H. G. Wells – Gesammelte Werke

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II. Der fallende Stern



Dann kam die Nacht des ers­ten fal­len­den Sterns. Er war früh am Mor­gen ge­se­hen wor­den, wie er über Win­che­s­ter hin ost­wärts schoss, eine Flam­men­li­nie, hoch in der At­mo­sphä­re. Hun­der­te müs­sen ihn ge­se­hen und für eine ge­wöhn­li­che Stern­schnup­pe ge­hal­ten ha­ben. Al­bin be­schrieb ihn und er­wähn­te, wie er einen grün­li­chen Strich hin­ter sich ließ, der ei­ni­ge Se­kun­den noch glüh­te. Den­ning, un­se­re größ­te Au­to­ri­tät für Me­teo­ri­ten, stell­te fest, dass die Höhe sei­ner ers­ten Er­schei­nung un­ge­fähr 90 oder 100 Mei­len be­trug. Er glaub­te, dass er un­ge­fähr 100 Mei­len öst­lich von ihm zur Erde ge­fal­len sei.



Ich be­fand mich da­mals ge­ra­de zu Hau­se, und schrieb in mei­nem Stu­dier­zim­mer. Und ob­wohl mei­ne Flü­gel­fens­ter ge­gen Ot­ters­haw blick­ten und die Vor­hän­ge auf­ge­zo­gen wa­ren (in je­nen Ta­gen lieb­te ich es, den nächt­li­chen Him­mel zu be­trach­ten), sah ich doch nichts da­von. Und doch muss die­ses selt­sams­te al­ler Din­ge, das je aus frem­den Sphä­ren auf die Erde fiel, ge­ra­de nie­der­ge­gan­gen sein, wäh­rend ich dort saß. Und hät­te ich auf­ge­blickt, wäh­rend es vor­beiflog, hät­te es mir nicht ent­ge­hen kön­nen. Man­che von den Leu­ten, die es sa­hen, be­haup­ten, dass sein Flug von ei­nem zi­schen­den Geräusch be­glei­tet war. Ich selbst ver­nahm nichts. Vie­le Leu­te in Berks­hi­re, Sur­rey und Midd­le­sex müs­sen es fal­len ge­se­hen ha­ben, dach­ten aber höchs­tens, dass wie­der ein Me­teo­rit ge­fal­len sei. Nie­mand scheint sich in je­ner Nacht die Mühe ge­nom­men zu ha­ben, nach der ge­fal­le­nen Mas­se zu su­chen.



Sehr früh am Mor­gen des nächs­ten Ta­ges er­hob sich der arme Ogil­vy, der die Stern­schnup­pe ge­se­hen hat­te. Er war über­zeugt, dass ir­gend­wo auf der Ge­mein­de­wei­de zwi­schen Hor­sell, Ot­ters­haw und Wo­king ein Me­teo­rit lie­gen muss­te, und ging fort in der Ab­sicht, ihn zu su­chen. Wirk­lich fand er ihn, bald nach der Däm­me­rung, und nicht weit von den Sand­gru­ben. Durch den Ein­bruch des Pro­jek­tils war eine un­ge­heu­re Höh­lung ent­stan­den. Sand und Kie­sel wa­ren mit großer Wucht in je­der Rich­tung der Hei­de zer­sto­ben und hat­ten Hau­fen ge­bil­det, die an­dert­halb Mei­len weit sicht­bar wa­ren. Öst­lich stand das Hei­de­kraut in Feu­er, und ein dün­ner, blau­er Rauch stieg in der Däm­me­rung auf.



Das Ding selbst lag fast ganz in Sand be­gra­ben, zwi­schen den ver­streu­ten Sp­lit­tern eine Kie­fer, die es im Nie­der­sau­sen zer­schmet­tert hat­te. Der frei­lie­gen­de Teil hat­te das Aus­se­hen ei­nes rie­si­gen Zy­lin­ders, der voll­stän­dig von ei­ner di­cken, schup­pi­gen, dun­kel­brau­nen Krus­te be­deckt war, die sei­ne Li­ni­en ver­wisch­te. Er hat­te einen Durch­mes­ser von un­ge­fähr drei­ßig Yard.

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 Ogil­vy trat an die Mas­se her­an, aufs Höchs­te über­rascht von ih­rer Grö­ße und mehr noch von ih­rer Ge­stal­tung, da die meis­ten Me­teo­ri­ten mehr oder we­ni­ger ab­ge­run­det sind. Von sei­nem Flu­ge durch die Luft war der Kör­per aber noch so heiß, dass es ihm un­mög­lich war, nä­her her­an­zu­kom­men. Ein sur­ren­des Geräusch im In­nern des Zy­lin­ders schrieb er der un­gleich­mä­ßi­gen Ab­küh­lung sei­ner Ober­flä­che zu; denn es war ihm da­mals noch nicht der Ge­dan­ke ge­kom­men, dass der Zy­lin­der hohl sein kön­ne.



Er blieb am Ran­de der Höh­le ste­hen, die der Kör­per sich selbst ge­gra­ben hat­te, und starr­te die selt­sa­me Er­schei­nung an, vor al­lem ver­blüfft über das Un­ge­wöhn­li­che der Ge­stalt und Far­be. Der Ge­dan­ke an et­was wie eine Ab­sicht in sei­nem Er­schei­nen däm­mer­te schon da­mals lei­se in ihm auf. Der frü­he Mor­gen war wun­der­bar still, und die Son­ne, die ge­ra­de auf die Fich­ten ge­gen Wey­bridge zu schi­en, war schon warm. Er er­in­ner­te sich nicht, an je­nem Mor­gen Vö­gel ge­hört zu ha­ben, kein Lüft­chen reg­te sich. Der ein­zi­ge Laut wa­ren die schwa­chen Be­we­gun­gen aus dem In­nern des glim­men­den Zy­lin­ders.



Ganz al­lein war er auf der Hei­de. Da be­merk­te er, un­will­kür­lich zu­rück­schre­ckend, plötz­lich, wie ein Stück der grau­en Schla­cke, der aschen­ar­ti­gen Krus­te, die den Me­teo­rit be­deck­te, sich von der kreis­run­den Kan­te des En­des los­lös­te. Sie fiel in Flo­cken ab und er­goss sich auf den Sand. Ein großes Stück sprang so plötz­lich ab und fiel mit ei­nem so schar­fen Klang zur Erde, dass sein Herz fast still­stand.



Eine Mi­nu­te lang konn­te er es kaum fas­sen, was das zu be­deu­ten hat­te. Und ob­wohl die Hit­ze über­mä­ßig groß war, klet­ter­te er in die Höh­le hin­ab dicht an den Klum­pen her­an, um ihn nä­her zu be­trach­ten. Selbst dann noch glaub­te er, dass die­se Ab­schä­lung sich durch die Ab­küh­lung des Kör­pers er­klä­ren las­se. Was aber mit die­ser An­nah­me sich nicht ver­ei­nen ließ, war die Tat­sa­che, dass die Asche nur von dem Ende des Zy­lin­ders ab­fiel.



Da be­merk­te er, dass der kreis­för­mi­ge Schluss­teil des Zy­lin­ders sich sehr lang­sam um sei­ne Ach­se dreh­te. Es war eine so all­mäh­li­che Be­we­gung, dass er sie nur dar­an er­kann­te, dass ein schwar­zer Strich, der noch vor fünf Mi­nu­ten in sei­ner Nähe sicht­bar war, jetzt auf der an­de­ren Sei­te der Schei­be sich fand. Selbst jetzt ver­stand er kaum, was das zu be­deu­ten hat­te, als er einen ge­dämpf­ten krat­zen­den Laut hör­te und zu­gleich sah, wie der schwar­ze Strich sich um etwa einen Zoll vor­wärts be­weg­te. Da kam es über ihn wie ein Blitz. Der Zy­lin­der war künst­lich — hohl — mit ei­nem Ende, das sich ab­schraub­te! Et­was im In­nern des Zy­lin­ders schraub­te den Schluss­teil ab!



»Gro­ßer Gott!«, rief Ogil­vy, »da ist ein Mensch drin­nen — Men­schen sind drin­nen! Halb zu Tode ge­rös­tet! Die zu ent­rin­nen su­chen!«



Und auf ein­mal, mit ei­nem ra­schen Ge­dan­ken­sprung, ver­band er die Er­schei­nung mit dem Licht­blitz auf dem Mars. Der Ge­dan­ke an das ein­ge­schlos­se­ne Ge­schöpf war ihm so furcht­bar, dass er die Hit­ze ver­gaß und an den Zy­lin­der her­ab­stürz­te, um die Dre­hung zu be­schleu­ni­gen. Zum Glück aber hielt ihn die lang­sa­me Auss­trah­lung zu­rück, sich an dem noch glü­hen­den Me­tall die Hän­de zu ver­bren­nen. Ei­nen Au­gen­blick stand er un­schlüs­sig da, dann wand­te er sich um, klet­ter­te aus der Höh­le her­aus, und lief Hals über Kopf nach Wo­king. Es moch­te da­mals etwa sechs Uhr ge­we­sen sein. Er be­geg­ne­te ei­nem Fuhr­mann und ver­such­te, ihm sein Er­leb­nis be­greif­lich zu ma­chen. Aber was er be­rich­te­te, dazu sein Auf­zug, das war al­les so wüst — sei­nen Hut hat­te er in der Höh­le ver­lo­ren — dass der Mann ein­fach wei­ter­fuhr. Ganz den­sel­ben Mis­ser­folg hat­te er bei ei­nem Wirt in der Nähe der Hor­sell-Brücke, der eben die Türe sei­ner Schen­ke auf­schloss. Der Mann hielt ihn für einen ent­sprun­ge­nen Irr­sin­ni­gen und mach­te einen er­folg­lo­sen Ver­such, ihn in der Schank­stu­be ein­zu­schlie­ßen. Das er­nüch­ter­te ihn ein we­nig, und als er Hen­der­son, den Lon­do­ner Jour­na­lis­ten, in sei­nem Gar­ten sah, rief er ihn an den Gar­ten­zaun her­an und ver­such­te nun, sich ver­ständ­lich zu ma­chen.



»Hen­der­son«, rief er, »Sie ha­ben wohl die Stern­schnup­pe vo­ri­ge Nacht ge­se­hen?«



»Nun?«, sag­te Hen­der­son.



»Sie liegt jetzt drau­ßen aus der Hor­sell-Wei­de.«



»Don­ner­wet­ter!«, rief Hen­der­son, »ein ge­fal­le­ner Me­teor­stein! Nicht übel!«



»Aber es ist et­was mehr als ein Me­teor­stein. Es ist ein Zy­lin­der – ein künst­li­cher Zy­lin­der, Mann! Und es ist et­was drin­nen im Zy­lin­der.«



Hen­der­son, den Spa­ten in der Hand, neig­te sich et­was vor.



»Was sa­gen Sie da?«, frag­te er. Er ist auf ei­nem Ohr taub.



Ogil­vy teil­te ihm nun al­les, was er ge­se­hen hat­te, mit. Hen­der­son be­durf­te etwa ei­ner Mi­nu­te, um es zu er­fas­sen. Dann ließ er sei­nen Spa­ten fal­len, griff nach sei­nem Rock und kam auf die Stra­ße hin­aus. Bei­de eil­ten nun so­fort auf die Wei­de zu­rück und fan­den den Zy­lin­der noch in der­sel­ben Lage. Das Geräusch in sei­nem In­nern aber hat­te auf­ge­hört, und ein schma­ler Reif glän­zen­den Me­talls zeig­te sich zwi­schen dem Schluss­teil und dem Kör­per des Zy­lin­ders. An die­ser Stel­le drang die Luft mit ei­nem schwa­chen zi­schen­den Laut ent­we­der hin­ein oder her­aus.



Die Män­ner lausch­ten, dann schlu­gen sie mit dem Stock auf den Schup­pen­pan­zer. Da kei­ne Ant­wort kam, schlos­sen sie bei­de, dass der Mensch oder die Leu­te im In­nern be­wusst­los oder tot sei­en.



Bei­de wa­ren na­tür­lich au­ßer­stan­de, et­was zu tun. Sie schri­en den Ein­ge­schlos­se­nen ei­ni­ge trös­ten­de Wor­te und Ver­spre­chun­gen zu und kehr­ten zur Stadt zu­rück, um Hil­fe zu ho­len. Es lässt sich den­ken, wie sie aus­sa­hen, be­deckt mit Staub, ver­stört und un­or­dent­lich, wie sie im hel­len Son­nen­licht die klei­ne Stra­ße ent­lang eil­ten, ge­ra­de als die La­den­be­sit­zer ihre Tü­ren auf­schlos­sen, und die Leu­te ihre Schlaf­zim­mer­fens­ter öff­ne­ten. Hen­der­son eil­te so­fort ins Sta­ti­ons­ge­bäu­de, um die Nach­richt nach Lon­don zu te­le­gra­fie­ren. Die Zei­tungs­ar­ti­kel hat­ten die Leu­te schon vor­be­rei­tet und sie für die­se Nach­richt emp­fäng­lich ge­macht.



Um acht Uhr war schon eine An­zahl Kna­ben und un­be­schäf­tig­ter Leu­te nach der Wei­de auf­ge­bro­chen, um »die to­ten Män­ner des Mars« zu be­sich­ti­gen. Das war die Form, in der die Nach­richt sich ver­brei­te­te. Ich hör­te zu­erst da­von durch mei­nen Zei­tungs­jun­gen, als ich aus­ging, um mir mei­nen »Dai­ly Chro­nic­le« zu ho­len. Ich war na­tür­lich aufs Äu­ßers­te über­rascht und ver­lor kei­nen Au­gen­blick, fort­zu­ei­len, um mich über die Brücke von Ot­ters­haw nach dem Sand­hü­gel zu be­ge­ben.



1 1 engl. Yard -- 91 Zen­ti­me­ter.

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III. Auf der Horsell-Weide



Ich fand eine klei­ne An­samm­lung von etwa zwan­zig Per­so­nen, die sich um die Höh­le schar­ten, in der der Zy­lin­der lag. Die Ge­stalt des un­ge­heu­ren in der Erde ge­bet­te­ten Kör­pers habe ich be­reits be­schrie­ben. Die auf­ge­wor­fe­ne Erde und die Sand­mas­sen schie­nen wie durch einen Zünd­schlag an­ge­häuft zu sein. Ohne Zwei­fel hat­te das Ein­schla­gen des Kör­pers eine Flam­men­bil­dung ver­ur­sacht. Hen­der­son und Ogil­vy wa­ren nicht dort. Ich ver­mu­te, dass sie nicht wuss­ten, was sie für den Au­gen­blick be­gin­nen soll­ten, und dass sie sich zu Hen­der­son be­ga­ben, um zu früh­stücken.



Vier oder fünf Kna­ben hat­ten sich an den Rand der Höh­le ge­setzt, schlen­ker­ten mit den Bei­nen und un­ter­hiel­ten sich da­mit, den rie­si­gen Bau mit Stei­nen zu be­wer­fen, bis ich ih­nen das Hand­werk leg­te. Nach­dem ich mit ih­nen dar­über ge­spro­chen hat­te, be­gan­nen sie um die Grup­pe der Um­ste­hen­den her­um ein Fang­spiel.



Un­ter den Leu­ten be­merk­te ich zwei Rad­fah­rer, einen Gar­ten­ar­bei­ter, den ich zu­wei­len be­schäf­tig­te, den Flei­scher Gregg und sei­nen klei­nen Sohn, ein Mäd­chen, das ein Kind trug, und zwei oder drei Mü­ßig­gän­ger und Ecken­ste­her, die ge­wöhn­lich in der Nähe des Bahn­hofs um­her­lun­ger­ten. Es wur­de sehr we­nig ge­spro­chen. In den nie­de­ren Stän­den Eng­lands hat­ten nur we­ni­ge Men­schen in je­nen Ta­gen mehr als sehr schwa­che astro­no­mi­sche Vor­stel­lun­gen. Die Meis­ten starr­ten nur schwei­gend das große tischar­ti­ge Ende des Zy­lin­ders an, das noch ge­nau so war, wie es Hen­der­son und Ogil­vy ver­las­sen hat­ten. Ich glau­be, dass die all­ge­mei­ne Er­war­tung der Leu­te, einen Hau­fen ver­kohl­ter Lei­chen zu fin­den, beim An­blick die­ser un­be­leb­ten Mas­se et­was ent­täuscht wur­de. Ei­ni­ge Per­so­nen gin­gen fort, wäh­rend ich dort war. An­de­re ka­men. Ich klet­ter­te in die Gru­be und es war mir, als hör­te ich un­ter mei­nen Fü­ßen eine schwa­che Be­we­gung. Der Ver­schluss hat­te of­fen­bar auf­ge­hört sich zu dre­hen.



Erst als ich ganz nahe an den Kör­per her­an­ge­tre­ten war, sprang mir die Fremd­ar­tig­keit sei­ner Er­schei­nung in die Au­gen. Auf den ers­ten Blick hat­te er wirk­lich nichts Auf­fal­len­de­res an sich, als ein um­ge­wor­fe­ner Wa­gen oder ein ge­fäll­ter Baum, der den Weg ver­sperrt. Al­ler­dings nicht ganz so. Mehr als ir­gen­det­was an­de­rem glich er ei­nem ros­ti­gen halb­ver­gra­be­nen Gas­rohr. Es be­durf­te ei­ner ge­wis­sen Sum­me wis­sen­schaft­li­cher Bil­dung, um zu be­mer­ken, dass die graue Krus­te auf dem Kör­per kein ge­wöhn­li­ches Oxid war, dass das gelb­lich-wei­ße Me­tall, das auf der Spal­te zwi­schen dem De­ckel und dem Zy­lin­der glänz­te, einen fremd­ar­ti­gen Far­ben­ton be­saß. Der Be­griff »Au­ßer­ir­disch« hat­te für die meis­ten Zuschau­er kei­ne Be­deu­tung.



Da­mals war ich schon fest da­von über­zeugt, dass der Ge­gen­stand vom Pla­ne­ten Mars ge­kom­men war. Aber ich hielt es für un­wahr­schein­lich, dass er le­ben­de We­sen ent­hal­ten wür­de. Ich ver­mu­te­te in der Schrau­ben­be­we­gung eine au­to­ma­ti­sche Tä­tig­keit. Trotz Ogil­vys An­sicht hielt ich an dem Glau­ben fest, dass es Le­be­we­sen auf dem Mars gebe. Von fan­tas­ti­schen Vor­stel­lun­gen er­füllt, be­schäf­tig­te ich mich mit der Mög­lich­keit, dass der Kör­per Hand­schrif­ten ent­hal­ten kön­ne, mal­te ich mir die Schwie­rig­kei­ten aus, die sich bei ih­rer Über­set­zung er­ge­ben wür­de, ob wir Mün­zen und Mo­del­le in ihm fin­den soll­ten, und so fort. Aber das Ding war doch ein we­nig zu groß, um mir die Rich­tig­keit mei­ner Vor­stel­lun­gen zu ver­bür­gen. Ich emp­fand eine leb­haf­te Un­ge­duld, es ge­öff­net zu se­hen. Um elf Uhr etwa, als sich nichts wei­ter er­eig­ne­te, kehr­te ich, voll von sol­chen Ge­dan­ken, nach mei­nem Haus in May­bu­ry zu­rück. Aber es fiel mir schwer, mit mei­ner Ar­beit über ab­strak­te For­de­run­gen wei­ter­zu­kom­men.



Am Nach­mit­tag hat­te sich das Aus­se­hen der Wei­de sehr ver­än­dert. Die frü­hen Aus­ga­ben der Abend­blät­ter hat­ten mit rie­si­gen Auf­schrif­ten:



»Eine Bot­schaft vom Mars.«



»Merk­wür­di­ger Be­richt aus Wo­king.«



und so wei­ter, ganz Lon­don auf­ge­schreckt. Dazu noch Ogil­vys Te­le­gram­me an die astro­no­mi­sche Mit­tei­lungs­sta­ti­on, die alle Stern­war­ten in den drei Kö­nig­rei­chen in Auf­re­gung ver­setzt hat­ten.



Ein hal­b­es Dut­zend oder mehr Flies

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 vom Bahn­hof Wo­king stan­den auf der Stra­ße bei den Sand­hü­geln, dazu ein Korb­wa­gen

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 von Chob­ham und eine ziem­lich vor­nehm aus­se­hen­de Pri­vat­kut­sche. Au­ßer­dem sah man eine Un­zahl von Fahr­rä­dern. Eine große Men­ge von Men­schen muss­te über­dies trotz der Hit­ze je­nes Ta­ges von Wo­king und Chert­sey zu Fuß her­ge­wan­dert sein. Al­les in al­lem eine be­trächt­li­che Men­schen­an­samm­lung — auch ei­ni­ge hell­ge­klei­de­te Da­men.



Es war glü­hend heiß, nicht ein Wölk­chen am Him­mel, kein Lüft­chen weh­te, ei­ni­ge ver­ein­zelt ste­hen­de Fich­ten spen­de­ten den ein­zi­gen Schat­ten. Das bren­nen­de Hei­de­kraut war end­lich er­lo­schen, aber die Ebe­ne ge­gen Ot­ters­haw zu war ge­schwärzt, so­weit das Auge reich­te, und senk­rech­te Rauch­säu­len stie­gen im­mer noch auf. Ein Obst­händ­ler in der Chob­ham Road hat­te sei­nen Sohn mit ei­ner Wa­gen­la­dung grü­ner Äp­fel und Ing­wer­bier her­auf­ge­schickt.



Als ich zum Ran­de der Gru­be kam, fand ich sie von ei­ner Grup­pe von Män­nern, etwa ei­nem hal­b­en Dut­zend, be­setzt — Hen­der­son, Ogil­vy und ei­nem großen blond­haa­ri­gen Mann (wie ich spä­ter hör­te, war es Mr. Stent von der kö­nig­li­chen astro­no­mi­schen Ge­sell­schaft) mit ei­ni­gen Ar­bei­tern, die Spa­ten und Bei­le schwan­gen. Stent gab sei­ne Be­feh­le in ei­ner kla­ren, ho­hen Stim­me. Er stand auf dem Zy­lin­der, der jetzt of­fen­bar viel küh­ler war. Sein Ge­sicht war dun­kel­rot und der Schweiß floss ihm in Strö­men her­ab. Es schi­en ihn et­was ir­ri­tiert zu ha­ben.



Ein großer Teil des Zy­lin­ders war nun bloß­ge­legt, ob­wohl das un­te­re Ende noch ein­ge­bet­tet lag. So­bald Ogil­vy mich un­ter dem gaf­fen­den Hau­fen am Ran­de der Gru­be be­merk­te, rief er mir zu hin­ab­zu­kom­men und frag­te mich, ob ich zum Guts­herrn Lord Hil­ton hin­über­ge­hen wol­le.



Die wach­sen­de Men­schen­men­ge, sag­te er, sei ein ernst­li­ches Hin­der­nis, das sich ih­ren Aus­gra­bun­gen ent­ge­gen­stel­le, be­son­ders die Kna­ben. Es müs­se ein leich­tes Ge­län­der auf­ge­stellt wer­den, um die Leu­te zu­rück­zu­drän­gen. Er er­zähl­te mir, dass im In­nern des Kör­pers ge­le­gent­lich noch eine lei­se Be­we­gung wahr­nehm­bar sei, dass es aber den Ar­bei­tern nicht ge­lun­gen wäre, den Schluss­teil ab­zu­schrau­ben, da er ih­nen kei­ne Hand­ha­be bot. Der Kör­per schi­en un­ge­heu­er dick zu sein, und es war mög­lich, dass die schwa­chen Lau­te, die wir ver­nah­men, von ei­nem lär­men­den Tu­mult im In­nern her­rühr­ten.



Ich war mit Freu­den be­reit, sei­nen Wunsch zu er­fül­len, und da­durch ei­ner der be­vor­zug­ten Zuschau­er in­ner­halb der ge­plan­ten Um­zäu­nung zu wer­den. Lei­der traf ich Lord Hil­ton nicht zu Hau­se an, man teil­te mir aber mit, dass er mit dem Sechs-Uhr­zug aus Lon­don er­war­tet wer­de. Da es da­mals un­ge­fähr ein Vier­tel auf sechs war, ging ich noch nach Hau­se, trank Tee, und ging dann zum Bahn­hof, um ihn un­ter­wegs auf­zu­hal­ten.



1 klei­ne ein­spän­ni­ge Miet-Eil­wa­gen

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2 ein­ach­si­ge Kut­sche; Sul­ky

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IV. Das Öffnen des Zylinders



Als ich auf die Wei­de zu­rück­kehr­te, war die Son­ne im Sin­ken. Zer­streu­te Grup­pen Neu­gie­ri­ger eil­ten aus der Rich­tung von Wo­king her­an, und ei­ni­ge Leu­te kehr­ten zu­rück. Die Men­ge um die Gru­be war an­ge­wach­sen und hob sich schwarz von dem Zitro­nen­gelb des Him­mels ab. Es moch­ten etwa zwei­hun­dert Per­so­nen ge­we­sen sein. Ei­ni­ge lau­te Stim­men wa­ren ver­nehm­bar und eine Art Kampf schi­en sich bei der Gru­be ent­s­pon­nen zu ha­ben. Die selt­sams­ten Vor­stel­lun­gen kreuz­ten sich in mei­nem Kopf. Als ich nä­her­kam, hör­te ich Stents Stim­me.



»Zu­rück! Zu­rück!«



Ein Kna­be kam auf mich zu ge­lau­fen.



»Es be­wegt sich!«, rief er mir im Vor­über­ei­len zu — »es dreht sich, und dreht sich auf. Das ge­fällt mir nicht. Da gehe ich lie­ber nach Hau­se!«



Ich kam nä­her zur Men­ge her­an. Es moch­ten in Wirk­lich­keit zwei- bis drei­hun­dert Leu­te ge­we­sen sein, die sich ge­gen­sei­tig puff­ten und stie­ßen. Je­der such­te, sich vor­zu­schie­ben und die an­de­ren zu­rück­zu­drän­gen. Die paar Da­men, die zu­ge­gen wa­ren, blie­ben da­bei nicht am we­nigs­ten zu­rück.



»Er ist in die Gru­be ge­fal­len!«, rief ei­ner.



»Zu­rück!«, schri­en an­de­re.



Der Hau­fe schwank­te ein we­nig, und ich ar­bei­te­te mich mit den Ell­bo­gen durch. Alle schie­nen in höchs­ter Auf­re­gung zu sein. Aus der Gru­be her­aus scholl ein ei­gen­tüm­li­ches sum­men­des Geräusch.



»Ich bit­te Sie!«,rief Ogil­vy, »hel­fen Sie mir, die­se Nar­ren zu­rück­zu­drän­gen. Wir wis­sen ja noch nicht, was in die­sem ver­wünsch­ten Ding steckt!«



Ich sah einen jun­gen Mann (ich glau­be, es war ein Kom­mis aus Wo­king), auf dem Zy­lin­der ste­hen und sich be­mü­hen, wie­der aus der Höh­le her­aus­zu­krie­chen. Die Men­ge hat­te ihn hin­ein­ge­sto­ßen.



Der Schluss­teil des Zy­lin­ders war von in­nen her­aus auf­ge­schraubt wor­den. Schon wa­ren na­he­zu zwei Fuß der glän­zen­den Schrau­be sicht­bar. Je­mand stieß mich un­ver­se­hens von rück­wärts, und ich ent­ging nur mit knap­per Not der Ge­fahr, auf das Schrau­be­nen­de zu stür­zen. Ich wand­te mich um, und in die­sem Au­gen­blick muss die Schrau­be her­aus­ge­kom­men sein. Der De­ckel des Zy­lin­ders schlug in hef­ti­ger Er­schüt­te­rung auf den Kie­sel­bo­den auf. Ich stieß mei­ne Ell­bo­gen ge­gen die mich von hin­ten drän­gen­de Men­ge und wand­te mich neu­er­dings dem Ko­loss zu. Ei­nen Au­gen­blick lang schi­en die kreis­run­de Öff­nung völ­lig schwarz. Der Glanz der sin­ken­den Son­ne blen­de­te mei­ne Au­gen.



Ich glau­be, je­der­mann er­war­te­te, einen Men­schen auf­tau­chen zu se­hen — wahr­schein­lich ein Ge­schöpf, das sich ein we­nig von uns ir­di­schen Men­schen un­ter­schei­den wür­de, aber im We­sent­li­chen doch einen Men­schen. Ich we­nigs­tens er­war­te­te es. Aber als ich ge­nau­er hin­sah, be­merk­te ich plötz­lich, wie sich im Schat­ten et­was rühr­te, grau, in wel­len­för­mi­gen Be­we­gun­gen, ei­nes über dem an­de­ren. Und dann ge­wahr­te ich zwei glü­hen­de Schei­ben wie Au­gen. Dann lös­te sich et­was, das ei­ner klei­nen grau­en Schlan­ge glich, etwa in der Stär­ke ei­nes Spa­zier­stockes, aus der sich win­den­den Mas­se los und schlän­gel­te sich in der Luft ge­gen mich — und dann ein zwei­tes.



Mich durch­frös­tel­te es plötz­lich. Hin­ter mir hör­te ich eine Frau laut krei­schen. Ich dreh­te mich halb um, mei­ne Bli­cke un­ver­wandt auf den Zy­lin­der ge­hef­tet, aus dem im­mer neue Fühl­hör­ner sich her­aus­wan­den. Dann be­gann ich mir mei­nen Weg vom Ran­de der Gru­be zu­rück­zu­bah­nen. Ich sah, wie sich das Er­stau­nen in den Ge­sich­tern der Leu­te in Ent­set­zen ver­wan­del­te. Von al­len Sei­ten hör­te ich wil­de Schreie und Aus­ru­fe. Ein all­ge­mei­nes Zu­rück­drän­gen be­gann. Ich sah, wie der Kom­mis noch im­mer sich ab­müh­te, aus der Gru­be her­aus­zu­kom­men. Ich sah mich al­lein, und be­merk­te, wie die Leu­te auf der an­de­ren Sei­te der Gru­be flüch­te­ten, Mr. Stent un­ter ih­nen. Ich wand­te mei­ne Au­gen wie­der dem Zy­lin­der zu, und ein un­bän­di­ger Schre­cken er­griff mich. Wie ver­stei­nert stand ich da und starr­te.



Ein großer grau­er, ge­drun­ge­ner Kör­per, un­ge­fähr von der Grö­ße ei­nes Bä­ren, er­hob sich lang­sam und schwer­fäl­lig aus dem Zy­lin­der. Als er sich auf­rich­te­te und vom Licht be­schie­nen wur­de, glit­zer­te er wie nas­ses Le­der. Mit sei­nen zwei großen dun­kel­ge­färb­ten Au­gen blick­te das Ge­schöpf mich un­ver­wandt an. Es hat­te un­ter den Au­gen einen Mund, des­sen lip­pen­lo­ser Rand un­aus­ge­setzt zit­ter­te und von Spei­chel troff. Der Rumpf hob und senk­te sich un­ter hef­ti­gem Keu­chen. Ein schlan­kes fühl­horn­ar­ti­ges An­häng­sel hielt den Rand des Zy­lin­ders um­klam­mert, ein an­de­res schlän­gel­te sich in der Luft.



Wer nie einen le­ben­den Mars­be­woh­ner ge­se­hen hat, wird sich die grau­en­vol­le Häss­lich­keit sei­ner Er­schei­nung kaum vor­stel­len kön­nen. Der selt­sa­me V-för­mi­ge Mund mit sei­nem zu­ge­spitz­ten obe­ren Rand, der Man­gel an Au­gen­brau­en, die Ab­we­sen­heit ei­nes Kin­nes un­ter dem keil­för­mi­gen, un­te­ren Mun­d­rand, das un­auf­hör­li­che Zit­tern des Mun­des, die gor­go­nen­ar­ti­ge Grup­pe der Fühl­hör­ner, das ge­räusch­vol­le At­men der Lun­gen in ei­ner ih­nen frem­den At­mo­sphä­re, die au­gen­fäl­li­ge Schwer­fäl­lig­keit und Müh­se­lig­keit der Be­we­gun­gen — ohne Zwei­fel eine Fol­ge der grö­ße­ren An­zie­hungs­kraft der Erde — vor al­lem aber die au­ßer­ge­wöhn­li­che In­ten­si­tät ih­rer un­ge­heue­ren Au­gen. Al­les das gip­fel­te für den Be­schau­er in ei­ner Wir­kung, die von der See­krank­heit nicht sehr ver­schie­den war. Es war et­was Schwam­mi­ges in ih­rer öli­gen brau­nen Haut, und in der plum­pen Be­däch­tig­keit ih­rer schwer­fäl­li­gen Be­we­gun­gen lag et­was un­be­schreib­lich Er­schre­cken­des. Schon bei die­ser ers­ten Be­geg­nung, bei die­sem ers­ten An­blick wur­de ich von Ab­scheu und Grau­en über­wäl­tigt.

 



Plötz­lich ver­schwand das Un­ge­tüm. Es war über den Rand des Zy­lin­ders ge­tau­melt und in die Gru­be ge­fal­len, wo es auf­schlug, als fie­le eine große Men­ge Le­ders zur Erde. Ich hör­te es einen selt­sa­men, dump­fen Schrei aus­sto­ßen, und in dem­sel­ben Au­gen­blick er­schi­en ein zwei­tes die­ser Ge­schöp­fe düs­ter in dem tie­fen Schat­ten der Öff­nung.



Bei die­sem An­blick ver­ließ mich die Er­star­rung, die der ers­te Schre­cken her­vor­ge­ru­fen hat­te. Ich kehr­te mich um und rann­te wie be­ses­sen nach der nächs­ten Baum­grup­pe, die etwa hun­dert Yard ent­fernt war. Aber ich lief kreuz und quer und stol­per­te alle Au­gen­bli­cke, denn ich brach­te es nicht über mich, mei­ne Au­gen von je­nen Vor­gän­gen ab­zu­wen­den.



Dort, un­ter ei­ni­gen jun­gen Fich­ten und hin­ter Gins­ter­bü­schen mach­te ich keu­chend Halt, um die wei­te­re Ent­wick­lung der Din­ge ab­zu­war­ten. Die Wei­de rings um die Sand­hü­gel war mit Leu­ten be­sä­et, die wie ich, halb ent­setzt, halb be­zau­bert da­stan­den und auf jene Ge­schöp­fe oder viel­mehr auf die Stein­hau­fen am Ran­de der Gru­be, in der sie la­gen, starr­ten. Dann sah ich, mit er­neu­tem Ent­set­zen, einen r