Tom Jones

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Zweites Kapitel.

Kurzer Wink von dem, was wir im Erhabenen zu leisten vermögen, und eine Beschreibung des Fräuleins Sophie Western.

Schweig', selbst leisestes Lüftchen, schweig'! Und du, heidnischer Satrap der Winde, leg' in eiserne Fesseln die groben Glieder des brausenden Boreas und den scharfbeißenden, mit spitzer Adlersnase dahersausenden Eurus. Und du, leiser Zephyr, hebe dich aus deinem Blumenlager; besteig' den westlichen Himmel und führ' uns herauf jenes liebliche Wehen, dessen Reiz die Farben entzündende Flora ihrer von Perlentau duftenden Kammer entruft, wenn sie am ersten des Juni, ihrem jährlichen Feste, schwebenden Fußes leicht hinhüpft über grünende Auen, wo jede Blum' emporstrebt der schönen Göttin zu huldigen, bis bunter Schmelz die Felder bedeckt und Farben streiten mit Wohlgerüchen, wer mehr, wer angenehmer sie entzücken soll.

In so reizvoller Schönheit möge sie nun erscheinen. Und ihr, gefiederte Sänger der Büsche und Wälder, deren süßwirbelnde Melodeien selbst ein Händel mit Künstlerneid bewundert, stimmt eure tonreichen Kehlen, ihrer Erscheinung entgegenzugrüßen. Liebe erzeugte euer Lied und lockt wieder Liebe hervor. So erweckt denn dies sanfte Gefühl in jedes zarten Jünglings Brust, denn siehe! geschmückt mit jedem Reiz, womit Natur nur schmücken kann; geziert mit Schönheit, Jugend, Unschuld, regem Geiste und zart bescheidner Sittsamkeit; von ihren Rosenlippen Maiendüfte atmend; von ihrem funkelnden Auge Morgenglanz strahlend, kommt sie daher, die liebenswürdige Sophie!

Leser, du hast vielleicht die Statue der mediceischen Venus gesehen. Vielleicht hast du auch eine Sammlung der ähnlichsten Porträts von den berühmtesten Schönheiten, verfertigt durch die ersten Meister unsrer Zeit, in dem Studierkabinette eines Fürsten oder Liebhabers gesehen; vielleicht erinnerst du dich noch von deinen Reisen durch England, Frankreich und Italien der schönsten Prinzessinnen, Gräfinnen und anderer Schönheiten, auf deren Wohl so manches Glas Wein geleert wurde; oder wenn ihr Reich nicht in deine Tage fiel, so hast du vielleicht ihre nicht weniger reizenden Töchter gesehen, deren Namen, wenn wir sie hierher setzen wollten, wie wir fürchten, den ganzen Band anfüllen würden.

Nun, hast du alles das gesehen, so fürchte nur nicht die ziemlich ungefeilte Antwort, welche einst Lord Rochester einem Manne gab, der viele Dinge gesehen hatte. Nein. Wenn du alles jenes gesehen hast, ohne zu wissen, was Schönheit sei: so hast du keine Augen, und hast du's gesehen, ohne seine Macht zu empfinden – nun so hast du kein Herz.

Dennoch, lieber Freund, ist's möglich, daß du alles jenes gesehen haben magst, ohne fähig zu sein, dir ein genau treffendes Bild von Sophie vorzustellen. Denn genau glich sie keiner einzigen von jenen allen. Am genauesten glich sie dem Porträt der Gräfin A. Mehr noch hat man mir gesagt, der Herzogin von Z. Am meisten aber glich sie einem Mädchen, dessen Bild nimmer aus meinem Herzen verlöschen wird, und wenn du dich deren noch erinnerst, mein Freund, so hast du eine ganz ähnliche Idee von Sophie.

Allein, weil du allenfalls nicht so glücklich gewesen sein möchtest, so wollen wir uns nach unsrem besten Vermögen bemühen, dieses Urbild zu beschreiben, ob wir gleich sehr wohl fühlen, daß unsre höchste Geschicklichkeit dieser Unternehmung nicht gewachsen sein wird.

Sophie also, die einzige Tochter des Junker Western, war ein Frauenzimmer von mittlerer Größe; doch eher darüber als darunter. Ihr Wuchs war nicht nur sehr regelmäßig, sondern sehr zierlich, und das genaue Ebenmaß ihres Arms versprach das schönste Verhältnis ihres übrigen Gliederbaues. Ihr schwarzbraunes Haar war von so langem Wuchs, daß es, ehe sie es, um sich nach der Mode zu bequemen, abschnitt, bis über ihren Gürtel herabreichte; und nun fiel es ihr in so anmutigen Locken um den Nacken, daß wenige glauben wollten, es sei ihr eignes. Wofern die Scheelsucht einen Teil ihres Gesichts aufspüren konnte, der weniger Bewunderung verdiente als das übrige, so mochte sie vielleicht meinen, die Stirn hätte ohne Nachteil des Ganzen ein wenig höher sein können. Ihre Augbrauen waren voll, eben und so gewölbt, daß keine Kunst vermögend war, sie nachzuahmen. Ihre schwarzen Augen hatten einen strahlenden Glanz, den alle ihre Sanftmut nicht auszulöschen vermochte. Ihre Nase war durchaus regelmäßig, und ihr Mund, welcher zwei Reihen Elfenbeins enthielt, entsprach pünktlich der Beschreibung des Dichters Suckling in folgenden Zeilen:

»Her Lips were red, and one was thin,

Compar'd to that was next her Chin.

Some Bee had stung it newly.«

Ihre Lippen war'n rot, und eine war dünn,

Verglichen mit der zunächst ihrem Kinn.

Ein Bienlein hatte sie neulich gestochen.

Ihre Wangen waren von der ovalen Art, und in der rechten hatte sie ein Grübchen, welches sich beim kleinsten Lächeln zeigte. Ihr Kinn hatte gewiß seinen Anteil an Ausbildung der Schönheit ihres Gesichts; es war aber schwer zu sagen, ob es schmal oder breit sei, vielleicht war es ein wenig mehr das letzte. Ihre Gesichtsfarbe ähnelte mehr der Lilie als der Rose; wenn aber körperliche Bewegung oder Schamhaftigkeit ihre natürliche Farbe erhöhte, so kam ihr das schönste Karmin nicht bei. Dann war man geneigt mit dem Dr. Donne auszurufen:

»– Her pure and eloquent Blood

Spoke in her Cheeks, and so distincty wrought,

That one might almost say her Body thought.«

– Ihr reines und beredsam Blut

Sprach auf den Wangen; sprach so hell, so gut,

Daß man fast gern gesagt, ihr Körper denke.

Ihr Hals war lang und stand auf einem höchst feinen Gewölbe; und hier, wenn ich nicht besorgte, ihre Delikatesse zu beleidigen, möchte ich mit Grund der Wahrheit sagen, wären die höchsten Schönheiten der Mediceischen Venus übertroffen worden. Hier war eine Weiße, mit der sich weder Lilien, noch Elfenbein, noch Alabaster messen konnten. Den feinst gebleichten Musselin konnte man beschuldigen, er bedecke aus Neid einen Busen, weil er weißer als er selbst. Er war wirklich:

»Nitor splendens Pario marmore purius.«

Reinern Glanzes als der hellest polierte Marmor von Paros.

So war Sophiens Aeußeres beschaffen. Auch ward dieser schöne Bau von keinem unwürdigen Bewohner erniedrigt. Ihre Seele war in allem Betracht dem Körper gleich; ja der letztere entlieh noch Reize von der erstern, denn wenn sie lächelte, goß die sanfte Güte ihres Herzens jenen strahlenden Schimmer über ihr Antlitz, den keine Regelmäßigkeit den Gesichtszügen zu geben im stande ist. Jedoch, da sie keine Tugendvollkommenheit besitzt, welche sich nicht in der vertrautesten Bekanntschaft, in die wir unsern Leser mit diesem liebenswürdigen jungen Geschöpfe zu bringen willens sind, von selbst entdecken werden, so ist es überflüssig solche hier aufzuzählen. Ja, es wäre sogar eine Art von Mißtrauen in den Verstand des Lesers und würde ihn des Vergnügens berauben, welches er dabei empfinden wird, wenn er sein eigenes Urteil über ihren Charakter fällt.

Es mag indessen nicht undienlich sein zu sagen: daß ihre Geistesgaben, so viele sie deren auch von der Natur empfangen hatte, doch einigermaßen durch die Kunst weiter ausgebildet waren; denn sie war unter der Aufsicht einer Tante erzogen, die viel Klugheit und eine vollkommene Weltkenntnis besaß, indem solche in der Jugend am Hofe gelebt, den sie aber seit etlichen Jahren verlassen und sich aufs Land begeben hatte. Durch den Umgang und Unterricht dieser Dame hatte Sophie vollkommene Lebensart gelernt, ob es ihr gleich vielleicht noch ein wenig an der Leichtigkeit des Betragens fehlte, welche sich bloß durch Gewohnheit erwerben läßt und dadurch, daß man fleißig und viel mit der sogenannten feinen Welt lebt. Doch wird diese, die Wahrheit zu sagen, oft ein wenig teuer erkauft; und ob sie gleich einen so unnennbaren Zauber hat, daß die Franzosen unter anderen Eigenschaften vermutlich auch diese mit auszudrücken meinen, wenn sie ihr Ich weiß nicht was? nennen: so wird doch ihr Abgang durch Unschuld sehr reichlich ersetzt. Auch kann eine gesunde Vernunft und natürliche Artigkeit derselben sehr wohl entbehren.

Drittes Kapitel.

In welchem die Geschichte rückwärts geht, um einen geringfügigen Umstand nachzuholen, der sich vor einigen Jahren zutrug; der aber, so unbedeutend er war, nachher einige Folgen hatte.

Die liebenswürdige Sophie war in ihrem achtzehnten Jahre, da sie in dieser Geschichte aufgeführt wird. Ihr Vater, wie schon gesagt ist, hatte sie lieber als irgend ein anderes menschliches Geschöpf. An sie wendete sich also Tom Jones, um ihre Fürsprache für seinen Freund, den Wildmeister, zu erbitten.

Doch, ehe wir zu diesem Geschäfte kommen, wird eine kurze Wiederholung einiger vorläufigen Materien nötig sein.

Obgleich die Verschiedenheit der Charaktere des Herrn Western und Herrn Alwerth keine eben allzugenaue Freundschaft verstattete, so lebten sie doch, wie man's zu nennen pflegt, auf einem ganz freundschaftlichen Fuß. Vermöge dessen waren die jungen Leute aus beiden Familien von Jugend auf mit einander bekannt gewesen, und weil sie alle von ungefähr gleichem Alter waren, hatten sie auch oft mit einander ihre Kinderspiele getrieben.

Das muntre Wesen des Tom vertrug sich besser mit Sophie als die trockne, ernsthafte Gemütsart des jungen Herrn Blifil; und der Vorzug, den sie dem ersteren von ihnen gab, zeigte sich oft so deutlich, daß ein Jüngling von heftigerer Leidenschaft, als Neffe Blifil war, wohl sein Mißfallen darüber bezeigt haben möchte.

 

Da er unterdessen äußerlich kein solches Mißvergnügen äußerte, so wäre es von uns eben nicht freundschaftlich gehandelt, wenn wir in dem Geheimzimmer seines Herzens einen Besuch abstatten wollten, wie wohl einige hämische Leute die geheimsten Sachen ihrer Freunde durchsuchen und oft ihre Bücher und Silberschränke durchstänkern, bloß um ihre Armut und Kleinheit der Welt zu entdecken.

Weil gleichwohl Personen, welche vermuten, daß sie andern Ursache gegeben haben sich für beleidigt zu halten, leicht schließen, daß sie wirklich beleidigt sind: so schob Sophie eine Handlung des jungen Blifil auf seinen gereizten bösen Willen, die die höhern Einsichten Schwögers und Quadrats aus einem weit bessern Grundsatze herzuleiten im stande waren.

Tom Jones hatte, als er noch sehr jung war, Sophie einen kleinen Vogel geschenkt, den er aus dem Neste genommen, aufgefüttert und singen gelehrt hatte.

In diesen Vogel war Sophie, die damals ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte, so verliebt, daß es ihr Hauptgeschäft war, sein zu warten und zu pflegen, und ihr Hauptvergnügen, mit ihm zu spielen. Hier durch war Tömchen, denn so ward der Vogel genannt, so zahm geworden, daß er seiner Herrin aus der Hand fraß, sich auf ihren Finger setzte und sang und ganz ruhig in ihrem Busen lag, woselbst er sich seiner Glückseligkeit ordentlich bewußt zu sein schien; ob sie ihn gleich immer an einem dünnen Faden am Fuße gefangen hielt und sich niemals getraute ihn frei herumfliegen zu lassen.

Eines Tages, als Herr Alwerth mit seiner ganzen Familie bei Herrn Western zum Mittagessen geladen war, befand sich Neffe Blifil mit der kleinen Sophie im Garten, und da er so die außerordentliche Liebe bemerkte, die sie zu ihrem kleinen Vogel hatte, bat er sie, sie möchte ihn doch nur auf einen Augenblick in seine Hände geben. Sophie willigte augenblicklich in das Verlangen ihres Spielkameraden, und nach vorläufiger Warnung, ihn ja nicht fliegen zu lassen, gab sie ihm den Vogel hin, in dessen Besitz er sich nicht so bald sah, als er den Faden von dem Fuße abstreifte und ihn in die Luft schnellte.

Das dumme Tier fühlte sich nicht so bald in Freiheit, als es alle Gunst, die es von Sophien genossen, vergaß, gerades Weges von ihr weg flog, und sich in einiger Entfernung auf einen Zweig setzte.

Sophie, die ihren Vogel verloren sah, erhub ein so lautes Geschrei, daß Tom Jones, der sich nicht weit von da befand, augenblicklich zu ihrem Beistande hereilte.

Sobald er vernommen, was vorgegangen, schalt er Blifil einen duckmäuserischen Leisetritt von Buben, warf flugs den Rock ab und machte sich dran, den Baum hinaufzuklettern, auf welchen der Vogel geflogen war.

Tom hatte seinen kleinen Namensvetter beinahe schon wieder erhascht, als der Zweig, auf dem das Tierchen saß und der über einem Kanal hing, brach, und der arme Knabe über Hals und Kopf ins Wasser plumpte.

Sophiens Besorgnis veränderte nun den Gegenstand, und weil sie fürchtete, des armen Jungen Leben sei in Gefahr, so schrie sie noch zehnmal lauter als vorher; und in der That half ihr jetzt Neffe Blifil aus allen Kräften schreien, was seine Kehle nur vermochte.

Die Gesellschaft, welche in einem am Garten gelegenen Zimmer saß, ward augenblicklich aufgeschreckt und kam insgesamt herbei; aber eben, als sie den Kanal erreichten, kam Tom (denn das Wasser war zum Glück an der Stelle ziemlich flach) wohlbehalten ans Ufer.

Schwöger fiel heftig über den armen Tom her, welcher triefend und vor Frost schaudernd vor ihm stand, als Herr Alwerth ihn bat, Geduld zu haben und darauf, indem er sich zu seinem Neffen Blifil wendete, sagte: »Sprich doch, Kind! Was hat denn dieser Auflauf zu bedeuten? Was gibts denn?« Neffe Blifil antwortete: »O, lieber Onkel, es thut mir gewiß sehr leid, was ich gethan habe; ich bin unglücklicherweise an allem schuld gewesen. Ich hatte Sophiens Vogel in der Hand, und da kam's mir vor, als ob er sich nach der Freiheit sehnte, und da konnt' ich's nicht über mein Herz bringen, ich muß es gestehen, ich mußt' ihm seinen Wunsch thun; denn ich habe immer gedacht, es wäre was Grausames darin, ein lebendiges Wesen einzusperren. Es dünkte mich gegen das Gesetz der Natur, nach welchem jedes Ding ein Recht zur Freiheit hat. Ja, es ist sogar unchristlich; denn es ist nicht gethan, wie wir wollen daß man uns thue. Hätte ich aber gedacht, daß es Fräulein Fiekchen so sehr sich zu Herzen nehmen würde, so würde ich mich gewiß wohl gehütet haben es zu thun; ich hätte es auch nicht einmal gethan, wenn ich gewußt hätte, wie es dem Vogel selbst ergehen würde; denn als Tom, der den Baum hinauf kletterte, um ihn wieder zu kriegen, ins Wasser fiel, flog der Vogel wieder auf, und da kam gleich ein Habicht und fing ihn weg.«

Die arme Sophie, die jetzt erst das Schicksal ihres Vogels vernahm, (denn ihre Besorgnis um Jones hatte sie abgehalten weiter nach dem Vogel zu sehen), vergoß nun einen Strom von Thränen. Diese suchte Herr Alwerth dadurch zu trocknen, daß er ihr einen viel hübscheren Vogel versprach; sie sagte aber, sie wolle in ihrem Leben keinen wieder haben. Ihr Vater schalt sie darüber aus, daß sie so über einen dummen Vogel heulte; konnte sich jedoch dabei nicht entbrechen, dem jüngern Blifil zu sagen: wenn er sein Sohn wäre, so wollte er ihm dafür den Rücken derb abbläuen.

Sophie ging nun nach ihrem Zimmer; die jungen Herrchen wurden nach Hause gesandt und die übrige Gesellschaft kehrte wieder zu ihren Flaschen und Gläsern zurück; woselbst über den Vorfall mit dem Vogel ein Gespräch erfolgte, das so sonderbar war, daß wir meinen, es verdiene sein eigenes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Enthält solche gründliche und ernsthafte Materien, daß vielleicht einige Leser wenig Behagen daran finden werden.

Quadrat hatte nicht so bald seine Pfeife angezündet, als er sich an Herrn Alwerth wendete und folgendergestalt anhub: »Herr, ich kann nicht umhin, Ihnen zu Ihrem Neffen Glück zu wünschen, der in einem Alter, worin wenige Knaben andere als sinnliche Begriffe haben, schon das Vermögen erlangt hat, zwischen Recht und Unrecht zu distinguieren. Irgend ein lebendiges Wesen einzuschränken, scheint mir gegen das Gesetz der Natur, nach welchem jedes Ding ein Recht zur Freiheit hat. Das waren seine Worte; und der Eindruck, den solche auf mich gemacht haben, wird niemals wieder verlöschen. Kann ein Mensch auf der Welt höhere Begriffe von der Regel des Rechts und der ewigen Harmonie der Dinge haben? Ich kann mich nicht entbrechen, mir von solch einer Morgenröte zu versprechen, daß der volle Tag dieses Jünglings ebenso glänzend sein muß, als eines von beiden, des ältern oder des jüngern Brutus.«

Hier fiel ihm Schwöger hastig ins Wort, verschüttete etwas Wein aus dem Glase, verschlang eilig das übrige und antwortete: »Aus einem andern Ausdruck, dessen er sich bediente, hoff' ich, soll er viel bessern Männern ähnlich werden. Gesetz der Natur ist ein Klingklang von Worten, wohinter gar nichts steckt. Ich weiß nichts von solchen Gesetzen, noch von irgend einem Recht, das daraus hergeleitet werden könnte. Thu' andern, was du willst daß dir geschehe, das ist das wahre christliche Motiv, wie sich der Knabe sehr richtig ausdrückte; und ich freue mich, zu finden, daß mein Unterricht so gute Früchte erzeugt hat.«

»Wenn Eitelkeit mit der ewigen Harmonie der Dinge bestehen könnte,« sagte Quadrat, »so dürfte ich mir über eben den Umstand vielleicht einiges erlauben; denn, aus welcher einzigen Quelle er seine Begriffe von Recht und Unrecht geschöpft haben könne, liegt, sollt' ich meinen, klar genug am Tage. Wenn es kein Gesetz der Natur gibt, so gibt's auch weder Recht noch Unrecht.«

»Wie?« sagte der Theolog, »Sie leugnen also die Offenbarung? Sprech' ich hier mit einem Deisten oder Atheisten?«

»Gläser eingeschenkt!« sagte Western, »packt ein, mit eur'n Gesetzen der Natur! Ich weiß nicht, was ihr beide meint, mit eur'm Recht und Unrecht! Mein'm Mädchen sein'n Vogel nehm'n, war Unrecht! das mein' ich. Und mein Nachbar Alwerth mag's mach'n wie 'r will, was schiert's mich! Aber, die Jungens in solch'n Kniffen bestärken, das heißt Galgenschweng'l draus ziehn!«

Alwerth antwortete: was sein Neffe gethan habe, thäte ihm freilich leid; doch könne er nicht darein willigen, daß der Knabe dafür gestraft würde, weil er mehr aus einem großmütigen, als aus einem niederträchtigen Bewegungsgrunde gehandelt habe. Er sagte: »Wenn der Bursche den Vogel gestohlen hätte, so würde er selbst für eine viel strengere Züchtigung, als der Herr Nachbar, gestimmt haben. Aber es wär' klar, daß solches seine Absicht nicht gewesen.« Und in der That war es ihm klar, daß er keine andre Absicht dabei gehabt haben könnte, als die er selbst gestand. (Denn was die hämische Tücke betrifft, wegen welcher Sophie ihn im Verdacht hatte, so kam die dem Herrn Alwerth nicht einmal in die Gedanken.) Endlich schloß er damit, daß er nochmals die Handlung als unbedachtsam tadelte und solche nur bei einem Kinde für verzeihlich hielt.

Quadrat hatte seine Meinung so unverhohlen herausgesagt, daß er, wenn er jetzt geschwiegen, gleichsam eingeräumt hätte, sein Urteil sei ganz nichtig gewesen; er sagte daher mit einiger Hitze: »Herr Alwerth habe zu viel Achtung für die lumpige Rücksicht auf Eigentum. Alle dergleichen besondere Rücksichten müsse man beiseite setzen, wenn man über große und mächtige Handlungen ein Urteil fällen wollte. Denn, wenn man sich an solche eingeschränkte Regeln halten wollte, so müßte man den jüngern Brutus verdammen als einen Undankbaren, und den ältern als einen Mörder seines eignen Blutes.«

»Und wenn sie beide wegen ihrer Schandthaten wären gehängt worden,« schrie Schwöger, »so wär' ihnen weiter nichts geschehen, als was ihre Thaten wert waren. Die heidnischen Schurken, die! Gott sei gelobt, daß wir heutigestags keine Brutusse mehr haben! Ich wünschte, Herr Quadrat, Sie wollten sich enthalten, die Gemüter meiner Untergebenen mit solchem antichristlichen Wischiwaschi anzufüllen; denn es kann nichts andres daraus entstehen, so lange sie unter meiner Aufsicht sind, als daß ich's wieder herausprügeln muß. Da ist Ihr Zögling, Tom, der ist fast schon völlig verderbt. Ich hört' ihn vor einigen Tagen mit meinem Blifil disputieren: beim Glauben ohne Werke wäre kein Verdienst. Ich weiß, das ist so einer von Ihren Glaubensartikeln, und ich denke, er hatte das von Ihnen und von niemand sonst.«

»Klagen Sie nur nicht, daß ich ihn verderbe,« sagte Quadrat. »Wer lehrte ihn über alles zu lachen, was tugendhaft ist und wohlanständig und schicklich und recht, nach der Harmonie der Natur der Dinge? Ihr Schüler ist er, nicht der meine! Nein; das verbitt' ich mir, nein, nein! Blifil, das ist mein Herzblatt. So jung er ist, so fordre ich Sie heraus, des Jünglings Begriffe von moralischer Rechtschaffenheit wieder auszurotten.« Schwöger antwortete hierauf mit einem verächtlichen Naserümpfen und sagte: »Nu, nu! Den will ich Ihnen wohl anvertrauen. Er ist zu wohl gegründet, als daß ihm all Ihr philosophisches Geschwätz etwas schaden könnte. Nein, nein! Dafür hab' ich gesorgt, und hab' ihm solche Grundsätze beigebracht, daß« –

»Und auch ich habe ihm Grundsätze beigebracht,« schrie Quadrat. »Was, außer der erhabenen Idee von Tugend, könnte einem menschlichen Gemüt den großmütigen Gedanken einflößen, Freiheit zu erteilen? Und, ich sag's Ihnen noch einmal, wenn es schicklich wäre, stolz zu sein, so könnte ich auf die Ehre Anspruch machen, ihm diese Idee beigebracht zu haben.« –

»Und wenn nicht geschrieben stände: Niemand rühme sich selbst,« sagte Schwöger, »so dürfte ich von mir sagen, daß ich ihn die Pflicht gelehrt habe, welche er selbst als seinen Bewegungsgrund anführt.«

»So! Zankt Euch wohl noch drum!« sagte der Junker. »Von allen beiden, seh' ich, lernen die Knab'n meiner Tochter ihren Vogel zu stehlen. Ich sehe wohl, 'ch muß uf mein Geheg' weidlich Achtung geb'n! Es kömmt m'r sonst noch ein oder der andere Kerl und setzt mir aus purer Tugend oder christlicher Andacht meine Hasen und Rebhühner in Freiheit.«

Hierauf klopfte er einem neben ihm sitzenden Rechtsgelehrten auf die Schulter und schrie: »Was sagen Sie dazu, Herr Lizentiat? Ist das nicht gegen die Gesetze?«

Der Jurist gab mit großer Ernsthaftigkeit folgendes Decisum von sich:

»Falls der Fall ein Rebhuhn beträfe, so ist es zweifelsohne, daß eine standhafte Aktion stattfinden müßte. Denn, alldieweilen zwar sothanes Rebhuhn ferae naturae ist: so kann es doch als ein durch Lehn oder Kauf acquiriertes Eigentum zu Recht reklamieret werden; wenn aber andernfallsigenteils das Objectum litis ein Singvogel ist: so muß es, obgleich rechtsbeständig reklamiert, dennoch als ein seiner Natur und Wesen nach wenig bedeutendes Ding billig als nullius in bonis konsiderieret werden. In diesem Falle wäre, nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten, actor mit seiner Klage ab- und zurückzuweisen; und, falls ein solcher Kläger mich als seinen Rechtsbeistand konsultieren wollte, so würde mein zu Recht gegründetes Bedenken dahin gehen: einen solchen Prozeß sogleich in seiner Entstehung fallen zu lassen.«

 

»Wohlan,« sagte der Junker, »wenn's denn nullus bonus ist, so lassen Sie uns 'nmal trinken und 'n bißchen vom Zustand der Nation sprechen; oder von sonst so was, das wir all' verstehn. Nein, mein Seel! Ich versteh kein Wort von euerm ganzen Tischkurse. Gelehrt und sehr klug mag's wohl sein; 'ch hab nichts dagegen; aber, mich sollt ihr's niemals weißmachen! der Hagel! seht! Da hat keiner von euch des armen Jungen mit einem einzigen Worte gedacht, der so brav ist und so viel Lob verdient. Der's wagte, sein'n Hals zu brechen, mein'm Fiekchen zu Gefallen. Das war mir 'ne großmutsherzige That! So gelehrt bin ich, daß ich das einsehen kann. Sapperment! Hier, uf Toms Gesundheit! Ich werde den Jungen lieb haben, und wenn ich auch noch hundert Jahre leben sollte.«

Auf diese Art ward die gelehrte Debatte unterbrochen. Sie würde aber wahrscheinlicherweise sehr bald wieder angeknüpft worden sein, hätte nicht gleich darauf Herr Alwerth seine Kutsche vorrufen lassen und die beiden gelehrten Fechter mit sich genommen. So war der Ausgang des Abenteuers mit dem Vogel und der dadurch veranlaßte Dialog beschaffen, welchen wir unsern Lesern erzählen mußten; ob solcher gleich, oder vielmehr, ob die Geschichte gleich einige Jahre vor der Periode zutraf, bis zu welcher wir mit unsrer Geschichtserzählung fortgerückt sind.