H. G. Wells – Gesammelte Werke

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5. Kapitel – Der Einbruch im Pfarrhaus

Kur­ze Zeit nach der Un­ter­re­dung des Pfar­rers mit Mr. Cuss wur­de im Pfarr­haus ein ge­heim­nis­vol­ler Ein­bruch ver­übt.

Die nä­he­ren Um­stän­de des Ein­bruchs im Pfarr­haus sind uns haupt­säch­lich durch die Aus­sa­gen des Pfar­rers und sei­ner Gat­tin be­kannt. Es ge­sch­ah nach Mit­ter­nacht, am Pfingst­mon­tag, dem Tage, der in Iping den Ver­eins­fest­lich­kei­ten ge­wid­met ist. Es scheint, dass Mrs. Bun­ting in der Stil­le, die der Mor­gen­däm­me­rung vor­an­geht, plötz­lich mit der kla­ren Emp­fin­dung er­wach­te, dass die Tür des Schlaf­zim­mers ge­öff­net und ge­schlos­sen wor­den war. Sie weck­te ih­ren Gat­ten nicht gleich, son­dern setz­te sich im Bett auf und horch­te. Da hör­te sie deut­lich das »Trapp, trapp, trapp« un­be­schuh­ter Füße aus dem an­sto­ßen­den An­klei­de­zim­mer her­aus­kom­men und durch den Gang auf die Trep­pe zu­ge­hen. So­bald sie des­sen si­cher war, weck­te sie ih­ren Gat­ten so ge­räusch­los als mög­lich. Er zün­de­te kein Licht an, son­dern nahm sei­ne Bril­le, sei­nen Schlaf­rock und sei­ne Haus­schu­he und ging auf den Flur hin­aus, um zu hor­chen. Er hör­te ganz deut­lich, wie je­mand an sei­nem Stu­dier­pult un­ten her­um­tas­te­te, und ver­nahm dann ein hef­ti­ges Nie­sen.

Da­rauf kehr­te er in sein Schlaf­zim­mer zu­rück, be­waff­ne­te sich mit der nächst­lie­gen­den Waf­fe, der Feu­er­zan­ge, und ging ganz lei­se die Trep­pe hin­ab. Mrs. Bun­ting folg­te ihm bis auf den Flur.

Es war etwa vier Uhr und das tiefs­te Dun­kel der Nacht vor­über. In der Vor­hal­le sah er einen lei­sen Licht­schim­mer, aber der Vor­raum zum Stu­dier­zim­mer gähn­te ihm noch tief­schwarz ent­ge­gen. Al­les war still, mit Aus­nah­me des leich­ten Knar­rens der Stu­fen un­ter Mr. Bun­tings Trit­ten und der lei­sen Be­we­gun­gen im Stu­dier­zim­mer. Dann schnapp­te ein Schloss, das Schub­fach wur­de ge­öff­net, und das Ra­scheln von Pa­pie­ren hör­bar. Dann kam ein Fluch, ein Streich­hölz­chen wur­de an­ge­rie­ben und das Stu­dier­zim­mer er­schi­en mit gel­bem Lich­te über­gos­sen. Mr. Bun­ting stand jetzt vor der Tür. Durch eine Spal­te konn­te er das Pult und die of­fe­ne Lade se­hen und auch das Licht, das auf dem Pult brann­te. Aber den Räu­ber sah er nicht. Un­ent­schlos­sen stand er vor der Tür und Mrs. Bun­ting nä­her­te sich ihm lang­sam, ge­spannt hor­chend, mit sehr blei­chem Ge­sicht. Ein Um­stand hielt Mrs. Bun­tings Mut auf­recht: die Über­zeu­gung, dass der Ein­bre­cher ein Ein­hei­mi­scher sein müs­se.

Sie hör­ten Gold­stücke klir­ren und mach­ten sich klar, dass der Räu­ber das Wirt­schafts­geld ge­fun­den hat­te – 2 Pfund in Gold und 10 Schil­ling in klei­ner Mün­ze. Bei die­sem Ton er­mann­te sich Mr. Bun­ting zu plötz­li­cher Tat­kraft. Er pack­te die Feu­er­zan­ge mit fes­tem Griff und stürz­te in das Zim­mer, wo­hin ihm sei­ne Gat­tin auf den Fer­sen folg­te.

»Er­gib dich!«, schrie Mr. Bun­ting wild. Dann blieb er be­trof­fen ste­hen. Das Zim­mer war au­gen­schein­lich voll­kom­men leer.

Und doch war ihre Über­zeu­gung, dass sich einen Au­gen­blick vor­her je­mand im Zim­mer be­wegt habe, zur Ge­wiss­heit ge­wor­den. Wohl eine hal­be Mi­nu­te lang stan­den sie mit ver­hal­te­nem Atem da, dann ging Mrs. Bun­ting durch das Zim­mer und blick­te hin­ter den Ofen­schirm, wäh­rend Mr. Bun­ting in­fol­ge ei­ner ähn­li­chen Ein­ge­bung un­ter das Pult späh­te. Dann zog Mrs. Bun­ting die Vor­hän­ge zu­rück, und Mr. Bun­ting sah in den Ka­min, den er mit der Feu­er­zan­ge un­ter­such­te. Dann un­ter­zog Mrs. Bun­ting den Pa­pier­korb ei­ner Un­ter­su­chung, wäh­rend Mr. Bun­ting den Koh­len­stän­der öff­ne­te. Hier­auf blie­ben sie ste­hen und sa­hen ein­an­der fra­gend an.

»Ich hät­te schwö­ren kön­nen«, sag­te Mr. Bun­ting.

»Das Licht!«, fuhr er fort, »wer hat das Licht an­ge­zün­det?«

»Die Lade!«, mein­te Mrs. Bun­ting. »Und das Geld ist weg.«

Sie eil­ten zur Tür.

»Von al­len au­ßer­ge­wöhn­li­chen Er­eig­nis­sen –« Man hör­te ein hef­ti­ges Nie­sen im Flur. Sie stürz­ten hin­aus, und im sel­ben Au­gen­blick wur­de die Kü­chen­tür zu­ge­schla­gen. »Bring das Licht!«, rief Mr. Bun­ting und eil­te vor­an. Bei­de hör­ten sie das Klir­ren schnell zu­rück­ge­scho­be­ner Rie­gel.

Als sie die Kü­chen­tür auf­mach­ten, sa­hen sie durch die Spül­kam­mer, dass die Haus­tür eben ge­öff­net wur­de, und in dem un­ge­wis­sen Licht der Däm­me­rung stieg die dunkle Mas­se des Gar­tens vor ih­nen auf. Sie wa­ren über­zeugt, dass nie­mand aus der Tür hin­aus­ging. Sie öff­ne­te sich, stand einen Mo­ment lang of­fen und schlug dann zu. Zu­gleich fla­cker­te das Licht auf, das Mrs. Bun­ting aus dem Stu­dier­zim­mer ge­bracht hat­te … Es währ­te ei­ni­ge Mi­nu­ten, ehe sie die Kü­che be­tra­ten.

Der Raum war leer. Sie ver­schlos­sen die Hin­ter­tür, durch­such­ten gründ­lich die Kü­che, die Vor­rats­kam­mer und den Spül­raum und gin­gen zu­letzt in den Kel­ler. So­viel sie auch such­ten, es war kei­ne See­le im Hau­se zu fin­den.

Das Ta­ges­licht fand den Pfar­rer und sei­ne Frau, ein selt­sam ge­klei­de­tes Pär­chen, bei dem über­flüs­sig ge­wor­de­nen Licht ei­ner trop­fen­den Ker­ze, noch im­mer ein­an­der ver­wun­dert an­bli­ckend.

»Von al­len un­ge­wöhn­li­chen Er­eig­nis­sen«, be­gann der Pfar­rer zum zwan­zigs­ten Male.

»Mein Lie­ber«, sag­te Mrs. Bun­ting, »ich höre Susi so­eben her­un­ter­kom­men. War­te hier, bis sie in die Kü­che ge­gan­gen ist und dann trach­te, un­be­merkt hin­auf­zu­kom­men.«

6. Kapitel – Das verhexte Zimmer

Nun ge­sch­ah es, dass am frü­hen Mor­gen des Pfingst­mon­tags, be­vor Mil­lie aus den Fe­dern ge­trie­ben wur­de, Mr. und Mrs. Hall ge­mein­sam auf­stan­den und ge­räusch­los in den Kel­ler gin­gen. Ihre Ar­beit dort war eine Pri­vat­an­ge­le­gen­heit und stand im Zu­sam­men­hange mit dem spe­zi­fi­schen Ge­wicht ih­res Bie­res.

Sie wa­ren kaum im Kel­ler an­ge­langt, als Mrs. Hall fand, dass sie die Fla­sche Sass­a­pa­ril­le aus ih­rem ge­mein­sa­men Zim­mer mit­zu­neh­men ver­ges­sen hat­te. Da sie die Sach­ver­stän­di­ge und Lei­te­rin in die­ser klei­nen An­ge­le­gen­heit war, so war es nur in der Ord­nung, dass Hall die Fla­sche hol­te.

Im Flur sah er mit Er­stau­nen, dass die Tür des Frem­den halb of­fen stand. Er ging in sein ei­ge­nes Zim­mer und fand die Fla­sche an ih­rem Platz.

Als er aber mit der­sel­ben zu­rück­kehr­te, be­merk­te er, dass die Rie­gel der Haus­tür zu­rück­ge­scho­ben und das Tor nur ein­fach zu­ge­klinkt war. Wie ein Blitz durch­zuck­te ihn der Ge­dan­ke, die­se Tat­sa­che mit des Frem­den Zim­mer im ers­ten Stock und dem Ver­dacht, den ihm Ted­dy Hen­frey ein­ge­flö­ßt hat­te, in Ver­bin­dung zu brin­gen. Er er­in­ner­te sich deut­lich, das Licht ge­hal­ten zu ha­ben, als Mrs. Hall die Tür für die Nacht ver­rie­gel­te. Bei dem über­ra­schen­den An­blick blieb er mit of­fe­nem Mun­de ste­hen, dann ging er, die Fla­sche in der Hand, noch ein­mal hin­auf. Er klopf­te an der Tür des Frem­den. Kei­ne Ant­wort. Er klopf­te wie­der; dann stieß er die Tür weit auf und trat ein.

Es war, wie er er­war­tet hat­te. Das Bett und auch das Zim­mer wa­ren leer. Und was selbst sei­ner schwer­fäl­li­gen In­tel­li­genz noch merk­wür­di­ger er­schi­en, auf dem Stuhl ne­ben dem Bett und auf dem Bett­rand la­gen Klei­dungs­stücke her­um, so­viel er wuss­te, die ein­zi­gen Klei­der des Gas­tes und alle sei­ne Ver­bän­de. Selbst der große Schlapp­hut war nach­läs­sig über den Bett­pfos­ten ge­stülpt.

Wie Hall dort stand, drang die Stim­me sei­ner Frau in dem fra­gen­den Ton­fal­le höchs­ter Un­ge­duld aus den Tie­fen des Kel­lers zu ihm her­auf: »Ge­org! Hast du, was wir brau­chen?«

Da­rauf wand­te er sich um und eil­te zu ihr hin­un­ter. »Jen­ny!«, rief er ihr über das Ge­län­der der Kel­ler­stie­ge zu, »Hen­frey hat recht mit dem, was er sagt; er ist nicht in sei­nem Zim­mer und die Haus­tür ist nicht ver­rie­gelt!«

An­fangs ver­stand ihn Mrs. Hall nicht; aber so­bald sie es be­griff, be­schloss sie, sich das lee­re Zim­mer selbst an­zu­se­hen. Hall, der die Fla­sche noch im­mer in der Hand hielt, ging vor­an. »Wenn er auch nicht da ist«, sag­te er, »sei­ne Klei­der sind da. Und was kann er ohne Klei­der tun? Eine sehr ku­rio­se Ge­schich­te!«

Als sie die Kel­ler­trep­pe her­auf­ka­men, glaub­ten sie bei­de, wie man spä­ter fest­stell­te, die Haus­tür auf- und zu­ge­hen zu hö­ren. Aber da sie sa­hen, dass die Tür ge­schlos­sen und nichts dort war, mach­te da­mals kei­ner von bei­den eine Be­mer­kung dar­über. Auf dem Gang eil­te Mrs. Hall an ih­rem Gat­ten vor­bei und lief zu­erst die Trep­pe hin­auf. Je­mand nies­te auf der Stie­ge. Hall, der sechs Schrit­te hin­ter ihr ging, glaub­te, dass sie ge­nießt habe. Sie, die vor­an­ging, war der Mei­nung, dass es ihr Mann ge­we­sen sei. Sie riss die Tür auf und sah ins Zim­mer hin­ein. »Das ist doch merk­wür­dig«, sag­te sie.

Sie hör­te ein Räus­pern dicht hin­ter sich; und als sie den Kopf wand­te, war sie er­staunt, Hall ein Dut­zend Schrit­te weit ent­fernt auf der obers­ten Stu­fe zu se­hen. Aber im nächs­ten Au­gen­blick stand er ne­ben ihr. Sie beug­te sich nie­der und leg­te ihre Hand auf das Kis­sen und dann un­ter das Bet­tuch.

»Ganz kalt«, sag­te sie. »Er ist seit mehr als ei­ner Stun­de auf.«

Da er­eig­ne­te sich et­was höchst Wun­der­ba­res.

Die Bet­tü­cher ball­ten sich zu­sam­men, er­ho­ben sich plötz­lich zu ei­ner Art Hü­gel und flo­gen dann ge­ra­de­aus über den Bett­rand hin­weg. Gera­de, als ob eine Hand sie in der Mit­te ge­packt und bei­sei­te ge­wor­fen hät­te. Un­mit­tel­bar dar­auf schnell­te der Hut vom Bett­pfos­ten weg, flog im Halb­kreis durch die Luft und traf Mrs. Hall mit­ten ins Ge­sicht. Eben­so schnell kam der Schwamm vom Wasch­tisch und dann dreh­te der Stuhl – des Frem­den Rock und Bein­klei­der nach­läs­sig bei­sei­te wer­fend und mit ei­nem, dem des Frem­den merk­wür­dig ähn­lich klin­gen­den tro­ckenen Auf­la­chen – alle vier Bei­ne ge­gen Mrs. Hall, schi­en einen Au­gen­blick auf sie zu zie­len und ging dann auf sie los. Sie kreisch­te auf und dreh­te sich um; da ka­men die Stuhl­bei­ne lang­sam, aber si­cher auf ih­ren Rücken zu und trie­ben sie und Hall aus dem Zim­mer. Die Tür schlug hef­tig zu und wur­de ver­rie­gelt. Ei­nen Au­gen­blick lang schie­nen Stuhl und Bett einen Sie­ge­stanz auf­zu­füh­ren, dann wur­de plötz­lich al­les still.

 

Mrs. Hall lag halb ohn­mäch­tig in den Ar­men ih­res Gat­ten. Mit schwe­rer Mühe ge­lang es ihm und Mil­lie, die durch das Angst­ge­schrei wach ge­wor­den war, sie die Trep­pe hin­un­ter­zu­schaf­fen und mit den Mit­teln, die man in sol­chen Fäl­len an­zu­wen­den pflegt, zu stär­ken.

»Das wa­ren Geis­ter!«, stöhn­te Mrs. Hall. »Ich weiß, dass es Geis­ter wa­ren. Ich habe in den Zei­tun­gen da­von ge­le­sen. Ti­sche und Stüh­le sprin­gen und tan­zen her­um …«

»Nimm noch einen Trop­fen, Jen­ny«, be­gü­tig­te Hall. »Es wird dich be­ru­hi­gen.«

»Sperr ihn aus! Lass ihn nicht wie­der her­ein! Ich ahn­te es … Ich hät­te es wis­sen kön­nen! Mit sei­nen Glasau­gen und dem ver­bun­de­nen Kopf, und nie ging er Sonn­tags in die Kir­che, und alle die­se Fla­schen, mehr als ein Chris­ten­mensch ha­ben darf. Er hat die Mö­bel ver­hext … Mei­ne gute alte Zim­mer­ein­rich­tung! In die­sem sel­bi­gen Stuhl pfleg­te mei­ne lie­be se­li­ge Mut­ter zu sit­zen, wie ich noch ein klei­nes Mäd­chen war! Zu den­ken, dass er jetzt auf mich los­geht!«

»Nimm noch einen Trop­fen, Jen­ny«, sag­te Hall, »dei­ne Ner­ven sind in ei­nem schreck­li­chen Zu­stand.«

Im gol­de­nen Mor­gen­son­nen­schein schick­ten sie Mil­lie über die Gas­se, Mr. San­dy Wad­gers, den Schmied, zu we­cken.

»Eine Emp­feh­lung von Mr. Hall und die Mö­bel oben be­neh­men sich so selt­sam, ob Mr. Wad­gers her­über­kom­men wol­le?«

Mr. Wad­gers war ein klu­ger Mann und ein fin­di­ger Kopf. Er nahm den Fall sehr ernst­haft. »Ich will ver­dammt sein, wenn das nicht Hexe­rei ist«, war sei­ne An­sicht. »Sol­chen Din­gen ist man nicht ge­wach­sen.«

Sehr be­däch­tig folg­te er dem Rufe. Sie ba­ten ihn, vor­aus ins Zim­mer hin­auf­zu­ge­hen, aber er schi­en es da­mit nicht ei­lig zu ha­ben und zog es vor, auf dem Gan­ge mit ih­nen zu spre­chen. Drü­ben kam Hux­ters Lehr­ling her­aus und be­gann die Fens­ter­la­den zu öff­nen. Er wur­de her­über­ge­ru­fen, um an der Be­ra­tung teil­zu­neh­men. Na­tür­li­cher­wei­se folg­te ihm Mr. Hux­ter we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter. Die Nei­gung des An­gel­sach­sen für par­la­men­ta­ri­sche For­men trat deut­lich zu­ta­ge: es wur­de sehr viel ge­spro­chen, aber we­nig ge­tan.

»Wir wol­len erst die Tat­sa­chen re­ka­pi­tu­lie­ren«, ver­lang­te Mr. San­dy Wad­gers. »Wir müs­sen uns klar dar­über sein, ob wir auch recht dar­an tun, die Tür dort ge­walt­sam zu öff­nen. Eine un­ver­sperr­te Tür kann man im­mer öff­nen, aber wenn man ein­mal eine er­bro­chen hat, kann man es nicht mehr un­ge­sche­hen ma­chen.«

Und plötz­lich und wun­der­ba­rer­wei­se öff­ne­te sich die Tür des Zim­mers oben von selbst, und wie sie be­trof­fen hin­auf­blick­ten, sa­hen sie auf der Trep­pe die ver­mumm­te Ge­stalt des Frem­den, der sie mit sei­nen un­ver­nünf­tig großen Schutz­glä­sern noch star­rer und un­durch­dring­li­cher als sonst an­blick­te. Steif und lang­sam kam er her­ab, den Blick un­ver­wandt auf sie ge­hef­tet. Er ging durch den Flur, glotz­te sie an, dann blieb er ste­hen.

»Da – seht«, sag­te er. Ihre Au­gen folg­ten der Rich­tung sei­nes be­hand­schuh­ten Fin­gers und sa­hen eine Fla­sche Sass­a­pa­ril­le dicht ne­ben der Kel­ler­tür ste­hen. Dann ging er ins Gast­zim­mer und schlug schnell und bos­haft die Tür vor ih­rer Nase zu.

Kein Wort wur­de ge­spro­chen, bis das letz­te Echo ver­hallt war. Sie starr­ten ein­an­der an.

»Wenn ich es nicht mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen hät­te!«, be­gann Mr. Wad­gers, ließ aber den Satz un­voll­en­det.

»Ich wür­de hin­ein­ge­hen und mit ihm spre­chen«, wand­te er sich hier­auf zu Hall. »Ich wür­de auf ei­ner Er­klä­rung be­ste­hen.«

Es brauch­te ei­ni­ge Zeit, be­vor man den Mann so weit ge­bracht hat­te. End­lich klopf­te er an, öff­ne­te die Tür und be­gann:

»Bit­te um Ent­schul­di­gung …«

»Ge­hen Sie zum Teu­fel!«, rief der Frem­de mit fürch­ter­li­cher Stim­me, »und schlie­ßen Sie die Tür hin­ter sich!«

So en­dig­te die­se kur­ze Un­ter­re­dung.

7. Kapitel – Die Demaskierung des Fremden

Ge­gen halb sechs Uhr mor­gens hat­te der Frem­de das klei­ne Gast­zim­mer im »Fuhr­mann« be­tre­ten, und dort blieb er bei ge­schlos­se­nen Tü­ren und her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­gen bis ge­gen Mit­tag. Nie­mand wag­te ihn zu stö­ren, nach­dem es Hall so übel er­gan­gen war.

Die gan­ze Zeit über muss­te er ge­fas­tet ha­ben. Drei­mal zog er an der Glo­cke, das drit­te Mal sehr hef­tig und an­hal­tend, ohne dass sich je­mand nach sei­nen Wün­schen er­kun­digt hät­te. »Ich will mit ihm und mit sei­nem: Ge­hen Sie zum Teu­fel! nichts mehr zu tun ha­ben«, er­klär­te Mrs. Hall. Bald ver­brei­te­te sich ein un­be­stimm­tes Gerücht von dem Ein­bruch in dem Pfarr­haus, und so­fort wur­den die bei­den Er­eig­nis­se in Ver­bin­dung ge­bracht. Von Wad­gers be­glei­tet, ging Hall zu Mr. Shu­ckel­forth, dem Frie­dens­rich­ter, um des­sen An­sicht über den Fall zu ver­neh­men. Nie­mand wag­te sich die Trep­pe hin­auf. Wo­mit sich der Frem­de an je­nem Vor­mit­tag be­schäf­tig­te, hat man nie er­fah­ren. Hie und da ging er mit schwe­ren Schrit­ten auf und ab und zwei­mal dran­gen Wut­aus­brü­che, das Geräusch von zer­ris­se­nem Pa­pier und hef­tig an­ein­an­der klir­ren­den Fla­schen an die Ohren der Lau­scher.

Die klei­ne Grup­pe er­schreck­ter, aber neu­gie­ri­ger Leu­te ver­grö­ßer­te sich. Mrs. Hux­ter kam her­über; ei­ni­ge lus­ti­ge Bur­schen, die aus An­lass des Fei­er­ta­ges in schwar­zen, fer­tig ge­kauf­ten Ja­cken und Pi­kee­kra­wat­ten Staat mach­ten, hal­fen den all­ge­mei­nen Wirr­warr er­hö­hen. Der jun­ge Archie Har­ker zeich­ne­te sich be­son­ders aus, in­dem er in den Hof hin­aus­ging und den Ver­such mach­te, un­ter die her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­ge zu spä­hen. Er konn­te zwar nichts se­hen, ließ aber das Ge­gen­teil ver­mu­ten, so­dass sich ihm an­de­re jun­ge Leu­te bald an­schlos­sen.

Es war der schöns­te Pfingst­mon­tag, den man sich den­ken konn­te. Die Dorf­stra­ße ent­lang stan­den in ei­ner Rei­he fast ein Dut­zend Bu­den und eine Schieß­stät­te; und auf dem Ra­sen bei der Schmie­de stan­den drei gelb und braun ge­streif­te Wa­gen, vor de­nen meh­re­re ma­le­risch aus­se­hen­de Frem­de bei­der­lei Ge­schlechts ein Ko­kos­nuss­wer­fen ver­an­stal­te­ten. Die Män­ner tru­gen blaue Ma­tro­sen­ja­cken, die Frau­en wei­ße Schür­zen und ganz mo­der­ne Hüte mit schwe­ren Fe­dern. Woo­dyer, aus dem »Ro­ten Hirsch«, und Jag­gers, der Schuh­fli­cker, der auch mit ge­brauch­ten Fahr­rä­dern han­del­te, schmück­ten die Stra­ßen mit Ver­eins­fah­nen und kö­nig­li­chen Ban­nern, de­ren ur­sprüng­li­che Be­stim­mung es ge­we­sen war, das ers­te Vik­to­ria­ju­bi­lä­um zu fei­ern.

In der künst­li­chen Dun­kel­heit des Gast­zim­mers, in das nur ein schwa­cher Licht­strahl drang, brü­te­te der Frem­de hung­rig, wie man an­neh­men muss, und ängst­lich in sei­ner un­be­quem hei­ßen Ver­mum­mung über sei­nen Auf­zeich­nun­gen, schlug sei­ne schmut­zi­gen Fla­schen an­ein­an­der und fluch­te von Zeit zu Zeit grim­mig auf die Bur­schen, die, zwar ihm nicht sicht­bar, je­doch sehr hör­bar vor den Fens­tern ihr We­sen trie­ben. In der Ecke beim Ka­min la­gen die Bruch­stücke von ei­nem hal­b­en Dut­zend zer­bro­che­ner Fla­schen. Die Luft war von ei­nem bei­ßen­den Chlor­ge­ruch durch­tränkt.

Ge­gen Mit­tag öff­ne­te der Frem­de plötz­lich die Tür und starr­te die drei oder vier Leu­te im Schank­zim­mer an. »Mrs. Hall!«, rief er. Wi­der­wil­lig ging ei­ner von ih­nen hin­aus, um die Wir­tin zu ho­len.

Mrs. Hall er­schi­en nach ei­ni­ger Zeit, ein we­nig atem­los, aber de­sto er­reg­ter. Hall war noch nicht zu Hau­se. Sie hat­te sich die Sa­che im vor­aus reif­lich über­legt und trug auf ei­ner Un­ter­tas­se eine un­be­zahl­te Rech­nung. »Sie wün­schen wohl Ihre Rech­nung, mein Herr?«

»Wa­rum habe ich kein Früh­stück be­kom­men? Wa­rum ha­ben Sie mein Es­sen nicht ge­bracht und auf das Läu­ten nicht ge­hört? Glau­ben Sie, dass ich ohne Nah­rung le­ben kann?«

»Wa­rum wird mei­ne Rech­nung nicht be­zahlt?«, ent­geg­ne­te Mrs. Hall, »das möch­te ich ger­ne wis­sen.«

»Ich habe Ih­nen vor drei Ta­gen ge­sagt, dass ich einen Wech­sel er­war­te …«

»Und ich habe Ih­nen vor drei Ta­gen ge­sagt, dass ich auf kei­nen Wech­sel war­ten will. Sie kön­nen sich nicht be­kla­gen, wenn Sie ein we­nig auf Ihr Früh­stück war­ten müs­sen, wo mei­ne Rech­nung seit fünf Ta­gen war­tet.«

Der Frem­de fluch­te kurz, aber grim­mig.

»Na, na!«, tön­te es aus der Schank­stu­be.

»Und ich wäre Ih­nen sehr dank­bar, mein Herr, wenn Sie Ihre Flü­che für sich be­hal­ten woll­ten«, fuhr Mrs. Hall fort.

Der Frem­de war in sei­nem Zorn ganz schreck­lich an­zu­se­hen. In der Schank­stu­be fühl­te man aber all­ge­mein, dass Mrs. Hall den Sieg da­von­ge­tra­gen hat­te. Die nächs­ten Wor­te ga­ben den Be­weis da­für.

»Se­hen Sie, gute Frau«, be­gann er.

»Ich bin nicht Ihre gute Frau«, fuhr Mrs. Hall auf.

»Ich habe Ih­nen ge­sagt, dass mein Wech­sel noch nicht ge­kom­men ist.«

»Wech­sel! Haha!«, lach­te Frau Hall spöt­tisch.

»Doch kann ich Ih­nen sa­gen, dass ich in der Ta­sche …«

»Vor drei Ta­gen sag­ten Sie mir, dass Sie kaum einen Schil­ling Klein­geld bei sich hät­ten.«

»Ich habe noch et­was Geld ge­fun­den.«

»Aha!«, kam es aus der Schank­stu­be.

»Ich möch­te sehr ger­ne wis­sen, wo Sie es ge­fun­den ha­ben«, mein­te Mrs. Hall.

Die­se Be­mer­kung schi­en den Frem­den sehr zu ver­drie­ßen. Er stampf­te mit dem Fuße. »Was mei­nen Sie da­mit?«, frag­te er.

»Dass ich wis­sen möch­te, wo Sie es ge­fun­den ha­ben«, gab Mrs. Hall zur Ant­wort. »Und be­vor ich eine Rech­nung be­zahlt neh­me oder Ih­nen ein Früh­stück gebe oder et­was an­de­res die­ser Art tue, wer­den Sie so freund­lich sein, mir ver­schie­de­nes zu er­klä­ren, was ich nicht ver­ste­he, und was nie­mand ver­steht, und was je­der sehr ger­ne ver­ste­hen möch­te. Ich will wis­sen, was Sie mit mei­nem Stuh­le oben ge­tan ha­ben. Und ich will wis­sen, wie­so Ihr Zim­mer leer war, und wie Sie wie­der hin­ein­ka­men. Wer in mei­nem Hau­se wohnt, kommt zur Tür her­ein. Das ist die Haus­re­gel bei mir. Und das ha­ben Sie nicht ge­tan, und ich will wis­sen, auf wel­che Wei­se Sie her­ein­ka­men. Und ich will wis­sen –«

Plötz­lich er­hob der Frem­de sei­ne be­hand­schuh­te Rech­te, ball­te sie zur Faust zu­sam­men, stampf­te mit dem Fuße und sag­te so hef­tig: »Still!«, dass sie ein­ge­schüch­tert still­schwieg.

»Sie wis­sen nicht«, sag­te er, »wer ich bin und was ich bin. Ich wer­de es Ih­nen zei­gen! Beim Him­mel, ich wer­de es Ih­nen zei­gen!« Dann strich er mit der Hand­flä­che über das Ge­sicht und zog die Hand wie­der zu­rück. In der Mit­te sei­nes Ge­sich­tes zeig­te sich eine schwar­ze Höh­lung. »Hier«, sag­te er. Er tat einen Schritt nach vor­wärts und hän­dig­te Mrs. Hall et­was ein, was sie, auf sein ver­wan­del­tes Ge­sicht star­rend, me­cha­nisch fest­hielt. Dann, als sie sah, was es war, kreisch­te sie laut auf, warf es weg und wich zu­rück. Eine Nase aus Pap­pe – es war des Frem­den Nase, rot und glän­zend – roll­te mit hoh­lem Ton auf die Die­le. Dann nahm er die Bril­le ab und die Leu­te in der Schank­stu­be hiel­ten den Atem an.

Er nahm den Hut ab und riss mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung an sei­nem Bart und Ver­band. Ei­nen Au­gen­blick lang wi­der­stan­den sie ihm. Eine schreck­li­che Ah­nung durch­blitz­te die Um­ste­hen­den. »O, mein Gott.« sag­te je­mand. Dann flo­gen Bart und Ver­band da­von.

Das war ent­setz­li­cher als al­les. Mrs. Hall, die mit of­fe­nem Mund, wie ver­stei­nert, da­stand, schrie laut auf und floh durch die Tür. Eine Be­we­gung ging durch die Men­ge. Man war auf Wun­den, Ent­stel­lun­gen, den An­blick von et­was Schreck­li­chem ge­fasst: aber – nichts. Der Ver­band und das falsche Haar flo­gen durch den Gang in die Schank­stu­be, und ei­ner der jun­gen Bur­schen sprang bei­sei­te, um ih­nen aus­zu­wei­chen. Ei­ner stol­per­te über den an­de­ren auf den Stu­fen. Denn der Mensch, der dort stand und un­zu­sam­men­hän­gen­de Er­klä­run­gen in die Luft schrie, war eine greif­ba­re, ges­ti­ku­lie­ren­de Ge­stalt, bis zum Rock­kra­gen hin­auf. Und dar­über hin nichts – das Nichts!

 

Die Leu­te im Dor­fe hör­ten Lärm und Angst­ru­fe, und als sie die Stra­ße hin­aufsa­hen, be­merk­ten sie, wie aus dem »Fuhr­mann« die Men­schen hin­aus­stürz­ten. Sie sa­hen Mrs. Hall zu Bo­den fal­len und Mr. Ted­dy Hen­frey bei­sei­te sprin­gen, um nicht über sie zu stol­pern. Dann hör­ten sie das ent­setz­li­che Ge­schrei Mil­lies, wel­che wäh­rend des Tu­mults her­bei­ge­eilt und des kopf­lo­sen Frem­den von rück­wärts an­sich­tig ge­wor­den war. Dann wur­de es plötz­lich to­ten­still.

Al­les wälz­te sich auf die Stra­ße her­auf, der Zucker­bä­cker, der Schieß­bu­den­be­sit­zer mit sei­nem Ge­hil­fen, der Mann von der Schau­kel, klei­ne Kna­ben und Mäd­chen, fei­er­täg­lich ge­klei­de­te Bur­schen, hüb­sche Bau­ern­dir­nen, her­aus­ge­putz­te ält­li­che Jung­fern, die Zi­geu­ne­rin­nen – und lief dem Wirts­hau­se zu. In wun­der­bar kur­z­er Zeit wog­te ein Hau­fen von etwa vier­zig Leu­ten, der sich un­un­ter­bro­chen ver­grö­ßer­te, vor dem »Fuhr­mann« hin und her und schrie und frag­te und stell­te alle mög­li­chen Ver­mu­tun­gen an. Alle woll­ten auf ein­mal spre­chen, so­dass ein wah­res Ba­bel ent­stand. Eine klei­ne Grup­pe nahm sich Mrs. Halls an, wel­che in halb ohn­mäch­ti­gem Zu­stand her­aus­ge­bracht wor­den war. Mit­ten in der Ver­wir­rung wur­den die un­glaub­li­chen An­ga­ben ei­nes wort­rei­chen Au­gen­zeu­gen laut: »O Gott! Was hat er denn ei­gent­lich ge­tan? Hat er das Mäd­chen an­ge­fal­len?« »Mit dem Mes­ser ist er auf sie los­ge­gan­gen, glau­be ich.« »Er ist kopf­los, sag’ ich euch, das ist kei­ne Re­dens­art, ich mei­ne: ein Mann ohne Kopf!« »Un­sinn! Es ist ir­gend­ei­ne Ta­schen­spie­le­rei! Er hat die Klei­der ab­ge­wor­fen –«

In dem Be­stre­ben, durch die of­fe­ne Tür zu bli­cken, keil­te sich die Men­ge zu­sam­men, wo­bei die Wag­hal­sigs­ten dem Wirts­hau­se zu­nächst zu ste­hen ka­men. »Er stand einen Au­gen­blick still, ich hör­te das Mäd­chen auf­schrei­en, dann wand­te er sich um. Ich sah ihre Rö­cke flie­gen, als er ihr nach­eil­te. Kei­ne zehn Se­kun­den dau­er­te es. Mit ei­nem Mes­ser und ei­nem Laib Brot in der Hand kam er zu­rück, ge­ra­de als ob er halb ver­hun­gert wäre. Es ist noch kei­ne Mi­nu­te her. In die­se Tür ging er hin­ein. Ich sage euch, er hat über­haupt kei­nen Kopf –«

Von rück­wärts kam Be­we­gung in die dicht­ge­dräng­te Men­ge. Der Red­ner brach ab, um einen klei­nen Zug vor­bei­zu­las­sen, der sehr ent­schlos­sen auf das Haus zu­ging. Voran schritt Mr. Hall, mit ge­röte­tem Ge­sicht und sehr ent­schlos­se­ner Mie­ne, dann Mr. Bob­by Jaf­fers, der Dorf­gen­darm, und zu­letzt der so vor­sich­ti­ge Mr. Wad­gers. Sie ka­men mit ei­nem Ver­haf­tungs­be­fehl aus­ge­rüs­tet.

Die Leu­te ga­ben ih­nen wi­der­spre­chen­de Be­rich­te über die jüngs­ten Er­eig­nis­se. »Kopf hin, Kopf her«, sag­te Jaf­fers, »ich habe den Auf­trag, ihn zu ver­haf­ten, und ver­haf­ten wer­de ich ihn.«

Mr. Hall stieg die Stu­fen hin­auf, di­rekt auf die Tür des Gast­zim­mers zu, die er of­fen fand. »Herr Gen­darm«, sag­te er, »tun Sie Ihre Pf­licht.«

Jaf­fers ging vor­an, Hall folg­te, Wad­gers be­schloss den Zug. In dem spär­li­chen Licht sa­hen sie sich der kopf­lo­sen Ge­stalt ge­gen­über, die eine Brot­krus­te in der einen, den Rest ei­nes Stückes Käse in der an­de­ren be­klei­de­ten Hand hielt.

»Da ist er«, sag­te Hall.

»Was zum Teu­fel ist das?«, klang es in är­ger­li­chem Tone aus dem Rock­kra­gen der Ge­stalt her­aus.

»Sie sind ein ver­dammt merk­wür­di­ger Kun­de, Herr«, sag­te Jaf­fers. »Aber mit oder ohne Kopf, der Ver­haft­be­fehl sagt ›Per­son‹, und Pf­licht ist Pf­licht.«

»Drei Schritt vom Lei­be!«, sag­te die Ge­stalt, zu­rück­wei­chend.

Plötz­lich warf er Brot und Käse zu Bo­den und Hall er­griff das Mes­ser auf dem Tisch nur eben noch recht­zei­tig, um ihm zu­vor­zu­kom­men. Den lin­ken Hand­schuh schleu­der­te der Frem­de in Jaf­fers Ge­sicht. Der letz­te­re hielt so­fort in sei­nen Er­klä­run­gen be­züg­lich des Ver­haft­be­fehls inne, pack­te den Frem­den im nächs­ten Mo­ment beim hand­lo­sen Arm­ge­lenk und um­klam­mer­te sei­ne un­sicht­ba­re Keh­le. Er be­kam einen hef­ti­gen Stoß ans Schien­bein, der ihn auf­schrei­en ließ, aber er lo­cker­te sei­nen Griff nicht. Hall ließ das Mes­ser längs des Ti­sches zu Wad­gers hin­über­glei­ten, der so­zu­sa­gen den Mal­wär­ter der an­grei­fen­den Par­tei re­prä­sen­tier­te, und tat dann einen Schritt nach vor­wärts, ge­ra­de als Jaf­fers und der Frem­de im Ring­kampf auf ihn zu­ka­men. Ein Stuhl stand im Wege und wur­de ge­räusch­voll zur Sei­te ge­schleu­dert, als die bei­den zu Bo­den stürz­ten.

»Packt sei­ne Füße«, sag­te Jaf­fers zwi­schen den Zäh­nen durch.

Mr. Hall, der die­ser Wei­sung so­gleich nach­zu­kom­men ver­such­te, be­kam einen hef­ti­gen Stoß zwi­schen die Rip­pen, der ihn für kur­ze Zeit kampf­un­fä­hig mach­te. Und Mr. Wad­gers zog sich, als er sah, dass der kopf­lo­se Frem­de die Ober­hand über Jaf­fers ge­won­nen hat­te, mit dem Mes­ser in der Hand ge­gen die Tür zu­rück, wo er auf Mr. Hux­ter und den Fuhr­mann aus Si­der­bridge stieß, die dem Ge­setz und der staat­li­chen Ord­nung zu Hil­fe kom­men woll­ten. Im sel­ben Au­gen­blick wur­den drei oder vier Fla­schen vom Wä­sche­schrank her­ab­ge­schleu­dert und ver­brei­te­ten einen ste­chen­den Ge­ruch im Zim­mer.

»Ich will mich er­ge­ben!«, rief der Frem­de, ob­gleich er Jaf­fers un­ter sich hat­te. Im nächs­ten Au­gen­blick stand er keu­chend auf, eine selt­sa­me Ge­stalt ohne Kopf und ohne Hän­de, denn er hat­te jetzt auch den rech­ten Hand­schuh ab­ge­zo­gen. »Es hilft nichts«, sag­te er, wie nach Atem rin­gend.

Es war die son­der­bars­te Sa­che der Welt, die­se Stim­me aus der Luft kom­men zu hö­ren; aber die Bau­ern in Sus­sex zäh­len zu den tro­ckens­ten Ver­stan­des­men­schen un­ter der Son­ne. Jaf­fers er­hob sich und brach­te ein paar Hand­schel­len zum Vor­schein. Dann hielt er ver­dutzt inne.

»Zum Kuckuck!«, rief er, als ihm die gan­ze Un­ge­reimt­heit der Si­tua­ti­on nach und nach zum Be­wusst­sein kam. »Ver­dammt! Die Hand­schel­len sind nutz­los, wie ich sehe.«

Der Frem­de ließ den Arm längs sei­ner Wes­te her­ab­glei­ten, und wie durch ein Wun­der lös­ten sich die Knöp­fe, auf wel­che sein lee­rer Är­mel deu­te­te. Dann sag­te er et­was von sei­nem Schien­bein und beug­te sich nie­der. Er schi­en an sei­nen Schu­hen und So­cken zu zer­ren.

»Oh!«, rief Hux­ter plötz­lich, »das ist ja gar kein Mensch, das sind lee­re Klei­der. Man kann in sei­nen Kra­gen und das Rock­fut­ter hin­ein­se­hen. Ich könn­te mei­nen Arm – – –«

Er streck­te die Hand aus; sie schi­en mit­ten in der Luft auf et­was zu sto­ßen und er zog sie mit ei­nem Ruf des Er­stau­nens zu­rück. »Ich woll­te, Sie lie­ßen mein Auge in Ruhe«, rief die Stim­me in der Luft wü­tend. »Tat­sa­che ist, dass ich ganz hier bin – Kopf, Hän­de, Bei­ne und al­les üb­ri­ge. Nur bin ich un­sicht­bar. Es ist ver­dammt un­an­ge­nehm, aber es ist so. Ist das ein Grund, um mich von je­dem dum­men Lüm­mel in Iping in Stücke schla­gen zu las­sen?«

Die Klei­dungs­stücke, die jetzt alle auf­ge­knöpft und lose an dem un­sicht­ba­ren Halt hin­gen, stan­den auf, die Arme in die Sei­ten ge­stemmt.

Meh­re­re an­de­re Män­ner wa­ren in­zwi­schen ins Zim­mer ge­kom­men, so­dass es dicht be­setzt war. »Un­sicht­bar, so?«, sag­te Hux­ter, ohne des Frem­den Schimp­fen zu be­ach­ten. »Wer hat je et­was der­glei­chen ge­hört?«