Tom Jones

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa
Drittes Buch.
Erstes Kapitel.

Enthält wenig oder nichts.

Der Leser wird so gefällig sein, sich zu erinnern, daß wir ihm zu Anfang des zweiten Buches dieser Geschichte einen Wink von unserem Vorsatze gegeben haben, daß wir verschiedene lange Zeitperioden, in welchen nichts vorgefallen, das in unserer Chronika aufgezeichnet zu werden verdiente, völlig überschlagen würden. Bei dieser Verfahrungsart ziehen wir nicht nur unsere eigene Würde und Bequemlichkeit zu Rate, sondern auch den Nutzen und Vorteil des Lesers, denn überdem, daß wir ihn dadurch abhalten, seine Zeit beim Lesen solcher Dinge wegzuwerfen, die ihm weder Nutzen noch Vergnügen schaffen können, geben wir ihm bei allen solchen Lücken eine Gelegenheit, seinen erstaunlichen Scharfsinn zur Ausfüllung dieser leeren Zeiträume mit seinen eigenen Konjekturen anzuwenden, und wir sind besorgt gewesen, ihn in den vorhergehenden Blättern zu diesem Unternehmen tüchtig zu machen.

Wo ist zum Exempel der Leser, welcher nicht wisse, daß Herr Alwerth über den Verlust seines Freundes jene Bewegungen der Traurigkeit fühlte, welche bei solchen Gelegenheiten alle Menschen ergreift, deren Herzen nicht aus Kieselsteinen, oder deren Köpfe nicht aus ebenso harter Materie gemacht sind? Ferner, welcher Leser weiß nicht, daß Philosophie und Religion mit der Zeit die Traurigkeit mäßigt und endlich gar hinwegnimmt? Die erste dieser beiden, indem sie die Thorheit und Eitelkeit derselben lehrt, und die letzte, indem sie solche, als unserer Pflicht entgegenlaufend, bestrafet und zu gleicher Zeit durch solche Hoffnungen und Zusicherungen besänftigt, welche ein starkes und frommes Gemüt fähig machen, von einem Freunde auf seinem Sterbebette mit etwas minderer Gleichgültigkeit Abschied zu nehmen, als wenn er zu einer langen Reise Vorkehrungen träfe, und freilich auch mit etwas weniger Hoffnung, ihn wiederzusehen.

Ebensowenig kann auch der verständige Leser in Ansehung der Frau Brigitta Blifil in Verlegenheit sein, welche, wie er ihr nur dreist glauben mag, die ganze Zeit hindurch, welche sie in äußerlicher Traurigkeit des Körpers zu erscheinen hatte, sich nach den strengsten Regeln der Gewohnheit und des Wohlstandes betrug und die Veränderung ihrer Mienen genau nach der Aenderung in den Trauerkleidern einrichtete. Denn sowie diese von der dichten Florkappe bis zur schwarzen Kreppe, von der Kreppe zum Grauen, vom Grauen zum Weißen, und endlich von Franzen zu Spitzen sich abändert, ebenso veränderten sich ihre Mienen und ihr Gesicht vom Untröstlichen zum Gram, vom Gram zur Betrübnis, von der Betrübniß zum Traurigen, vom Traurigen zum Ernsthaften, bis der Tag ankam, da es ihr erlaubt war, zu ihrer vormaligen Heiterkeit zurückzukehren.

Wir haben dieser beiden Exempel bloß als solcher Aufgaben erwähnt, die man den Lesern von der niedrigsten Klasse vorlegen kann. Von den höher Graduierten in der edlen Kunst der Kritik kann man nach aller Billigkeit weit schwerere und mühsamere Uebungen der Beurteilungskraft und des Scharfsinns erwarten. Von solchen werden, wie ich nicht zweifle, manche merkwürdige Entdeckungen gemacht werden über die Begebenheiten, welche in der Familie unseres würdigen Mannes alle die Jahre hindurch vorfielen, die wir für ratsam erachtet haben, zu überschlagen. Denn obgleich während dieser Zeit nichts vorging, welches einen Platz in dieser Geschichte verdiente, so ereigneten sich doch verschiedene Zufälle von gleicher Wichtigkeit mit denen, welche die täglichen und wöchentlichen Geschichtschreiber unserer Zeit zu Papiere bringen, bei deren Lesung eine große Anzahl Menschen einen wichtigen Teil ihrer Zeit hinbringen und zwar, wie ich fürchte, mit gar geringem Nutzen. Nun kann man aber bei den hier vorgeschlagenen Konjekturen einige der vortrefflichsten Geistesfähigkeiten mit vielem Vorteil üben, indem es eine weit nützlichere Kunst ist, die Handlungen der Menschen unter allerlei Umständen aus ihrem Charakter vorherzusagen, als ihre Charaktere aus ihren Handlungen zu beurteilen. Das erste, gesteh' ich, erfordert tiefere Einsichten, ist aber bei wirklichem Scharfsinn mit so großer Gewißheit thunlich, als das letzte.

Da wir einsehen, daß der ungleich größeste Teil unserer Leser diese Eigenschaft in einem sehr hohen Grade besitzt, so haben wir ihm einen Zeitraum von zwölf Jahren überlassen, woran er solche üben kann, und wollen nun unsern Helden in einem Alter von ungefähr vierzehn Jahren auftreten lassen, nicht zweifelnd, daß schon manche mit Ungeduld die Gelegenheit erwartet haben, mit ihm etwas nähere Bekanntschaft zu machen.

Zweites Kapitel.

Der Held dieser großen Geschichte erscheint unter sehr schlimmen Vorbedeutungszeichen. Eine kleine Erzählung von so niedriger Gattung, daß einige meinen werden, sie hätte wohl wegbleiben können. Ein paar Worte über einen Landjunker und mehrere über einen Wildmeister und über einen Schulmeister.

Da wir uns, sowie wir uns niedersetzten, diese Geschichte aufzuschreiben, alsobald vornahmen, keinem Menschen zu schmeicheln, sondern unsere Feder durchgängig nach Anweisung der Wahrheit zu führen, so sind wir genötigt, unsern Helden auf eine viel nachteiligere Weise auf die Bühne zu bringen, als wir wohl gewünscht hätten, und selbst bei diesem ersten Auftritte ganz ehrlich und redlich zu gestehen, daß alle Hausgenossen des Herrn Alwerth der einstimmigen Meinung waren, er sei gewiß zum Galgen geboren.

In der That, es thut mir leid, es zu sagen! es waren nur zu viele Gründe für diese Ahnung vorhanden. Der Bursche hatte von seinen frühesten Jahren an einen Hang zu manchen Lastern geäußert, und besonders zu einem, welches ebenso geraden Weges als alle übrigen zu diesem Ende führt, das, wie wir eben bemerkt haben, ihm in prophetischem Geiste vorher verkündigt ward. Er war bereits dreier Verbrechen wider das siebente Gebot überwiesen worden, nämlich der Beraubung eines Obstgartens, des Diebstahls einer Ente vom Hofe eines benachbarten Pächters, und der Mauserei eines Balls aus der Tasche des kleinen Blifil.

Die Laster dieses Jünglings bekamen dabei noch eine häßlichere Gestalt durch das nachteilige Licht, in welchem sie erschienen, wenn sie den Tugenden des jungen Herrn Blifils, seines Spielkameraden, entgegengestellt wurden: ein Jüngling von einer so verschiedenen Gemütsart von Jones, daß nicht nur die Leute des Hauses, sondern die ganze Nachbarschaft ihn lobpreiseten. Er war in der That ein Knabe von hervorstechendem Charakter, eingezogen, klug und fromm über sein Alter. Eigenschaften, welche ihm die Liebe eines jeden gewannen, der ihn nur kannte; währenddessen den Tom Jones niemand leiden mochte, und mancher seine Verwunderung äußerte, wie Herr Alwerth zugeben könnte, daß ein solcher Junge mit seinem Neffen erzogen würde, weil die Lippen des letzteren so leicht durch sein Beispiel verdorben werden könnten.

Ein Zufall, welcher sich ungefähr um diese Zeit zutrug, wird die Charaktere dieser beiden Jünglinge dem einsichtsvollen Leser weit richtiger darstellen, als es durch die längste Dissertation möglich ist.

Tom Jones, der nun einmal, so schlecht er auch ist, unserer Geschichte zum Helden dienen muß, hatte nur einen Freund unter allen Bedienten des Hauses, denn Jungfer Wilkins hatte sich seiner schon längst entsagt und war mit ihrer gnädigen Frau völlig wieder ausgesöhnt. Dieser Freund war der Wildmeister oder Förster, ein Kerl von sehr lockern Sitten, und von dem man meinte, er habe eben nicht viel richtigere Begriffe von dem Unterschiede zwischen meum und tuum, als das junge Herrchen selbst, und dieserwegen gab diese Freundschaft Gelegenheit zu manchen beißenden Anmerkungen, wovon die meisten entweder schon Sprichwörter waren, oder es doch wenigstens nachher geworden sind, und in der That kann man den Witz von allen in dem kurzen lateinischen Spruche begreifen: Noscitur a socio, welchen soviel ich weiß, unsere Vorfahren auf folgende Art ausdrückten: Gleich sucht sich, gleich find't sich! – Die Wahrheit zu sagen, mochte wohl etwas von der abscheulichen Ruchlosigkeit des Jones, wovon wir eben drei Beispiele angeführt haben, der Aufmunterung zuzuschreiben sein, die er von diesem Kerl erhalten hatte, welcher in zwei oder drei Fällen das gewesen war, was man einen Hehler oder Teilnehmer nach der That heißt, denn die ganze Ente und ein großer Teil von den Aepfeln ward im Gebrauche des Wildmeisters und der seinigen verwendet, obgleich Jones, der arme Bursche, weil er allein entdeckt ward, nicht nur den ganzen Schmerz, sondern auch den ganzen Tadel allein davontragen mußte, und beides fiel ihm abermals, bei folgender Gelegenheit, zum Lose. Hart an Herrn Alwerths Ländereien lag der Wohnsitz eines jener Landjunker, die man Wildheger nennt. Wegen der großen Strenge, womit diese Gattung von adeligen Herrn den Tod eines Hasen oder Feldhuhns rächen, sollte man glauben, sie wären von der abergläubischen Sekte der Bannianen in Indien, von welchen manche, wie uns erzählt wird, ihr ganzes Leben zur Verteidigung und Beschützung gewisser Tiere widmen, wenn nicht unsere engländischen Bannianen, derweil sie solche gegen andere Feinde verteidigen, höchst unbarmherziger Weise ganze Pferdeladungen davon niederschössen; dergestalt also muß man sie wohl von jenem heidnischen Aberglauben los und ledig sprechen.

Ich habe wirklich eine bessere Meinung als alle andern von dieser Gattung von Landedelleuten, weil ich dafür halte, daß sie der Ordnung der Natur und den guten Endzwecken, zu welchen sie da sind, auf eine sehr thätige Weise entsprechen. So wie nun Horaz uns sagt, daß es eine Art menschlicher Geschöpfe gibt,

 

»Fruges consumere nati«

»geboren, die Früchte des Landes zu verzehren,« so zweifle ich im geringsten nicht, daß es eine andere gibt,

»Feras consumere nati«

»geboren, das Vieh des Feldes zu verzehren,« oder wie man's gemeiniglich nennt, das Wild. Und ich sollte denken, niemand wird es leugnen wollen, daß diese Junker den Zweck ihrer Schöpfung redlich erfüllen.

Der kleine Jones ging eines Tages mit dem Wildmeister auf die Jagd, als zufälligerweise nahe an der Grenze jenes Landsitzes, über welchen die Glücksgöttin, den weisen Zweck der Natur zu erfüllen, einen von jenen Wildverzehrern zum Herrn gesetzt hatte, eine Kitte Feldhühner aufstieg. Die Vögel flogen über die Grenze, und wurden von den beiden Weidmännern in einem Tangelbusche, ungefähr dreihundert Schritte aus dem Revier des Herrn Alwerth, gemarkt.

Herr Alwerth hatte dem Wildmeister strenge Befehle gegeben, bei Verlust seines Dienstes die Wildfuhr seiner Nachbarn zu vermeiden; selbst sogar derjenigen, welche in diesem Punkt nicht so heikel waren als der Herr des ebengedachten Gutes. In Ansehung der übrigen waren nun freilich die Befehle nicht immer sehr gewissenhaft befolgt worden; da aber die Gesinnungen des Junkers, bei welchem die Feldhühner sich in Schutz begeben hatten, ganz ruchbar waren, so hatte es der Wildmeister noch nicht gewagt, ihm ins Gehege zu gehen. Auch hätte er's jetzt noch nicht gethan, hätte ihn nicht der jüngere Geselle, welcher außerordentlich hitzig war, das Flügelwild zu verfolgen, ihn dazu überredet; bei Jones' Andringen aber gab er, da er schon selbst schießlustig genug war, diesen Bitten nach, setzte über das Mal und schoß eins von den Hühnern.

Dieser Grenznachbar war eben zu Pferde in einer geringen Entfernung von ihnen, und als er den Schuß fallen hörte, ritt er augenblicks nach der Stelle zu und entdeckte den armen Jones, denn der Wildmeister war in ein Dickicht des Tangelbusches gesprungen, woselbst er sich glücklich verborgen hielt.

Nachdem der Junker den Burschen durchsucht und das Feldhuhn bei ihm gefunden hatte, gelobte er ihm bittere Rache und schwur: er wolle es Herrn Allwerth anzeigen. Er hielt redlich Wort, denn er ritt von der Stelle nach seinem Hause und beklagte sich über den Einfall in sein Gehege mit ebenso kräftigen Worten und bittern Redensarten, als ob man Einbruch in sein Haus gethan und das köstlichste Gerät daraus gestohlen hätte. Er fügte hinzu, daß noch ein anderer Bursche dabei gewesen, ob er ihn gleich nicht hätte entdecken können, weil zwei Gewehre fast in einem Augenblick wären abgeschossen worden, »und«, sagt' er, »ich habe wohl nur dies eine Stück gefunden, aber Gott weiß, welchen großen Schaden sie mir angerichtet haben.«

Bei seiner Heimkunft ward Tom augenblicklich vor Herrn Alwerth zu erscheinen beordert. Er gestand die That ein, und führte nichts zur Entschuldigung an, als was wirklich wahr war, nämlich, daß das Volk in der eigenen Markung des Herrn Alwerth aufgestiegen wäre. Hierauf ward Tom befragt, wen er bei sich gehabt hätte? Und Herr Alwerth erklärte ihm, daß er das ein für allemal wissen wolle; dabei er ihm den Umstand mit den beiden Flinten vorhielt, welchen der Junker und seine beiden Bedienten in der Klage urgiert hatten; allein Tom beharrte standhaft dabei, er sei allein gewesen, doch stockte er die Wahrheit zu sagen anfangs ein wenig, welches dann Herrn Alwerths Glauben bestärkt haben würde, wofern das, was der benachbarte Junker und seine beiden Bedienten denunziert hatten, einer weiteren Bekräftigung bedurft hätte.

Der Wildmeister ward, als sonst bereits anrüchig, herbeigeholt und ihm die Frage vorgelegt; er aber, der sich auf das Versprechen, was ihm Tom gethan hatte, verließ, verneinte ganz kecker Weise, daß er in der Gesellschaft des jungen Herrn gegangen wäre, oder ihn nur den ganzen Nachmittag mit Augen gesehen hätte.

Hierauf wandte sich Herr Alwerth an Tom mit mehr als gewöhnlichem Verdruß im Gesicht, und riet ihm zu bekennen, wer mit ihm gewesen wäre, mit nochmaliger Wiederholung, er bestehe darauf, es zu wissen! Der junge Mensch blieb indes fest auf seiner Entschließung, und ward von Herrn Alwerth in großem Zorn entlassen, der ihm sagte: bis zum nächsten Morgen habe er noch Bedenkzeit, dann solle er von einer andern Person und auf eine andere Art verhört werden.

Der arme Knabe hatte eine sehr melancholische Nacht! Um so mehr, da er seinen gewöhnlichen Kameraden vermißte; denn der junge Herr Blifil war mit seiner Mutter auf einen Besuch gegangen. Furcht vor der Strafe, die ihm bevorstand, war bei dieser Gelegenheit sein geringster Kummer. Seine größeste Angst war, es möchte ihn seine Standhaftigkeit verlassen und er dahin gebracht werden, den Wildmeister zu verraten, wodurch dieser, wie er wußte, völlig unglücklich werden müßte.

Der Wildmeister brachte seine Zeit ebenfalls nicht viel ruhiger hin. Er hatte mit dem Jüngling einerlei Besorgnis, für dessen Ehre er gleichfalls mehr Zärtlichkeit empfand, als für dessen Haut.

Als Tom des folgenden Morgens Sr. Ehrwürden, Herrn Schwöger (der Mann, dem Herr Alwerth den Unterricht der beiden Jünglinge anvertrauet hatte) aufwartete, wurden ihm von diesem Herrn dieselbigen Punkte wieder vorgelegt, worüber er des Abends vorher war befragt worden, auf die er eben dieselbige Antwort gab; die Folge davon war ein so derber Schilling, daß die Schmerzen davon vielleicht nahe an die Tortur grenzten, womit man in einigen Ländern den Verbrechern das Geständnis abnötigt.

Tom ertrug diese Züchtigung mit großer Standhaftigkeit, und obgleich ihn sein Lehrer zwischen jedem Hiebe fragte: Will man gerne bekennen? so wollte er sich doch lieber die Haut abschinden lassen, als seinen Freund verraten oder sein gegebenes Wort brechen.

Der Wildmeister war nun von seiner Angst befreit, und Herr Alwerth selbst begann mit Tom und seinen Schmerzen Mitleid zu fühlen; denn überdem, daß Herr Schwöger, der sich heftig darüber erboste, daß er den Knaben nicht dahin bringen konnte, zu sagen, was ihm beliebte, die Strenge sehr viel weiter trieb, als die Meinung des guten Pflegevaters war: so fing dieser letzte auch an zu mutmaßen, der Junker Nachbar könne sich geirrt haben, welches sein außerordentlicher Eifer und Aerger wahrscheinlich zu machen schien, und was das Zeugniß der Bedienten zur Bekräftigung ihres Herrn anlangte, so hielt er das nicht eben für sehr wichtig. Da nun Grausamkeit und Ungerechtigkeit zwei Ideen waren, deren Verschuldung sich bewußt zu sein, er nicht eine einzige Minute aus halten konnte, so ließ er Tom zu sich rufen und sagte zu ihm nach mancher sanften und freundlichen Vermahnung: »Ich bin überzeugt, mein liebstes Kind, daß ich dir mit meinem Verdachte zu wehe gethan habe; es thut mir leid, daß du darüber so strenge gezüchtigt bist.« Und schenkte ihm zuletzt zum Schmerzensgelde ein kleines Pferd, wobei er nochmals sein Bedauern über das Vorgegangene bezeugte.

Hierdurch ward sein Gewissen zu weit schärfern Bissen gereizt, als durch alle Strenge hätte geschehen können. Er konnte die Hiebe des ehrwürdigen Schwögers leichter ertragen, als die Großmut des Herrn Alwerth. Die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und er fiel auf die Kniee und rief aus: »Ach liebster Herr Vater, Sie sind zu gütig gegen mich! Gewiß, das sind Sie! In der That, ich bin's nicht wert.« Und in eben dem Augenblicke hätte er fast aus voller Herzensergießung das ganze Geheimnis verraten. Allein der gute Genius des Wildmeisters flüsterte ihm zu, was es für Folgen über den armen Kerl bringen würde, und diese Rücksicht versiegelte ihm die Lippen.

Schwöger that alles, was er konnte, um Herrn Alwerth auszureden, dem Knaben Güte und Mitleiden zu bezeigen und sagte dabei: »er sei auf einer Unwahrheit bestanden,« und ließ sich soviel merken, eine zweite Geißelung möchte wohl die Wahrheit herausholen können.

Herr Alwerth aber weigerte sich rund aus, zu diesem Versuche seine Einwilligung zu geben. Er sagte, der Knabe habe bereits genug für die Verhehlung der Wahrheit gelitten, wenn er auch schuldig wäre; indem man sähe, er könne dabei keinen andern Bewegungsgrund haben, als eine mißverstandene Ehrliebe.

»Ehrliebe!« rief Herr Schwöger mit einiger Hitze, »klare Hartnäckigkeit! Barer Starrsinn! Kann Ehrliebe jemand lehren, Lügen zu sagen? Kann die geringste Ehre ohne Religion bestehen?«

Dies Gespräch fiel am Tische, zu Ende der Mittagsmahlzeit vor und waren dabei Herr Alwerth, Herr Schwöger und noch ein dritter Herr, der sich nun mit in die Untersuchung mischte und den wir, ehe wir einen Schritt weiter gehen, ganz in der Eile unserm Leser zur nähern Bekanntschaft präsentieren wollen.

Drittes Kapitel.

Charaktere des Herrn Quadrat, des Philosophen und des Herrn Schwöger, des Theologen, mit einer Disputation über – – –

Der Name dieses Herrn, der sich einige Zeit in Herrn Alwerths Hause aufgehalten hatte, hieß Quadrat. Seine Naturgaben waren eben nicht von der ersten Klasse. Sie waren aber durch eine gelehrte Erziehung um ein Großes ausgebildet. Er besaß eine tiefe Belesenheit in den Alten und alle Werke des Plato und Aristoteles wußte er auf den Fingern auswendig. Nach diesen großen Mustern hatte er sich hauptsächlich gebildet und hing zuweilen an der Meinung des einen und zuweilen an der Meinung des andern. In der Moral war er ein offenbarer Platoniker und in der Religion hing er auf die Seite der Aristotelianer.

Allein, ob er gleich, wie wir gesagt haben, das System seiner Moral aus dem Plato abstrahiert hatte, so war er dabei doch einstimmig mit dem Aristoteles, insoferne er diesen großen Mann mehr in dem Lichte eines spekulativen Philosophen als eines Gesetzgebers betrachtete. Diese Meinung trieb er sehr weit; so weit in der That, daß er alle Tugend als einen bloßen Gegenstand der Theorie betrachtete. Freilich sagte er dieses niemals gegen irgend einen Menschen aus drücklich; wenigstens wüßte ich nicht etwas davon gehört zu haben und gleichwohl kann ich bei der geringsten Aufmerksamkeit auf seine Handlungen nicht umhin, zu glauben, daß es seine wahre Meinung gewesen sei, weil dies verschiedene Widersprüche, die man sonst in seinem Charakter finden würde, auf einmal und völlig aufhebt.

Dieser Herr und Herr Schwöger kamen selten an einem Orte zusammen, ohne zu disputieren, denn ihre Glaubensgrundsätze liefen einander schnurstracks entgegen. Quadrat behauptete, die Natur des Menschen sei der Inbegriff aller Tugend und das Laster sei eine Abweichung von unsrer Natur, ungefähr ebenso, wie die Häßlichkeit des Körpers. Schwöger hingegen bestand darauf, das menschliche Herz sei seit dem Sündenfalle nichts anders als ein tiefer Morast von Bosheit, bis es durch die Gnade wieder gereinigt und erlöset worden. In einem einzigen Punkte trafen sie zusammen. Dieser war, daß sie in allen ihren Gesprächen über die Moral niemals des Wortes Herzensgüte mit einer Silbe gedachten. Der Lieblingsausdruck des erstern war natürliche Schönheit der Tugend; das Steckenpferd des letztern war göttliche Gnadenwirkung. Der erste maß alle Handlungen nach der unveränderlichen Regel des Rechts und der von Ewigkeit her bestimmten Harmonie der Dinge. Der letztere entschied jeden Satz durch Machtsprüche; jedoch führte er dabei allemal biblische Sprüche und ihre Ausleger an, so, wie etwa der Jurist seinen Text und dessen Kommentatoren anführt und die letztern für ebenso entscheidend hält, als den ersten. Nach dieser in kurzem gemachten Bekanntschaft wird der Leser die Güte haben, sich zu erinnern, daß der geistliche Herr seine Rede mit einer triumphierenden Frage beschlossen hatte, welche er für unbeantwortlich halten mochte, nämlich: Kann die geringste Ehre ohne Religion bestehen?

Hierauf antwortete Quadrat: es wäre unmöglich, philosophisch über Worte zu reden, bis ihre Meinung genau bestimmt wäre; es gäbe schwerlich noch zwei andere Worte von einer so ungewissen und schwankenden Bedeutung, als die zwei, die er gebraucht hätte: denn es gäbe fast ebenso verschiedenerlei Meinungen über das Wort Ehre als über das Wort Religion. »Allein,« sagte er, »wenn Sie unter der Ehre die wahre natürliche Schönheit der Tugend verstehen: so behaupte ich, daß sie von allem, was man Religion nennen mag, unabhängig sei. Ja,« fügte er hinzu, »Sie selbst werden mir einräumen, daß sie von allen übrigen unabhängig sei, nur eine einzige ausgenommen; dasselbige thut auch der Mohamedaner, der Jude und alle verschiedenen Sekten in der Welt.«

Schwöger erwiderte, dies hieße mit den gewöhnlichen Tücken aller Feinde der rechtgläubigen Kirche argumentieren. Er sagte, er zweifle nicht, alle Ketzer und Ungläubige in der ganzen Welt würden, wenn sie nur könnten, die Ehre innerhalb ihrer eigenen abgeschmackten Irrtümer und verdammten Ketzereien einschränken; »allein,« sagte er, »deswegen ist die Ehre noch lange nicht vielartig, weil es so manche dumme Meinungen darüber gibt; ebensowenig, wie es deswegen, mehr als eine Religion gibt, weil sich die Sekten und Ketzereien in der Welt vervielfältigt haben! Wenn ich das Wort Religion brauche, so versteh' ich die christliche Religion und nicht bloß die christliche Religion, sondern die protestantische Religion, und nicht bloß die protestantische Religion, sondern die in den neununddreißig Artikeln, als unsern symbolischen Büchern enthaltene Religion. Und wenn ich Ehre sage, so meine ich die Bestimmung von göttlicher Gnade, welche nicht nur konsistent ist mit, sondern dependent von dieser Religion, und weder konsistent ist mit, noch dependent von irgend einer andern Religion. Nun aber sagen wollen, die Ehre, welche ich hier meine, und welche, wie ich dachte, alle die Ehre wäre, die man mir zutrauen könnte, zu meinen, sei fähig, eine Unwahrheit zu unterstützen oder gar einzuflößen, das wäre eine Behauptung, deren Dummheit unbegreiflich wäre.«

 

»Ich vermied mit Fleiß,« sagte Quadrat, »eine Folgerung zu ziehen, weil ich glaubte, sie wäre an sich schon, aus dem was ich gesagt hatte, evident; allein wenn Sie solche wahrgenommen haben, so seh' ich doch wohl, Sie haben nicht rätlich erachtet, darauf eine Antwort zu versuchen. Jedoch, beiseite gesetzt den Artikel der Religion, ist es hell und klar, denke ich, daß wir mit dem Worte Ehre ganz verschiedene Ideen verbinden; wie könnten wir sonst über ihre nähere Definition von entgegengesetzter Meinung sein? Ich habe behauptet, daß wahre Ehre und wahre Tugend beinahe gleichbedeutende Ausdrücke und beide auf die unveränderliche Regel des Rechts und die ewig vorherbestimmte Harmonie der Dinge gegründet sind, und weil sich nun platterdings damit keine Unwahrheit vereinigen läßt, so ist es klar, daß wahre Ehre keine Unwahrheit unterstützen kann. Hierin also, dünkt mich, sind wir beide einerlei Meinung. Daß man aber von dieser Ehre sagen könne, sie gründe sich auf Religion, da sie doch älter ist, als diese, wenn Religion so viel sagen soll als irgend ein positives Gesetz –«

»Einerlei Meinung?« fiel Schwöger mit großer Wärme ein, »mit einem Manne, welcher behaupten kann, die Ehre sei älter als die Religion! Herr Alwerth, war ich mit ihm einerlei Meinung?«

Er stand im Begriff fortzureden, als sich Herr Alwerth ins Mittel legte und ihnen kaltblütig sagte: sie hätten ihn mißverstanden, denn er habe nichts von der wahren Ehre gesagt. – Indessen ist es wahrscheinlich, daß er die Disputierenden, welche beide in gleiche Hitze geraten waren, nicht so leicht zum Schweigen gebracht haben möchte, wenn nicht ein anderer Vorfall dazwischen gekommen wäre, welcher der Disputation für dieses Mal ein Ende gemacht hätte.