie der Hau­fen sich auf das aus ei­nem Bret­te und zwei Stüh­len her­ge­stell­te Gerüst des al­ten Flet­cher zu­wälz­te und die Ka­ta­stro­phe, die dar­auf folg­te. Und dann ist der Tu­mult vor­über. Die Stra­ße mit ih­ren lus­tig flat­tern­den Fah­nen ist öde und ver­las­sen, bis auf den wild wü­ten­den Un­sicht­ba­ren, und be­deckt mit her­um­kol­lern­den Ko­kos­nüs­sen, um­ge­stürz­ten Zel­ten und den in alle Win­de zer­streu­ten Wa­ren ei­nes Ver­käu­fers von Sü­ßig­kei­ten. Über­all wer­den Lä­den ge­schlos­sen und Rie­gel vor­ge­scho­ben. Die gan­ze Orts­be­völ­ke­rung ist ver­schwun­den, nir­gends sind Men­schen zu se­hen; nur hie und da kann man hin­ter den Fens­ter­vor­hän­gen ein ängst­lich her­aus­spä­hen­des Auge er­bli­cken.

Der Un­sicht­ba­re un­ter­hielt sich noch kur­ze Zeit da­mit, alle Fens­ter im »Fuhr­mann« ein­zu­schla­gen; dann warf er eine Stra­ßen­la­ter­ne in Mrs. Gro­grams Wohn­zim­mer. Er muss es ge­we­sen sein, der den Te­le­gra­fen­draht nach Ad­der­de­an un­mit­tel­bar hin­ter Higg­ins Haus durch­schnitt. Und dann ver­schwand er, dank sei­ner be­son­de­ren Gabe, ganz und gar aus dem Ge­sichts­kreis der Men­schen und wur­de in Iping wei­ter­hin we­der ge­se­hen noch ge­hört noch ge­fühlt. Er ver­schwand voll­kom­men.

Aber zwei gute Stun­den dau­er­te es, be­vor sich ein mensch­li­ches We­sen in Iping wie­der auf die ver­öde­te Stra­ße hin­aus­wag­te.