H. G. Wells – Gesammelte Werke

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Er leb­te noch; sein Lenk­steu­er, scheint es, war un­ver­sehrt und sei­ne Ma­schi­nen ar­bei­te­ten. Er schoss ge­ra­de­aus auf einen zwei­ten Mars­mann los und war noch hun­dert Yard von ihm ent­fernt, als der Hit­ze­strahl sei­ne Wir­kung tat. Mit ei­nem hef­ti­gen Ge­tö­se und un­ter blen­den­den Blit­zen flo­gen sein Ver­deck und sei­ne Schorn­stei­ne in die Luft. Der Mars­mann wank­te bei der Hef­tig­keit des Zünd­schla­ges und im nächs­ten Au­gen­blick schoss das flam­men­de Wrack mit der gan­zen Wucht sei­nes stür­mi­schen Lau­fes vor­wärts, warf den Mars­mann nie­der und zer­malm­te ihn, wie ein Stück­chen Pa­pier. Mein Bru­der schrie un­will­kür­lich auf. Ko­chen­de Dampf­wol­ken hüll­ten al­les wie­der ein.

»Zwei!«, ju­bel­te der Ka­pi­tän.

Je­der­mann jauchz­te und schrie; der gan­ze Damp­fer hall­te von ei­nem Ende bis zum an­de­ren von den wil­den Freu­den­ru­fen wie­der, die zu­erst vom nächs­ten und dann von al­len, den un­zäh­li­gen Boo­ten und Schif­fen auf­ge­nom­men wur­den, die das of­fe­ne Meer zu ge­win­nen such­ten.

Der Dampf hing vie­le Mi­nu­ten hin­durch über dem Was­ser und hüll­te den drit­ten Mars­mann und die Küs­te voll­stän­dig ein. Und wäh­rend die­ser gan­zen Zeit ar­bei­te­te sich das Dampf­boot ste­tig auf die hohe See hin­aus, fort von dem Schau­platz je­ner Schlacht. Und als sich end­lich der Dampf ver­zo­gen hat­te, da tra­ten die trei­ben­den Wol­ken des schwar­zen Rau­ches da­zwi­schen, und vom »Thun­der Child« konn­te nichts mehr ge­se­hen wer­den; auch der drit­te Mars­mann war ver­schwun­den. Aber die Pan­zer­schif­fe, die see­wärts la­ger­ten, wa­ren jetzt ganz nahe und stan­den ge­gen die Küs­te zu­ge­kehrt hin­ter dem Dampf­boot.

Das klei­ne Fahr­zeug fuhr fort, sich sei­nen Weg see­wärts zu er­kämp­fen; die Pan­zer­schif­fe tra­ten lang­sam ge­gen die Küs­te zu­rück, die noch im­mer von der ge­fleck­ten Rauch­wand, halb Dampf, halb schwar­zem Gas, in den aben­teu­er­lichs­ten Ge­stal­ten auf- und nie­der­wal­lend, ein­gehüllt war. Die Flot­te der Flücht­lin­ge zer­streu­te sich nach Nord­os­ten; ei­ni­ge Fi­scher­bar­ken se­gel­ten zwi­schen den Pan­zer­schif­fen und dem Dampf­boot. Nach ei­ni­ger Zeit, be­vor sie den sin­ken­den Wol­ken­zug er­reich­ten, wand­ten sich die Kriegs­schif­fe nach Nor­den und mit ei­ner un­ver­mu­te­ten Schwen­kung ver­schwan­den sie in süd­li­cher Rich­tung, in dem sich im­mer mehr ver­dich­ten­den Abend­ne­bel. Die Küs­te ver­blass­te und ver­schwand end­lich völ­lig in den lan­gen Wol­ken­zü­gen, die sich um die sin­ken­de Son­ne la­ger­ten.

Plötz­lich scholl aus dem gol­de­nen Ne­bel­schlei­er des Son­nen­un­ter­gangs das Ge­tö­se von Ge­schüt­zen; und schwar­ze Schat­ten tauch­ten auf und nie­der. Al­les stürz­te wie­der an das Ge­län­der des Damp­fers und späh­te nach dem blen­den­den Feu­er­herd des Wes­tens; aber es konn­te nichts deut­lich un­ter­schie­den wer­den. Eine Men­ge dich­ten Rau­ches stieg schräg auf und ver­barg das Ant­litz der Son­ne. Das Dampf­boot keuch­te sei­nen Weg wei­ter; und ban­ge Er­war­tung las­te­te auf al­len.

Die Son­ne ver­sank in graue Wol­ken; der Him­mel zuck­te auf und ver­fins­ter­te sich wie­der, und oben zit­ter­te der Abends­tern. Es war schon dunkles Zwie­licht, als der Ka­pi­tän auf­schrie und nach auf­wärts deu­te­te. Mein Bru­der streng­te sei­ne Au­gen an. Aus dem Grau fuhr et­was hoch auf in die Luft, zuck­te in rei­ßen­der Schnel­lig­keit schief hin­über zu dem glän­zen­den Licht über den Wol­ken des west­li­chen Him­mels, ein fla­cher, brei­ter und sehr großer Kör­per; er ras­te in ei­ner un­ge­heu­ren krum­men Li­nie wei­ter, wur­de klei­ner, sank dann lang­sam und ver­schwand end­lich in dem grau­en Ge­heim­nis der Nacht. Und wäh­rend er so hin­flog, er­goss sich die Fins­ter­nis über das Land.

En­de des ers­ten Bu­ches

1 Wört­lich »Don­ner­kind«. Name ei­nes eng­li­schen Kriegs­schif­fes <<<

2 Big Ben <<<

3 Land­spit­ze in Es­sex <<<

4 Seeun­ge­heu­er <<<

Zweites Buch – Das Land unter den Marsleuten

I. Unterwegs

Im ers­ten Buch schweif­te ich so weit von mei­nen ei­ge­nen Aben­teu­ern ab, um die Er­leb­nis­se mei­nes Bru­ders zu be­rich­ten; wäh­rend der Er­eig­nis­se der letz­ten bei­den Ab­schnit­te hiel­ten ich und der Ku­rat uns auf der Lau­er, in dem lee­ren Haus in Hal­li­ford ver­steckt, in das wir uns flüch­te­ten, um dem schwar­zen Rauch zu ent­rin­nen. Hier will ich den Fa­den der Er­zäh­lung wie­der auf­neh­men. Wir blie­ben wäh­rend der gan­zen Nacht des Sonn­tags und den gan­zen nächs­ten Tag — dem Tag der Lon­do­ner Pa­nik — in dem Haus, dem ein­zi­gen Ei­land voll Ta­ges­licht, durch den schwar­zen Rauch von der üb­ri­gen Welt ab­ge­schnit­ten. Wir konn­ten wäh­rend die­ser zwei trost­lo­sen Tage nichts tun, als in schmerz­li­cher Un­tä­tig­keit war­ten.

Mein Ge­müt war von Sor­gen um mei­ne Frau er­füllt. Ich mal­te mir aus, wie sie voll Angst und in Ge­fahr in Lea­ther­head weil­te und mich be­reits als einen To­ten be­klag­te. Ich schritt in den Zim­mern auf und nie­der und wein­te laut bei dem Ge­dan­ken, durch wel­che Ab­grün­de ich von ihr ge­trennt war, wenn ich mir vor­stell­te, was ihr al­les wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit zu­sto­ßen konn­te. Ich wuss­te, mein Vet­ter wür­de je­der ihr dro­hen­den Ge­fahr mu­tig ent­ge­gen­tre­ten, aber er ge­hör­te nicht zu je­ner Gat­tung von Män­nern, wel­che rasch eine Ge­fahr be­grei­fen und sich recht­zei­tig ge­gen sie schüt­zen. Was jetzt not­tat, war nicht Tap­fer­keit, son­dern Um­sicht. Mein ein­zi­ger Trost war die Ver­mu­tung, dass die Mars­leu­te ge­gen Lon­don vor­rück­ten, also fort von Lea­ther­head. Sol­che un­be­stimm­te Angst­ge­füh­le ma­chen die Ge­müts­ver­fas­sung ei­nes Men­schen reiz­bar und lei­dend. Bei den un­aus­ge­setz­ten Kla­ge­ru­fen des Ku­ra­ten wur­de ich är­ger­lich und ge­reizt, und der An­blick sei­ner selbst­süch­ti­gen Verzweif­lung er­mü­de­te mich. Nach ei­ni­gen wir­kungs­lo­sen Vor­stel­lun­gen hielt ich mich ab­seits von ihm, und zog mich in ein Zim­mer zu­rück, das Glo­ben, Schul­bü­cher und Hef­te ent­hielt, also of­fen­bar ein Klas­sen­zim­mer von Kin­dern war. Als er schließ­lich mir auch da­hin folg­te, floh ich in ein Kof­fer­zim­mer auf dem Bo­den des Hau­ses, in dem ich mich ein­schloss, um mit mei­nem na­gen­den Kum­mer al­lein zu sein.

Wir wa­ren durch den schwar­zen Rauch den gan­zen Tag und den Mor­gen des nächs­ten hoff­nungs­los ein­ge­sperrt. Am Sonn­tag­abend wa­ren An­zei­chen wahr­zu­neh­men, dass im Nach­bar­haus noch Leu­te wa­ren — ein Ge­sicht am Fens­ter, hin- und her­fla­ckern­de Lich­ter, und spä­ter das Zu­schla­gen ei­ner Tür. Aber ich weiß nicht, wer die­se Leu­te wa­ren, noch was aus ih­nen wur­de. Am nächs­ten Tag er­blick­ten wir kei­ne Spur mehr von ih­nen. Der schwar­ze Rauch trieb lang­sam dem Fluss zu, den gan­zen Mon­tag­mor­gen hin­durch; er kroch nä­her und nä­her an uns her­an und wälz­te sich end­lich die Land­stra­ße ent­lang, au­ßer­halb des Hau­ses, das uns ver­barg.

Ein Mars­mann kam ge­gen Mit­tag über die Fel­der ge­fah­ren, und ver­nich­te­te den Rauch durch einen Strahl über­hitz­ten Damp­fes, der ge­gen die Mau­ern zisch­te, alle Fens­ter, die er traf, zer­schmet­ter­te, und die Hand des Ku­ra­ten ver­brüh­te, als er sich aus dem Stra­ßen­zim­mer flüch­te­te. Als wir uns end­lich durch die durch­näss­ten Zim­mer schli­chen und hin­aus­blick­ten, sah das ge­gen Nor­den zu ge­le­ge­ne Land aus, als wäre ein schwar­zer Schnee­sturm dar­über hin­ge­braust. Und als wir ge­gen den Fluss hin­blick­ten, wa­ren wir nicht we­nig er­staunt, wie dort eine un­er­klär­li­che Röte sich mit dem Schwarz der ver­seng­ten Wie­sen ver­meng­te.

Eine Zeit lang er­fass­ten wir nicht, ob die­se Ver­än­de­rung un­se­re Lage güns­ti­ger ge­stal­ten wür­de, wir sa­hen nur, dass wir von un­se­rer Furcht vor dem schwar­zen Rauch er­löst wa­ren. Aber spä­ter be­griff ich, dass wir nicht mehr auf­ge­hal­ten sei­en, und dass wir un­sern Weg wei­ter ver­fol­gen könn­ten. So­bald ich mir klar wur­de, dass der Weg zur Flucht of­fen stand, kehr­te mei­ne Fä­hig­keit, zu han­deln, wie­der zu­rück. Aber der Ku­rat war wie in ei­ner Er­star­rung und kei­nen Ver­nunfts­grün­den zu­gäng­lich.

»Wir sind hier ja si­cher«, rief er un­auf­hör­lich, »ganz si­cher.«

Ich be­schloss, ihn zu las­sen, wo er war. Hät­te ich es nur ge­tan! Durch die Leh­ren des Ar­til­le­ris­ten klü­ger ge­macht, such­te ich jetzt nach Spei­se und Trank. Ich hat­te Öl und Lin­nen für mei­ne Brand­wun­den ge­fun­den; auch nahm ich einen Hut und ein Fla­nell­hemd mit mir, das ich in ei­nem der Schlaf­zim­mer ge­fun­den hat­te. Als es dem Ku­ra­ten auf­däm­mer­te, dass ich wil­lens war, al­lein fort­zu­ge­hen, dass ich mich mit dem Ge­dan­ken, al­lein zu sein, völ­lig aus­ge­söhnt hat­te, da raff­te er sich plötz­lich zu dem Ent­schluss auf, mich zu be­glei­ten. Und da wäh­rend des gan­zen Nach­mit­tags al­les ru­hig blieb, bra­chen wir, wie ich ver­mu­te, um fünf Uhr auf, um die rauch­ge­schwärz­te Stra­ße nach Sun­bu­ry ein­zu­schla­gen.

In Sun­bu­ry und in ge­le­gent­li­chen Zwi­schen­räu­men längs der Stra­ße la­gen tote Kör­per in ver­zerr­ten Stel­lun­gen — Pfer­de so­wohl wie Men­schen — fer­ner um­ge­stürz­te Kar­ren und Kis­ten, al­les mit ei­ner di­cken Schicht schwar­zen Rau­ches be­deckt. Die­se Schich­ten von Aschen­pul­ver er­in­ner­ten mich an al­les, was ich über die Zer­stö­rung Pom­pe­jis ge­le­sen hat­te. Ohne wei­te­ren Un­fall ge­lang­ten wir nach Hamp­ton Court; un­se­re Ge­dan­ken wa­ren er­füllt von al­len den selt­sa­men und un­ge­wohn­ten Bil­dern, die wir un­ter­wegs er­blick­ten. In Hamp­ton Court wur­den un­se­re Au­gen ge­ra­de­zu von ei­nem Bann er­löst, als wir einen grü­nen Ra­sen­fleck ent­deck­ten, der dem er­sti­cken­den Qualm ent­gan­gen war. Wir gin­gen durch den Bus­hey Park, sa­hen das Wild un­ter den Kas­ta­ni­en­bäu­men auf- und ab­ge­hen und ei­ni­ge Män­ner und Frau­en, die in wei­ter Fer­ne ge­gen Hamp­ton zu eil­ten. Das wa­ren die ers­ten Leu­te, die wir sa­hen. So ka­men wir nach Twi­cken­ham.

 

Als wir über die Stra­ße hin­weg­blick­ten, sa­hen wir, dass das Ge­hölz jen­seits von Ham und Pe­ters­ham noch brann­te. Twi­cken­ham war so­wohl vom Hit­ze­strahl, wie vom schwar­zen Rauch ver­schont ge­blie­ben, und so fan­den wir hier her­um schon mehr Leu­te, von de­nen aber nie­mand uns Neu­es mit­tei­len konn­te. Zum größ­ten Teil be­fan­den sie sich in der­sel­ben Lage wie wir; sie be­nütz­ten eine au­gen­blick­li­che Ruhe vor den Mars­leu­ten, um wei­ter zu flie­hen. Ich ge­wann den Ein­druck, dass vie­le Häu­ser noch von ein­ge­schüch­ter­ten Men­schen be­wohnt wa­ren, die zu er­schreckt wa­ren, um nur die Kraft zur Flucht zu be­sit­zen. Auch hier wa­ren die An­zei­chen ei­nes has­tig flie­hen­den Men­schen­hau­fens in Fül­le längs der Stra­ße vor­han­den. Sehr leb­haft er­in­ne­re ich mich ei­nes Ge­wir­res von drei zer­trüm­mer­ten Fahr­rä­dern, die von den Rä­dern nach­fol­gen­der Kar­ren in die Erde ge­stampft wor­den wa­ren. Um halb neun Uhr etwa ka­men wir bei der Rich­mond Bridge an. Wir eil­ten selbst­ver­ständ­lich, so rasch wir konn­ten, über die al­len An­grif­fen sehr aus­ge­setz­te Brücke; den­noch be­merk­te ich eine An­zahl ro­ter Ge­gen­stän­de, die ei­ni­ge Fuß von mir ent­fernt, den Fluss hin­ab­trie­ben. Ich wuss­te nicht, was jene Ge­gen­stän­de be­deu­te­ten — ich hat­te kei­ne Zeit, sie ge­nau zu un­ter­su­chen — aber ich leg­te ih­nen eine viel grau­en­haf­te­re Be­deu­tung bei als sie ver­dien­ten. Hier, auf der Sur­rey-Sei­te, sah ich wie­der schwar­zen Staub, der ein­mal Rauch ge­we­sen war und Lei­chen — einen großen Hau­fen beim Ein­gang zum Bahn­hof — aber nir­gends war ein Mars­mann zu er­bli­cken, bis wir uns in ziem­li­cher Nähe von Bar­nes be­fan­den.

Wir sa­hen in der ver­dun­keln­den Fer­ne eine Grup­pe von drei Leu­ten, wel­che eine Sei­ten­stra­ße hin­ab dem Fluss zu­lief; sonst aber schi­en al­les ver­ödet. Im obe­ren Hü­gel­vier­tel brann­te die Stadt Rich­mond lich­ter­loh; au­ßer­halb Rich­monds war kei­ne Spur des schwar­zen Rau­ches zu ent­de­cken.

Plötz­lich, als wir uns schon Kew nä­her­ten, kam uns eine An­zahl Leu­te ent­ge­gen­ge­lau­fen, und, nicht hun­dert Yard von uns ent­fernt, sa­hen wir die Ober­tei­le der Kriegs­ma­schi­ne ei­nes Mars­man­nes über die Haus­dä­cher auf­ra­gen. An­ge­sichts die­ser dro­hen­den Ge­fahr stan­den wir wie ver­stei­nert da, und hät­te der Mars­mann her­ab­ge­blickt, wä­ren wir ret­tungs­los ver­lo­ren ge­we­sen. Wir wa­ren so ent­setzt, dass wir nicht wag­ten, wei­ter zu ge­hen, son­dern uns seit­wärts wand­ten und uns in dem Ver­schlag ei­nes Gar­tens ver­steck­ten. Lei­se vor sich hin wei­nend ver­kroch sich der Ku­rat und wei­ger­te sich, wie­der wei­ter­zu­ge­hen.

Aber ich hat­te mich so fest in den Ge­dan­ken, Lea­ther­head zu er­rei­chen, ein­ge­spon­nen, dass ich mir kei­ne Rast er­laub­te; und im Zwie­licht wag­te ich mich wie­der hin­aus. Ich schlug mich durch ein Ge­büsch, das einen Lau­ben­gang ent­lang auf dem Grund­stück ei­nes großen Hau­ses lief und tauch­te so auf der Stra­ße, die nach Kew führ­te, wie­der auf. Den Ku­ra­ten ließ ich im Ver­schlag, aber er has­te­te mir eilends nach.

Die­ser zwei­te Auf­bruch war das Aber­wit­zigs­te, was ich je un­ter­nahm. Denn es war of­fen­bar, dass die Mars­leu­te hier um uns her­um­schwärm­ten. Kaum hat­te der Ku­rat mich ein­ge­holt, als wir ent­we­der die­sel­be Kriegs­ma­schi­ne, die wir frü­her ge­se­hen hat­ten, oder eine an­de­re, in ziem­lich großer Ent­fer­nung, über die Wie­sen in der Rich­tung nach dem Park­hau­se von Kew fah­ren sa­hen. Vier oder fünf klei­ne, schwar­ze Ge­stal­ten lie­fen über die grün­lich­graue Flä­che des Fel­des vor ihr da­von, und im Nu war es mir klar, dass der Mars­mann sie ver­folg­te. Mit drei Schrit­ten war er mit­ten un­ter ih­nen und sie sto­ben nun nach al­len Rich­tun­gen aus­ein­an­der. Er ge­brauch­te nicht den Hit­ze­strahl, um sie zu ver­nich­ten, son­dern las sie, einen nach dem an­de­ren, auf. Ich glaub­te zu er­ken­nen, wie er sie in den großen, me­tal­li­schen Be­häl­ter schleu­der­te, der hin­ter ihm vor­rag­te, ganz so, wie ein Trag­korb, der über der Schul­ter ei­nes Ar­bei­ters hängt.

Zum ers­ten Male kam mir jetzt der Ge­dan­ke, dass die Mars­leu­te noch an­de­re Zwe­cke ver­folg­ten, als die Ver­nich­tung der be­sieg­ten Mensch­heit. Wir stan­den einen Au­gen­blick lang wie ver­stei­nert da, dann kehr­ten wir um und flüch­te­ten uns durch ein hin­ter uns be­find­li­ches Tor in einen von Mau­ern um­ge­be­nen Gar­ten. In ei­nem Gra­ben, der sich zu un­se­rem Glück dort vor­fand, und in den wir mehr hin­ein­stürz­ten, als hin­ab­stie­gen, hiel­ten wir uns ver­steckt. Be­vor nicht die Ster­ne am Him­mel stan­den, wag­ten wir kaum flüs­ternd mit­ein­an­der zu spre­chen.

Ich glaub­te, dass es na­he­zu elf Uhr nachts war, ehe wir ge­nug Mut fass­ten, um aber­mals auf­zu­bre­chen. Dies­mal aber wag­ten wir uns nicht mehr auf die Stra­ße hin­aus, son­dern schli­chen uns an He­cken ent­lang, oder durch Baum­pflan­zun­gen hin­durch; da­bei späh­ten wir scharf in die Dun­kel­heit nach den Mars­leu­ten aus, die rings um uns her­um­zu­schwär­men schie­nen. Der Ku­rat wach­te zur Rech­ten und ich zur Lin­ken. Ein­mal stol­per­ten wir über eine ver­seng­te und rauch­ge­schwärz­te Ra­sen­flä­che, die aus aus­ge­kühl­ter Asche be­stand, und tau­mel­ten über eine An­zahl mensch­li­cher Leich­na­me, de­ren Köp­fe und Lei­ber grau­en­haft ver­brannt, de­ren Bei­ne und Stie­fel aber in den meis­ten Fäl­len un­ver­sehrt ge­blie­ben wa­ren; dann stie­ßen wir auf tote Pfer­de, die etwa fünf­zig Fuß hin­ter ei­ner Grup­pe von vier zer­trüm­mer­ten Ge­schüt­zen und zer­schell­ten La­fet­ten ta­gen.

Das Dorf Sheen war of­fen­bar von der Zer­stö­rung ver­schont ge­blie­ben, aber der Ort war still und ver­las­sen. Hier tra­fen wir auf kei­ne To­ten, doch war die Nacht zu dun­kel, um uns einen Ein­blick in die Sei­ten­gas­sen des Dor­fes zu er­lau­ben. In Sheen klag­te mein Ge­fähr­te plötz­lich über Schwä­che und Durst; und so be­schlos­sen wir, in ei­nes der Häu­ser ein­zu­drin­gen.

Das ers­te Ge­bäu­de, das wir, nach ei­ni­gen Schwie­rig­kei­ten mit dem Fens­ter, be­tra­ten, war ein klei­nes, halb frei­ste­hen­des Land­haus; aber im gan­zen Haus war nichts Ess­ba­res üb­rig­ge­blie­ben, als et­was schimm­li­ger Käse. Doch fan­den wir Was­ser, um un­se­ren Durst zu lö­schen. Ich nahm noch ein Beil mit mir, das bei un­se­rem nächs­ten Haus­ein­bruch von Nut­zen zu sein ver­sprach.

Nach ei­ner Weg­kreu­zung ge­lang­ten wir an einen Platz, von dem die Stra­ße nach Mort­la­ke ab­biegt. Hier nun stand ein wei­ßes Haus in ei­nem ein­ge­frie­de­ten Gar­ten. In der Spei­se­kam­mer die­ses Hau­ses fan­den wir Ess­vor­rä­te — zwei Brot­lai­be, in ei­ner Schüs­sel ein ro­hes Stück Fleisch und einen hal­b­en Schin­ken. Ich gebe die­ses Ver­zeich­nis des­halb so ge­nau an, weil es sich füg­te, dass wir in den nächs­ten zwei Wo­chen von die­sem Vor­rat un­ser Le­ben zu fris­ten ver­ur­teilt wa­ren. Ei­ni­ge Fla­schen Bier stan­den in ei­nem Fach, in dem wir auch zwei Sä­cke wel­scher Boh­nen und et­was wel­ken Salat fan­den. Die­se Spei­se­kam­mer führ­te in eine Art Wasch­kam­mer, in der sich ge­spal­te­tes Holz vor­fand; wir ent­deck­ten auch einen Ver­schlag, in dem wir fast ein Dut­zend Fla­schen Bur­gun­der­wein, ei­ni­ge Zinn­büch­sen mit Sup­pen­wür­zen und Lachs und zwei Zwie­back­büch­sen fan­den.

Wir sa­ßen in der an­sto­ßen­den Kü­che ganz im Fins­tern — denn wir wag­ten nicht, Licht zu ma­chen — aßen Brot und Schin­ken und tran­ken Bier aus ei­ner Fla­sche. Dies­mal war es der noch im­mer ver­schreck­te und rast­lo­se Ku­rat, der wun­der­lich ge­nug, zum au­gen­blick­li­chen Auf­bruch dräng­te. Ich re­de­te ihm eben drin­gend zu, durch eine Mahl­zeit sei­ne Kräf­te zu sam­meln, als sich der Vor­fall er­eig­ne­te, der uns zu Ge­fan­ge­nen mach­te.

»Es kann noch nicht Mit­ter­nacht sein«, sag­te ich; und wäh­rend ich noch sprach, zuck­te ein blen­den­der Schein auf, der von ei­nem leb­haf­ten grü­nen Licht be­glei­tet war. Je­der Ge­gen­stand in der Kü­che trat blitz­schnell und ganz deut­lich grün und schwarz her­aus, um so­fort wie­der zu ver­schwin­den. Und dann er­folg­te eine der­ar­ti­ge Er­schüt­te­rung, wie ich sie we­der vor­her noch nach­her je er­lebt habe. So un­mit­tel­bar dar­auf, dass es fast gleich­zei­tig schi­en, hör­te ich hin­ter mir einen Auf­schlag, ein Klir­ren von Glas, ein Kra­chen und Pras­seln rings um uns ein­stür­zen­den Mau­er­werks; gleich dar­auf fiel der Mör­tel der De­cke auf uns her­ab, und zer­schell­te auf un­sern Köp­fen in eine Un­zahl klei­ner Bruch­stücke. Ich stürz­te der Län­ge nach auf den Bo­den, fiel mit dem Kopf ge­gen die Ofen­tü­re und ver­lor mein Be­wusst­sein. Wie mir der Ku­rat er­zähl­te, war ich lan­ge Zeit be­sin­nungs­los und als ich wie­der zu mir kam, beug­te sich mein Ge­fähr­te mit ei­nem Ge­sicht, das, wie ich spä­ter fand, in Fol­ge ei­ner Stirn­wun­de von Blut durch­nässt war, über mich und be­spreng­te mich mit Was­ser.

Ei­ni­ge Zeit lang konn­te ich nicht be­grei­fen, was ge­sche­hen war. Aber all­mäh­lich däm­mer­te es mir. Eine Beu­le an mei­ner Schlä­fe trug das Ihre dazu bei.

»Füh­len Sie sich bes­ser?«, frag­te der Ku­rat flüs­ternd.

End­lich konn­te ich ihm ant­wor­ten. Ich setz­te mich auf.

»Rüh­ren Sie sich nicht«, sag­te er. »Der Bo­den ist mit Sp­lit­tern des Ge­schirrs be­deckt, das aus die­sem Schrank fiel. Sie kön­nen sich auch un­mög­lich be­we­gen, ohne Lärm zu ma­chen. Und ich glau­be, sie sind drau­ßen.«

Wir sa­ßen bei­de ganz still da, so­dass ei­ner kaum des an­de­ren Atem hör­te. Al­les schi­en to­ten­still, nur ein­mal fiel et­was, viel­leicht Mör­tel oder ge­bro­che­nes Zie­gel­werk, ne­ben uns mit ziem­lich star­kem Geräusch zu Bo­den. Drau­ßen, aber ganz in un­se­rer Nähe, hör­ten wir ein stel­len­wei­se aus­set­zen­des, me­tal­li­sches Ge­klirr.

»Hö­ren Sie?«, flüs­ter­te der Ku­rat, als es gleich wie­der ver­nehm­lich war.

»Ja«, sag­te ich. »Aber was ist es?«

»Ein Mars­mann!«, sag­te der Ku­rat.

Ich lausch­te wie­der.

»Es sah nicht wie der Hit­ze­strahl aus«, sag­te ich und eine Zeit lang gab ich mich der Ver­mu­tung hin, eine der großen Kriegs­ma­schi­nen wäre ge­gen das Haus an­ge­rannt, so ähn­lich, wie ich eine ge­gen den Kirch­turm von Shep­per­ton an­ren­nen ge­se­hen hat­te.

Un­se­re Lage war so wun­der­lich, so un­be­greif­lich, dass wir drei oder vier Stun­den lang, bis es däm­mer­te, uns kaum rühr­ten. Zö­gernd flu­te­te das Licht her­ein, nicht durch das Fens­ter, son­dern durch eine drei­e­cki­ge Öff­nung zwi­schen ei­nem Bal­ken und ei­nem Hau­fen zer­brö­ckel­ter Zie­gel in der Mau­er hin­ter uns. Zum ers­ten Male sa­hen wir in grau­er Däm­me­rung das In­ne­re der Kü­che.

Das Fens­ter war durch eine Mas­se Gar­ten­er­de ein­ge­drückt wor­den, die über den Tisch, auf den wir sa­ßen, her­abrie­sel­te und sich um un­se­re Bei­ne leg­te. Drau­ßen war der Bo­den hoch ge­gen das Haus zu auf­ge­wor­fen. Am obe­ren Ende des Fens­ter­rah­mens konn­ten wir eine aus­ge­ris­se­ne Dach­rin­ne be­mer­ken. Der Bo­den war von ge­bro­che­nem Ge­rüm­pel al­ler Art dicht be­deckt. Ein Teil der ge­gen die Haus­mau­er zu ge­le­ge­nen Kü­chen­wand war ein­ge­stürzt; und nun, da das Ta­ges­licht voll her­einsah, wur­de es uns klar, dass der grö­ße­re Teil des Hau­ses zer­trüm­mert war. Ei­nen leb­haf­ten Ge­gen­satz zu die­ser Ver­wüs­tung bot der zier­li­che An­rich­te­tisch, der nach der Mode blass­grün ge­stri­chen war und eine An­zahl Kup­fer­ge­schir­re und Zinnkrü­ge ent­hielt. Die Ta­pe­te be­stand in ei­ner Nach­ah­mung blau­er und wei­ßer Zie­gel und ein paar far­bi­ge Bö­gen flat­ter­ten von den Wän­den über dem Kü­chen­herd her­ab.

Als die Däm­me­rung fort­schritt, sa­hen wir durch den Spalt in der Mau­er die Ge­stalt ei­nes Mars­man­nes, der, wie ich ver­mu­te, bei dem noch glü­hen­den Zy­lin­der Wa­che stand. Bei die­sem An­blick kro­chen wir, so be­hut­sam wie mög­lich, aus dem Zwie­licht der Kü­che in die Dun­kel­heit der Wasch­kam­mer zu­rück.

Ganz un­ver­mit­telt däm­mer­te in mir nun die rich­ti­ge Aus­le­gung der nächt­li­chen Vor­fäl­le auf.

 

»Der fünf­te Zy­lin­der«, flüs­ter­te ich, »das fünf­te Ge­schoss vom Mars hat die­ses Haus ge­streift und uns un­ter sei­nen Trüm­mern be­gra­ben!«

Ei­ni­ge Zeit blieb der Ku­rat still, dann flüs­ter­te er:

»Gott, er­bar­me dich un­ser!«

Dann hör­te ich, wie er still vor sich hin wim­mer­te.

Von die­sen Lau­ten ab­ge­se­hen, la­gen wir ganz still in der Wasch­kam­mer. Ich für mei­nen Teil wag­te kaum, zu at­men, und saß da, mit mei­nen Au­gen un­ver­wandt nach dem schwa­chen Licht der Kü­chen­tür star­rend. Ich konn­te ge­ra­de noch das Ge­sicht des Ku­ra­ten un­ter­schei­den, eine un­deut­li­che, ova­le Flä­che; au­ßer­dem noch sei­nen Kra­gen und sei­ne Man­schet­ten. Drau­ßen be­gann jetzt ein Häm­mern, wie auf Me­tall, dann ein hef­ti­ges Ge­heul, und dann nach ei­ner kur­z­en Stil­le ein Zi­schen, wie das Zi­schen ei­ner Ma­schi­ne. Die­se zum größ­ten Teil rät­sel­haf­ten Geräusche setz­ten sich mit ge­rin­gen Un­ter­bre­chun­gen fort, und schie­nen wo­mög­lich im Lauf der Zeit an Zahl zu­zu­neh­men. Jetzt hör­te man ein ge­mes­se­nes Auf­schla­gen und die Er­schüt­te­rung, die folg­te, ließ al­les um uns her­um er­be­ben. Das Ge­schirr in der Spei­se­kam­mer klirr­te und tanz­te. Das dau­er­te lan­ge so fort. Ein­mal er­losch das Ta­ges­licht völ­lig, und der geis­ter­haf­te Kü­chen­ein­gang tauch­te in voll­stän­di­ge Dun­kel­heit un­ter. Vie­le Stun­den lang müs­sen wir dort schwei­gend und frös­telnd ge­kau­ert sein, bis end­lich un­se­re er­mat­te­te Auf­merk­sam­keit er­lahm­te.

End­lich er­wach­te ich, von na­gen­dem Hun­ger ge­quält. Ich muss wohl an­neh­men, dass der grö­ße­re Teil ei­nes Ta­ges vor je­nem Er­wa­chen ver­gan­gen war. Mein Hun­ger war mit ei­nem Male so hef­tig, dass er mich zum Han­deln trieb. Ich sag­te dem Ku­ra­ten, dass ich nach Nah­rung su­chen wol­le, und tas­te­te mich lei­se nach der Spei­se­kam­mer durch. Er gab kei­ne Ant­wort, aber so­bald ich zu es­sen be­gann, ver­an­lass­te ihn das lei­se Geräusch, das ich mach­te, aus­zu­ste­hen und mir nach­zu­krie­chen.