Tom Jones

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Fünftes Kapitel.

Enthält Materien, die für jedermanns Geschmack zugerichtet sind.

Parva leves capiunt animos; »Leichter Sinn ist leicht gefangen;« war der Spruch eines großen Meisters in der Leidenschaft der Liebe. Und gewiß ist es, daß von diesem Tage an Sophie anfing, einige kleine Gewogenheit für den Tom Jones und eine nicht kleine Abneigung gegen seinen Schulkameraden zu empfinden. Verschiedene Zufälle verstärkten von Zeit zu Zeit diese Leidenschaften in ihrer Brust; welches der Leser eben auch ohne unsre Erzählung aus demjenigen schließen wird, was wir uns über die Verschiedenheit der Gemütsarten dieser Knaben, und wie sehr die eine mehr als die andre mit ihrer eignen übereinstimmte, haben merken lassen. Die Wahrheit zu sagen, so hatte Sophie, noch als sie sehr jung, bereits ausfindig gemacht, daß, obgleich Tom ein lockerer, windiger, tobender Zeisig wäre, er doch keines Menschen als nur sein eigner Feind sei. Und daß der Junker Blifil, obgleich ein kluger, vorsichtiger, stiller Jüngling, doch nur dem Vorteile einer einzigen Person auf stärkste ergeben wäre; und wer diese einzige Person war, das wird der Leser auch wohl ohne unsern Beistand erraten.

Diese beiden Charaktere werden in der Welt nicht allemal mit der verschiedenen Achtung aufgenommen, welche ein jeder besonders für sich zu verdienen scheint, und welche, wie man glauben sollte, ihnen die Menschen aus Selbstinteresse widerfahren lassen müßten. Doch ist dazu vielleicht eine politische Ursache vorhanden: Die Menschen, wenn sie ein wahrhaft wohlthätiggesinntes Gemüt finden, so mögen sie wohl ganz vernünftigerweise denken: sie haben einen Schatz gefunden, den sie gern für sich behalten wollen, sowie alles übrige Gute, was sie besitzen. Daher mögen sie sich einbilden, das Lob einer solchen Person auszuposaunen, würde ungefähr ebensoviel heißen, als die gemeine Aufschrift auf einem Schilde: »Hier speist man nach Belieben,« und so gut, als Teilnehmer an einem Gute herbeizurufen, welches sie zu ihrem alleinigen Gebrauche aufbewahren wollen. Wenn dieser Grund dem Leser kein Genüge leistet, so weiß ich mir wenigstens die geringe Achtung auf keine andre Weise zu erklären, welche ich gewöhnlicherweise einem Charakter erzeigen gesehen habe, welcher der menschlichen Natur wirklich große Ehre macht und der bürgerlichen Gesellschaft so unendlichen Nutzen bringt. Mit Sophien war es indessen ganz anders. Sie hatte viel Hochachtung für Tom Jones und eine herzliche Verachtung für Blifil, sobald als sie nur mit diesen beiden Worten einen Begriff zu verbinden gelernt hatte.

Sophie war beinahe drei Jahre mit ihrer Tante abwesend gewesen, während welcher Zeit sie keinen von beiden Jünglingen anders, als nur sehr selten, gesehen hatte. Unterdessen aß sie eines Tages mit ihrer Tante in Herrn Alwerths Hause zu Mittage. Dies war einige Tage nach der bereits erwähnten Geschichte mit dem geschossenen Feldhuhn. Sophie hörte die ganze Geschichte bei Tische, wo sie kein Wort sagte; auch konnte sogar ihre Tante nur wenige Worte aus ihr herausbringen, als sie wieder nach Hause fuhren. Als aber ihr Kammermädchen beim Auskleiden von ungefähr zu ihr sagte: »Nun, Fräulein! heute hab'n Sie doch Junker Blifil gesehen?« antwortete sie ganz ärgerlich: »Ich hasse den Namen Blifil so wie alles, was niederträchtig und verräterisch ist; und ich wundre mich, wie Herr Alwerth leiden kann, daß ein alter barbarischer Schulmeister einen jungen Menschen dergestalt um etwas züchtigen darf, was doch bloß die Wirkung seines guten Herzens war.« Sie erzählte hierauf ihrer Jungfer die ganze Geschichte und schloß mit den Worten: »Was meint Sie, ist es nicht ein Junge von recht edlem Gemüte?«

Dies junge Frauenzimmer war nunmehr bei ihrem Vater wieder einheimisch geworden, welcher ihr die Führung seines Hauses anvertraute und ihr die oberste Stelle an seinem Tische anwies, an welchem Tom Jones (der durch seine große Liebe zum Jagen ein großer Liebling des Junkers geworden war) manche Mahlzeit einnahm. Junge Leute von einem offnen freien Gemüte sind von Natur zur Galanterie geneigt, die sich, wenn sie einen richtigen Verstand besitzen, wie bei Tom Jones wirklich der Fall war, durch ein gefälliges, verbindliches Betragen gegen das ganze weibliche Geschlecht überhaupt äußert. Hierdurch unterschied sich Tom Jones sehr vorteilhaft, auf einer Seite von der lärmenden Ungezogenheit und Grobheit der bloßen Strohjunker, und auf der andern Seite von dem feierlichen und etwas finstern Betragen des jungen Herrn Blifil. Und in seinem zwanzigsten Jahre nunmehr fing er an, bei allen Frauenzimmern in der Nachbarschaft ein artiger junger Mensch zu heißen.

Tom spielte bei Sophien keineswegs den Verliebten, ausgenommen vielleicht, daß er ihr mit mehr Ehrerbietung begegnete, als irgend einem andern Frauenzimmer. Diesen Vorzug schien ihre Schönheit, ihr Vermögen, ihr Verstand und ihr liebenswürdiges Betragen ganz natürlicherweise zu verdienen. Absichten auf ihre Person aber hatte er keine. Für jetzt müssen wir's dulden, daß ihm das der Leser zur Unempfindlichkeit anrechnet; vielleicht aber sind wir in der Folge im stande, es auf eine ganz andere Art zu erklären.

Sophie war beim höchsten Grade von Unschuld und Bescheidenheit von sehr aufgewecktem Gemüt. Diese Munterkeit ward, wenn sie mit Tom in Gesellschaft war, so sichtbarlich erhöht, daß er's hätte merken müssen, wär' er nicht zu jung und zu gedankenlos gewesen; oder daß auch beim Junker Western hätte Verdacht darüber entstehen können, wären nicht seine Gedanken fast immer im Felde, im Pferde- und Hundestalle beschäftigt gewesen. Aber dieser gute Junker war so weit entfernt, auf einen solchen Verdacht zu geraten, daß er dem jungen Menschen vielmehr alle Gelegenheit gab, mit seiner Tochter allein zu sein, die ein Verliebter sich nur immer hätte wünschen können; und diese Gelegenheit machte sich Tom in aller Unschuld weit besser zu nutze, indem er bloß den Eingebungen einer natürlichen Galanterie und eines guten Herzens folgte, als vielleicht geschehen sein möchte, wenn er die tiefsten Pläne auf das Herz des Mädchens angelegt gehabt hätte. In der That aber kann es eben keine Verwunderung verursachen, daß diese Sache der Bemerkung aller Uebrigen entwischte, weil die arme Sophie selbst kein Wort davon wußte und ihr Herz unwiederbringlich verloren war, ehe sie nur noch die geringste Gefahr ahnte. So standen die Sachen, wie Tom, als er Sophien eines Nachmittags allein fand, nach einer kurzen, mit sehr ernsthaftem Gesicht vorgebrachten Entschuldigung sein Begehren vorzubringen anfing, daß er sie um eine Gunst zu bitten hätte, welche ihre Gütigkeit, wie er hoffte, ihm nicht versagen würde.

Ob nun gleich so wenig des jungen Menschen bisheriges Betragen, als auch die Art und Weise, wie er sein Gesuch einleitete, von der Beschaffenheit waren, daß sie ihr hätten eine billige Ursache zum Verdacht geben können, er wolle ihr einen Liebesantrag thun, so mußten doch (sei's nun, daß ihr die Natur etwas ins Ohr raunte, oder aus was Ursache sonst, die ich nicht entscheiden will, genug so viel ist gewiß) einige Ideen von der Art bei ihr entstanden sein, denn ihre Wangen verloren ihre Farbe, sie zitterte an allen Gliedern und ihre Zunge würde gestottert haben, hätte Tom auf eine Antwort gewartet; aber er erlöste sie bald aus dieser Verwirrung, indem er fortfuhr, ihr den Inhalt seines Gesuchs zu erklären, welcher darin bestand, daß er sie um ihre Fürsprache für den Wildmeister bäte, dessen eigenes sowohl als seiner Frau und Kinder Verderben die unausbleibliche Folge davon sein müßte, wenn Herr Western ihn weiter gerichtlich verfolgte.

Sophie erholte sich augenblicklich von ihrer Verwirrung und sagte mit einem höchst holdseligen Lächeln: »Ist das die wichtige Gunstbezeigung, um die Sie so feierlich baten? das will ich vom Grunde des Herzens gern thun. Ich habe wirklich Mitleiden mit dem armen Schlucker und erst gestern noch habe ich seiner Frau eine geringe Kleinigkeit hingeschickt.« Diese geringe Kleinigkeit war: eins von ihren Kleidern, etwas Wäsche und einige Gulden an Gelde; wovon Tom Jones gehört und welches ihm wirklich den Vorsatz in den Kopf gesetzt hatte, sich um diese Fürbitte zu bewerben. Unser Jüngling, der dadurch, daß es ihm so weit gelungen, kühner geworden war, wollte nun die Sache weiter treiben, und wagte es sogar, sie zu bitten, sie möchte ihn zu ihres Vaters Diensten empfehlen. Er beteuerte dabei, er hielte ihn für einen der ehrlichsten Kerle in der ganzen Gegend umher, und für die Stelle eines Wildmeisters, die eben glücklicherweise bei ihrem Herrn Vater erledigt wäre, auf alle Fälle sehr tüchtig.

Sophie antwortete: »Gut! Auch das will ich versuchen! Aber ich kann nicht versprechen, daß ich's eben so gut zustandebringen werde als das erste, denn so viel versichre ich Sie, ich lasse meinen Vater nicht eher, bis er mir das zugesagt hat. – Doch will ich alles für den armen Kerl thun, was ich nur kann; denn ich betrachte sowohl ihn, als die Seinigen, aufrichtiglich für einen Gegenstand des Mitleidens. – Und nun, lieber Herr Tom Jones, muß ich auch Sie um eine Gefälligkeit bitten.«

»Um eine Gefälligkeit, Fräulein! Mich!« rief Tom Jones. »Kennten Sie das Vergnügen, das Sie mir durch die Hoffnung erwecken, einen Ihrer Befehle zu erhalten, Sie würden überzeugt sein, daß Sie mir durch die bloße Erwähnung dieses Befehls die größeste Gewogenheit erweisen; denn bei dieser lieben Hand schwöre ich's, mein Leben gäbe ich gerne hin, um Ihnen einen Gefallen zu erzeigen.«

Hierbei haschte er ihre Hand und küßte solche mit Inbrunst; welches das erste Mal war, daß seine Lippen sie berührten. Das Blut, welches vorher ihre Wangen verleugnet hatte, büßte seine Sünde dadurch völlig, daß es ihre Wangen und ihren Busen mit solcher Heftigkeit durchströmte, daß sie beide die höchste Scharlachfarbe bekamen. Sie fühlte hier zum erstenmal eine Empfindung, die ihr bis dahin fremd gewesen war, und welche sie, als sie Muße gewann darüber nachzudenken, mit einem Geheimnis bekannt machte, welches der Leser, wofern er's noch nicht so ganz völlig erraten haben sollte, in gehöriger Zeit erfahren wird.

 

Sophie, sobald sie zu reden vermochte (und das war nicht so augenblicklich), belehrte ihn, die Gewogenheit, die sie sich von ihm ausbäte, wäre, ihren Vater nicht in so viele Gefahren beim Jagen zu leiten; denn nach dem, was sie gehört, wäre sie täglich in großer Angst, wenn sie zusammen ausritten, und müßte erwarten, daß er eines Tages mit gebrochenen Gliedmaßen nach Hause gebracht würde. Sie bäte ihn deswegen, er möchte, aus Freundschaft für sie, doch vorsichtig sein: und da, wie er wohl wüßte, ihr Vater bei keinem gefährlichen Ritte ihn allein lassen oder zurückbleiben würde: so möchte er doch nicht gar zu tollkühn reiten, oder künftig so waghalsig über Graben und Hecken setzen.

Tom versprach, ihren Befehlen getreulich nachzuleben; und nachdem er ihr für die gütigste Gewährung seiner Bitte bestens Dank gesagt hatte, nahm er seinen Abschied und ging höchst entzückt über seine Verrichtung nach Hause.

Die arme Sophie war zwar auch entzückt, aber auf eine sehr verschiedene Weise. Ihre Empfindungen wird sich aber des Lesers Herz (wenn er oder sie eins hat) viel besser vorstellen, als ich sie darstellen kann, hätte ich auch so manche Zunge, als jemals ein Poet sich gewünscht hat – vermutlich um die vielen Leckerbissen zu kosten, womit er so reichlich versehen wird. Es war Herrn Westerns Gewohnheit, alle Nachmittage, sobald er sein Räuschchen hatte, seine Tochter auf'm Klavier spielen zu hören: denn er war ein großer Liebhaber der Musik und hätte, wenn er in einer Stadt gewohnt, für einen Kenner passieren mögen; denn er hatte beständig an den schönsten Kompositionen etwas auszusetzen. Nichts gefiel ihm in der Musik, was nicht leicht und singbar war. Und daher denn auch seine liebsten Stücke von folgender Art waren, als: »Ihr Schönen höret an – Die Tochter will ins Kloster ziehen – Stürmt, reißt und ras't ihr Unglückswinde – und dergleichen mehr.«

Seine Tochter war eine so feine Kennerin der Musik und eine so geschickte Klavierspielerin, daß sie für sich selbst keine andere Sachen als von Händel, Bach, Benda und solchen großen Meistern gespielt haben würde; doch war sie so sehr auf ihres Vaters Vergnügen bedacht, daß sie auch jene Murkys und Gassenhauer sich hatte aufschreiben lassen. Unterdessen versuchte sie es zuweilen, ihn zu ihrem eigenen Geschmacke herüberzuziehen, und wenn er sie um seine Leibstückchen bat, antwortete sie wohl zuweilen mit einem: »Ach, nun! lieber Papa!« und bat ihn dann, er möchte ihr erlauben, daß sie ihm eine von ihren neuen Sonaten vorspielen dürfte.

Diesen Abend aber, als ihr Vater mit seiner Weinflasche fertig war, spielte sie ihm, ohne sich erst bitten zu lassen, alle seine Leibstückchen dreimal hintereinander vor. Dies gefiel dem guten Junker dergestalt, daß er aus seinem Lehnstuhl aufsprang, seiner Tochter einen Kuß gab und schwur, ihre Hand sei viel fertiger geworden. Sie nahm diese Gelegenheit wahr, ihr dem Tom Jones gegebenes Versprechen auszurichten, und es glückte ihr damit so gut, daß der Junker sich erklärte, wenn sie ihm noch einmal: »drei Jäger ritten auf die Jagd,« vorspielen wollte, so sollte der Wildmeister schon morgen früh seine Bestallung haben. Drei Jäger ritten wurde nun gespielt und wiederge spielt, bis der Zauber der Musik Herrn Western in einen süßen Schlummer wiegte. Den andern Morgen versäumte Sophie nicht, ihn an sein Versprechen zu erinnern. Herrn Westerns Sachwalter ward augenblicklich geholt, ihm aufgetragen, die gerichtliche Verfolgung einzustellen und die Bestallung auszufertigen.

Die Wirkung von der Fürbitte des Tom Jones erscholl sehr bald über Flecken und Dorf, und verschieden waren darüber die Urteile. Einige billigten es sehr, was er gethan, als einen Beweis von einem guten Herzen; andre sagten mit Hohnlächeln: kein Wunder, daß ein Bettler beim Diebe Gevatter steht. Der junge Blifil war darüber ganz wütig. Er hatte lange schon den schwarzen Jakob in eben dem Maße gehaßt, als Tom ihm günstig war. Nicht als ob er von ihm jemals wäre beleidigt worden, sondern aus purer Liebe zur Religion und Tugend: denn der schwarze Jakob stand im Rufe eines losen Zeisigs von Kerl. Blifil legte also diese Handlung des Tom Jones so aus, als strafte er dadurch Herrn Alwerth ins Angesicht über Jakobs Abschied und bezeigte mit großem Leidwesen, daß es unmöglich wäre, einen andern Beweggrund für diesen, einem gottlosen Schuft erwiesenen Liebesdienst zu finden.

Schwöger und Quadrat stimmten in das nämliche Liedlein ein: sie waren nun, besonders der letzte, auf Tom Jones mit der Witwe sehr eifersüchtig geworden; denn er näherte sich nun seinem zwanzigsten Jahre, war wirklich ein sehr hübscher junger Mensch, und die Dame schien ihn nach ihrer täglich zunehmenden Freundlichkeit mehr und mehr dafür zu halten.

Alwerth ließ sich indessen durch ihre Heimtücke nicht bewegen. Er erklärte, er sei mit dem, was Jones gethan, sehr zufrieden. Er sagte: die Beharrlichkeit und redliche Treue seiner Freundschaft sei höchlich zu loben und wünschte er nur, daß er häufigere Beweise von dieser Tugend sehen möchte. Allein Madame Fortuna, welche selten solchen luftigen Burschen, als mein Freund Tom war, sehr günstig ist, vielleicht weil sie sich nicht dringender um ihre Gunst bewerben, gab nunmehr allen seinen Handlungen eine sehr schlimme Wendung und zeigte solche dem Herrn Alwerth in einem weit unangenehmeren Lichte als die Güte dieses Herrn solche bisher gesehen hatte.

Sechstes Kapitel.

Apologie der Unempfindlichkeit unsres Tom Jones gegen alle Reize der liebenswürdigen Sophie, durch die wir vielleicht seinen Charakter in der Achtung jener witzigen und galanten Männer, welchen die Helden in den meisten unsrer neuern Komödien und Dramen so sehr gefallen, um einen merklichen Grad heruntersetzen.

Es gibt zwei Gattungen von Leuten, welche bereits, wie ich befürchte, unsern Helden wegen seines Betragens gegen Sophie mit einiger Verachtung ansehen. Die ersten unter denselben werden darin seine wenige Klugheit tadeln, daß er eine Gelegenheit vernachlässigte, sich in den Besitz von Junker Westerns Vermögen zu setzen; und die letztern werden nicht weniger seine Blödigkeit bei einem so hübschen Mädchen verhöhnen, welches bereit zu stehen schien, in seine Arme zu fliegen, wenn er sie nur aufthun wollte, um sie zu empfangen.

Ob ich nun freilich vielleicht wohl nicht fähig bin, ihn von beiden Vorwürfen so völlig zu reinigen (denn Mangel an Klugheit läßt keine Entschuldigung zu, und was ich gegen den letzten Vorwurf vorbringen werde, wird, besorge ich, schwerlich befriedigend sein), so will ich doch, da zuweilen ein Zeugnis zur Milderung des Vergehens abgelegt werden kann, die Sache, wie sie ist, ganz ungekünstelt darlegen und das Ganze der Entscheidung des Lesers überlassen.

Unser Tom Jones fühlte so etwas in sich, welches, obgleich, so viel ich weiß, die Schriftsteller über seinen Namen noch nicht ganz einig sind, dennoch in einigen menschlichen Busen Herberge hat, dessen Gebrauch nicht sowohl eigentlich darin besteht, das Recht vom Unrecht zu unterscheiden, als vielmehr zum ersten anzutreiben und vom letzten ab- und zurückzuhalten.

Dieses Etwas kann wirklich mit dem berühmten Schreiner im Schauspielhause verglichen werden, welcher zu Addisons Zeiten auf der Galerie zu stehen pflegte und mit seinem Stocke den übrigen Zuschauern ein so zuverlässiges Zeichen gab, wo sie bei einer schönen Stelle Beifall klatschen sollten: denn so oft die Person, welche es besitzt, etwas thut das recht ist, so ist kein entzückter oder freundschaftlicher Zuschauer so hitzig und laut mit seinem Beifall; thut sie hingegen etwas, das unrecht ist, so ist kein Kunstrichter so fertig zum Pfeifen und Auspochen.

Um von diesem Urgefühl, welches ich meine, sowohl eine höhere, als unsrem Zeitalter geläufigere Idee zu geben, so kann man sich's vorstellen als sitzend auf seinem Throne in dem Geiste des Menschen, gleich dem Lord Groß-Kanzler von England in seinem höchsten Obergericht, woselbst es den Vorsitz hat, regiert, richtet, losspricht und verdammt, sowie Recht und Gerechtigkeit es heischen; mit einer Einsicht, welcher nichts entwischt, mit einem Scharfblick, den nichts täuschen, und einer Redlichkeit, die nichts bestechen kann. Von diesem lebendigen Urgefühl kann man vielleicht sagen, daß es die wesentlichste Grenze zwischen uns und unsern Nachbarn, den vernunftlosen Tieren, bestimme; denn, wenn einige in menschlicher Gestalt sich betreten ließen, die seine Gerichtsbarkeit nicht anerkennen wollten, so betrachte ich solche lieber als Ueberläufer von uns zu unsern Nachbarn, bei welchen sie das Schicksal aller Ueberläufer haben und nicht ins erste Glied kommen werden.

Ob unser Held es vom Schwöger oder Quadrat erhalten hatte, will ich unausgemacht lassen; genug, er stand unter einer starken Leitung dieses Urgefühls, denn ob er gleich nicht immer richtig handelte, so ließ er doch seine Stimme nie außer acht, ohne dafür empfindlich zu leiden. Dies Urgefühl war's, welches ihn lehrte, derjenige, der Höflichkeiten und kleine Gastfreundschaft damit bezahlt, daß er das Haus beraubt, in welchem er sie genossen hat, sei der schändlichste und niederträchtigste Dieb von allen. Er war nicht der Meinung, daß die Niederträchtigkeit dieses Verbrechens durch die Größe des begangenen Raubes vermindert würde; es schien ihm im Gegenteil vielmehr, daß, wenn der Diebstahl irgend eines Silbergeräts einen schimpflichen Tod verdiene, so ließe sich für denjenigen keine hinlänglich angemessene Strafe erdenken, der einem Mann sein ganzes Vermögen raubte und sein Kind obendrein.

Dies Urgefühl hielt ihn also von jedem Gedanken zurück, durch solche Mittel sein Glück zu machen. (Denn, wie gesagt, es ist ein lebendiges oder wirksames Urgefühl und besteht nicht bloß im Wissen oder Glauben.) Wäre er sehr heftig in Sophien verliebt gewesen, so hätt' er vielleicht anders gedacht; aber, erlauben Sie mir es zu sagen, es steckt ein großer Unterschied darin, ob man mit der Tochter eines Mannes davon läuft bloß der Liebe wegen, oder ob man dasselbe thut bloß des Stehlens wegen.

Ob nun gleich unser junger Held gegen Sophiens Reize nicht unempfindlich war; ob ihm gleich ihre Schönheit gefiel und er alle ihre übrigen Eigenschaften sehr hoch schätzte, so hatte sie doch keinen tiefen Eindruck auf sein Herz gemacht. Hierüber, da es ihm den Vorwurf der Gefühllosigkeit, oder wenigstens Geschmacklosigkeit zuzuziehen scheint, wollen wir nunmehr suchen, eine Erklärung zu geben.

Die Wahrheit also ist: sein Herz gehörte schon einem andern Frauenzimmer. Hier, zweifle ich nicht, wird der Leser erstaunen, daß wir über diese Sache so lange verschlossenen Mund gehalten haben, und wird nicht wenig in Verlegenheit sein, zu erraten, was für ein Frauenzimmer das sei, weil uns bisher noch nicht das mindeste Wort von einem solchen entfallen ist, das nur wahrscheinlicherweise Sophiens Nebenbuhlerin sein konnte; denn was Madame Blifil betrifft, ob wir gleich genötigt gewesen sind, eines Verdachtes zu erwähnen, als ob sie unsern Tom sehr gerne leiden möge: so haben wir doch bis diese Stunde noch nicht den geringsten Grund zu der Mutmaßung gegeben, daß er eine Neigung zu ihr hätte; und in der That, mit Leidwesen muß ich es sagen; aber die Jugend, beiderlei Geschlechts, ist nun einmal so! – Sie läßt es gar zu leicht an der Dankbarkeit ermangeln, wenn Personen, die etwas höher an Jahren sind als sie, die Güte haben, sie mit einer gewissen vorzüglichen Achtung zu beehren.

Damit der Leser nicht länger in Ungewißheit bleiben möge, wird er die Güte haben, sich zu erinnern, daß wir oft der Familie des Wildmeisters, Jakob Seegrim, gemeiniglich der schwarze Jakob genannt, erwähnt haben, welche gegenwärtig aus einer Frau und fünf Kindern bestand.

Das zweite von diesen Kindern war eine Tochter, die Maria, oder nach einer gewöhnlichen Umänderung, Molly hieß und für eins von den hübschesten Mädchen in der ganzen Gegend gehalten wurde.

Congreve sagt sehr wahr, in der wahren Schönheit liegt etwas, das gemeine Seelen nicht bewundern können; so kann auch weder Schmutz noch Lumpen dieses Etwas vor solchen Seelen verbergen, welche nicht von gemeinem Schlage sind.

Die Schönheit dieses Mädchens machte indessen auf Tom nicht eher Eindruck, als bis sie gegen ihr sechzehntes Jahr ging, da Tom, welcher fast drei Jahre älter war, zuerst begann einen Blick der Liebe auf sie fallen zu lassen, und diese Liebe hatte er lange zuvor schon auf das Mädchen geheftet, ehe er es von sich erhalten konnte, einen Versuch auf den Besitz ihrer Person zu thun: denn, ob ihn sein Blut zwar hierzu gar mächtig reizte, so hielten ihn doch seine Gundsätze davon eben so mächtig zurück. Ein junges Frauenzimmer verführen, so gering ihr Stand auch war, schien ihm ein schwarzes Verbrechen; und die Gewogenheit, die er für den Vater, und das Mitleiden, welches er mit seiner Familie hatte, kamen solchen enthaltsamen Betrachtungen sehr stark zu Hilfe; so daß er einstens beschloß, seine Neigung gänzlich zu unterdrücken, und sich wirklich drei ganze Monate enthielt, nur einmal nach Seegrims Hause zu gehen oder seine Tochter zu sehen.

 

Ob nun gleich Molly, wie gesagt, durchgängig für ein hübsches Mädchen gehalten wurde und es auch in der That war, so war doch ihre Schönheit eben nicht von der sanftesten Gattung. Sie hatte wirklich sehr wenig Weibliches und hätte einem Manne ebensogut angestanden als einem Frauenzimmer; denn, die Wahrheit zu sagen, so hatte Jugend und blühende Gesundheit einen wichtigen Anteil an der Komposition ihrer körperlichen Schönheit; auch ihr Gemüt war eben nicht viel weiblicher als ihre Person. So wie diese groß und derb war, so war jenes dreist und kühn; so wenig besaß sie von der weiblichen Schamhaftigkeit, daß Jones mehr Achtung für ihre Tugend hatte als sie selbst, und da sie wahrscheinlicherweise den Tom eben so gerne leiden mochte als er sie, so ward sie, nach eben dem Verhältnis, wie sie seine Blödigkeit wahrnahm, dreist und vorlaut; und als sie sah, daß er ganz und gar das Haus vermied, so fand sie Mittel, sich ihm in den Weg zu stellen, und betrug sich auf eine solche Art, daß der Jüngling entweder sehr viel oder auch sehr wenig von einem Helden hätte an sich haben müssen, wenn ihr Vorhaben nicht gelungen wäre. Mit einem Wort, sie siegte bald über unsres Tom Jones tugendhafte Entschließung. Denn, ob sie schon zuletzt sich mit allen anständigen Weigerungen betrug, so will ich doch den Sieg lieber ihr zuschreiben, weil es in der That ihr Plan war, der zur Ausführung kam. Bei dieser Ausführung spielte indessen Molly ihre Rolle so gut, daß Tom Jones die Eroberung ganz allein sich selbst zuschrieb und das junge Mädchen für eine Person ansah, die sich den heftigen Anfällen seiner Leidenschaft ergeben hätte. Ebenso auch setzte er ihre Ergebung auf Rechnung der unwiderstehlichen Stärke ihrer Liebe zu ihm; und dies wird der Leser für eine sehr natürliche und wahrscheinliche Voraussetzung halten, da wir schon mehr als einmal der ungemeinen Anmut seiner Person gedacht haben; denn er war wirklich einer der schönsten Jünglinge von der Welt.

Wie es einige Gemüter gibt, welche gleich dem jungen Herrn Blifil ihre Neigung auf eine einzige Person heften, deren Nutzen und Behaglichkeit sie einzig und allein bei jeder Gelegenheit in Betrachtung ziehen; die, in Absicht aller übrigen, Gutes und Böses für ziemlich gleichgültig halten, insoferne es keinen Bezug auf den Vorteil oder das Vergnügen jener Person hat: so gibt es eine andere verschiedene Gemütsart, welche einen gewissen Grad der Tugend von der Eigenliebe fast entlehnt. Ein solches Gemüt kann niemals eine Art von Gefälligkeit von einem andern Menschen erhalten, ohne das Geschöpf zu lieben, dem es diese Gefälligkeit zu verdanken hat, und ohne dessen Wohlsein zu einem notwendigen Bedürfnis für seine eigene Gemütsruhe zu machen.

Von dieser letztern Gattung war unser Held. Er betrachtete dies arme Mädchen als eine Person, deren Glückseligkeit oder Elend er von sich abhängig gemacht hätte. Ihre Schönheit war noch immer ein Gegenstand seiner Begierden, obgleich größere Schönheit oder ein frischerer Gegenstand es noch mehr gewesen sein möchten. Aber die kleine Erkältung, welche der Genuß wie einen Wirtel in dieses Gewölbe geschlagen hatte, ward durch die Rücksicht auf die Anhänglichkeit, womit sie ihm ergeben war, und durch die Lage, in die er sie versetzt hatte, mehr als aufgewogen. Die erste, ihre Anhänglichkeit nämlich, erzeugte Dankbarkeit und die letzte Mitleiden; und beide zusammen mit dem Begehren nach ihrer Person erregten in ihm eine Leidenschaft, die man, ohne dem Worte eben große Gewalt zu thun, jetzt wohl Liebe nennen konnte; wenn auch das Wort vorher nicht so eigentlich hätte gebraucht werden können.

Dies war demnach die wahre Ursache jener Unempfindlichkeit, die er gegen Sophiens Reize hatte blicken lassen, und des Betragens von ihrer Seite, welches man wohl nicht unbilligerweise als eine Aufmunterung, mit seinem Liebesantrage herauszugehen, hätte auslegen dürfen. Denn da es ihm nicht einfallen konnte, seine arme hilflose Molly zu verlassen, so konnte er auch nicht den Gedanken fassen, ein solches Geschöpf, wie Sophie, zu hintergehen. Und wahrhaftig, hätte er das geringste gethan, bei diesem jungen Frauenzimmer eine Leidenschaft für sich zu erregen, so wäre er platterdings eines oder des andern jener Verbrechen schuldig gewesen, wovon ihn eines schon in sehr gerechter Weise demjenigen Schicksal unterworfen hätte, das ihm, wie ich bei seiner ersten Einführung in diese Geschichte erwähnte, unfehlbar als sein gewisses Lebensende prophezeit worden war.