Polizeigesetz für Baden-Württemberg

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e) Realakt

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Realakte (tatsächliches oder schlichtes Verwaltungshandeln) sind – im Gegensatz zur Polizeiverfügung – nicht auf die Herbeiführung einer unmittelbaren Rechtsfolge gerichtet, sie zielen auf einen tatsächlichen Erfolg.

Beispiele: Kontrollgänge, Streifenfahrten, Abschleppen eines Kfz., Beseitigung einer Verschmutzung oder eines Hindernisses auf der Straße, Rettung eines Tieres in Not, Errichtung und Führung von Beratungsstellen, Aufklärungsaktionen im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, Hinweise, Warnungen, polizeiliche Beobachtung, Observation, Errichtung eines automatisierten Abrufverfahrens, informelles (informales) Verwaltungshandeln, wie z. B. Absprachen und Kooperation vor einer Großdemonstration zwischen Polizei und Veranstalter (vgl. BVerfG, NJW 1985, 2395, 2399).

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Die Abgrenzung Polizeiverfügung – Realakt ist nicht immer ganz einfach, jedoch geboten, weil die jeweiligen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen und Rechtsschutzmöglichkeiten unterschiedlich sind. Umstritten ist vor allem, ob bestimmte Realakte unausgesprochen einen Verwaltungsakt enthalten.

Beispiele: Die Erteilung einer Auskunft (z. B. nach § 91) soll gleichzeitig die Entscheidung enthalten, dass die Auskunft erteilt wird (vgl. BVerwG 31, 301, 306).

Der Schlag des Polizeibeamten mit der Hiebwaffe oder der Einsatz von Tränengas sollen zugleich die Regelung für die Betroffenen enthalten, die Zwangsanwendung zu dulden (BVerwGE 26, 161, 164).

Derartige Konstruktionen sind jedoch nicht notwendig, weil der Rechtsschutz des Bürgers nicht vom Vorliegen eines Verwaltungsakts abhängt. Die in den obigen Beispielen getroffenen Maßnahmen sollten daher ausschließlich als Realakte angesehen werden (so auch VGH BW, VBlBW 2002, 306, 307). Zur Rechtsnatur der unmittelbaren Ausführung einer Maßnahme s. u. § 8, RN 2, der Maßnahmen zur Datenverarbeitung s. u. § 13, RN 2, der Standardmaßnahmen s. u. Vorbem. § 27, RN 4 und der Zwangsmaßnahmen s. u. § 63, RN 59 ff.

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Was die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Realakte anbetrifft, so gilt auch hier der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Allerdings ist die Regelungsdichte für Realakte – in Anbetracht ihrer Vielgestaltigkeit – nicht besonders groß, zumal wesentliche Vorschriften des LVwVfG nicht unmittelbar Anwendung finden (vgl. § 9 LVwVfG). Fehlen spezielle Regelungen, so sind in formeller Hinsicht zumindest die Zuständigkeitsvorschriften einzuhalten; eine Anhörungspflicht entsprechend § 28 Abs. 1 LVwVfG wird diskutiert.

Bei den materiellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen ist eine Ermächtigungsgrundlage zu fordern (z. B. §§ 3, 1 Abs. 1, § 8 Abs. 1), sofern der Realakt in die Rechte des Bürgers eingreift, wie z. B. die Anwendung unmittelbaren Zwangs oder – je nach Inhalt – eine sog. Gefährderansprache oder ein sog. Gefährderanschreiben (vgl. OVG Lüneburg, DÖV 2006, 122, 123).

Die Gefährderansprache bzw. das Gefährderanschreiben soll polizeibekannte Personen darüber informieren, dass ein polizeiliches Interesse an ihrer Person besteht, die Gefährdungslage bei der Polizei zur Kenntnis und ernst genommen wird. Besteht der Inhalt aus einer Aufforderung oder Anordnung, die darauf abzielt, bestimmte Handlungen zu unterlassen und somit auf die Entscheidungsfreiheit des Betreffenden einwirkt, greift sie in den Schutzbereich zumindest von Art. 2 Abs. 1 GG ein und bedarf somit einer Ermächtigungsgrundlage. Eine solche wurde früher wegen fehlender spezieller Rechtsgrundlage in §§ 3, 1 Abs. 1 PolG gesehen (VGH BW, Urt. v. 7.12.2017 – 1 S 2526/16). Mit dem PolG von 2020 wurde nunmehr eine ausdrückliche Eingriffsgrundlage in § 29 geschaffen.

Außerdem muss ein vorhandenes Ermessen fehlerfrei ausgeübt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. w. S. beachtet werden. Letzteres gilt auch für behördliche Warnungen etwa vor Jugendsekten, vor rechtsextremen Organisationen oder gesundheits- bzw. umweltschädigenden Produkten (BVerfG, NJW 1989, 3269; 2002, 2621, 2626; BVerwG, NJW 1989, 2272; 1991, 1766 und 1770; VGH BW, NVwZ 1989, 279 und 878; NJW 1997, 754, 756; VerfGH Rheinl.-Pfalz, DÖV 2008, 242). Sofern mit dem Realakt kein Rechtseingriff verbunden ist, wie bei einem bloßen Ratschlag, einer Warnung oder Belehrung, wird die Aufgabenzuweisungsnorm des § 1 als ausreichende Grundlage angesehen (VGH BW, NVwZ 1989, 279, 280).

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Rechtsschutz wird bei Realakten durch die Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) oder durch die allgemeine Leistungsklage gewährt.

f) Erlaubnis

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Polizeiliche Erlaubnisse öffnen den Weg zu Tätigkeiten oder Vorhaben, die Gefahren in sich bergen und deshalb zunächst mit einem Verbot versehen sind. Das Polizeigesetz enthält keine Erlaubnistatbestände, dafür sind sie in umso größerer Zahl im besonderen Polizeirecht zu finden.

Beispiele: Baugenehmigung, § 58 LBO; Gaststättenerlaubnis, § 2 GastG; Fahrerlaubnis, § 2 StVG; wasserrechtliche Erlaubnis, §§ 2, 8 WHG; Sondernutzungserlaubnis, § 16 StrG; waffenrechtliche Erlaubnis, §§ 10 ff. WaffG.

Erlaubnisse sind nur durch oder aufgrund Gesetzes zulässig. Deshalb ist es gestattet, Erlaubnispflichten in einer Polizeiverordnung festzulegen (s. u. § 17, RN 15).

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Wird eine Betätigung oder ein Vorhaben ohne die vorgeschriebene Erlaubnis ausgeführt, etwa weil eine solche nicht erteilt oder aufgehoben wurde, führt dies zur formellen Rechtswidrigkeit. Materielle Rechtswidrigkeit besteht, wenn die Betätigung oder das Vorhaben nicht erlaubnisfähig ist, eine beantragte Erlaubnis also versagt werden müsste.

Die Rechtsfolgen bei fehlender Erlaubnis werden zumeist spezialgesetzlich geregelt. Fehlt es hieran, kommt ein Einschreiten aufgrund der Generalklausel in Betracht, da es gilt, einen (weiteren) Verstoß gegen Normen des Verwaltungsrechts abzuwehren, der häufig auch straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich bewehrt ist.

g) Verwaltungsrechtlicher Vertrag

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Verwaltungsrechtliche Verträge (§ 54 ff. LVwVfG) auf dem Gebiet des allgemeinen Polizeirechts zwischen der Polizei und dem Bürger kommen in der Praxis nicht allzu häufig vor. Anders im Bereich des besonderen Polizeirechts. Hier gelangt dieses Handlungsinstrument, insbesondere für Polizeibehörden, häufig zu zweckmäßigeren Lösungen bei der Gefahrenabwehr als der Erlass einer Polizeiverfügung.

Beispiele: Anstatt gegen ein illegal errichtetes Wochenendhaus im Wege der Abbruchsanordnung (§ 65 Abs. 1 Satz 1 LBO) vorzugehen, wird ein verwaltungsrechtlicher Vertrag geschlossen, mit welchem dem Eigentümer eine zeitlich begrenzte Nutzung gestattet wird, er sich aber andererseits verpflichtet, zu einem genau fixierten Termin das Gebäude abzubrechen. Außerdem unterwirft er sich der sofortigen Vollstreckung nach § 61 LVwVfG.

Gegen den Halter mehrerer Hunde, die durch ihr Gebell die Nachbarschaft nerven, ergeht kein Verbot der Hundehaltung (§§ 3, 1 Abs. 1), vielmehr wird ein Vertrag geschlossen, nachdem der vorhandene Zustand bis zu einem überschaubaren Zeitpunkt geduldet wird und der Hundehalter sich verpflichtet, dann unwiderruflich die Hundehaltung dort aufzugeben. Gleichzeitig unterwirft er sich der sofortigen Vollstreckung.

In beiden Fällen wird der beabsichtigte Erfolg (Beseitigung der Gefahr) in einem überschaubaren Zeitraum erreicht, während der Erlass einer Verfügung möglicherweise jahrelange Prozesse zur Folge hätte.

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Dass eine Polizeiverfügung grundsätzlich durch einen verwaltungsrechtlichen Vertrag ersetzt werden kann, ergibt sich aus § 54 Satz 2 LVwVfG. Hierbei sollte nicht der Eindruck entstehen, der verwaltungsrechtliche Vertrag erlaube der Polizei rechtlich sonst unzulässige „Mauscheleien“, denn hinsichtlich der Zulässigkeit und des Inhalts eines derartigen Vertrages gilt der Vorrang des Gesetzes uneingeschränkt (§ 54 Satz 1 LVwVfG).

3. Polizeiliches Ermessen
a) Entschließungs- und Auswahlermessen

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Nach § 3 hat die Polizei diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen. Im Anwendungsbereich der Generalklausel gilt also das Opportunitätsprinzip. Ob und in welchem Umfang dieses Prinzip auch für andere Ermächtigungsgrundlagen gilt, ist aus Wortlaut und Sinn der jeweils anzuwendenden Vorschrift zu ermitteln. Ermessen wird z. B. eingeräumt bei den Standardmaßnahmen und bei den Ermächtigungen zur Datenverarbeitung und zur Zwangsanwendung. Auch im besonderen Polizeirecht gilt überwiegend das Opportunitätsprinzip.

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Ermessen bedeutet, dass die Polizei bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht an eine vorgegebene Rechtsfolge gebunden ist, sondern diese selbst aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmen kann. Sie kann entscheiden, ob sie überhaupt einschreiten will – Entschließungsermessen – und, falls diese Entscheidung positiv ausfällt, kann sie entscheiden, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen sie ergreifen will und/oder gegen welchen von mehreren möglichen Störern vorgegangen wird – Auswahlermessen. § 3 umfasst, trotz des nicht ganz eindeutigen Wortlauts, nach einhelliger Auffassung beide Arten des Ermessens. Die Einräumung eines polizeilichen Ermessensspielraumes hat den Sinn, den Zweck des Gesetzes, dem jeweiligen Einzelfall angepasst, möglichst optimal zu realisieren.

 

Beispiel: Obwohl die rechtlichen Voraussetzungen für ein Abschleppen von Fahrzeugen, die vorschriftswidrig vor einem Jugendzentrum abgestellt sind, vorliegen, ergreift die Polizei dieses Mittel nicht. Vielmehr werden die Fahrer durch Öffentlichkeitsarbeit, Hinweiszettel an den Fahrzeugen und durch Mitarbeit der Veranstalter auf die für die Umgebung entstehenden Probleme aufmerksam gemacht. Diese Maßnahme kann zu einer Sensibilisierung und damit langfristig zu einem größeren Erfolg führen.

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Die Bedeutung des Ermessens für die Polizeipraxis relativiert sich in vielen Fällen. Manchmal ist das Entschließungsermessen so weit reduziert, dass eine Pflicht zum Tätigwerden besteht (s. u. RN 33). Beim Auswahlermessen ist zu beachten, dass dieses nur eine Wahlmöglichkeit unter verschiedenen rechtmäßigen Rechtsfolgen verleiht. Häufig besteht aber keine Wahlmöglichkeit, weil bei Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i. w. S. nur noch eine Rechtsfolge verbleibt, die geeignet, das mildeste Mittel und angemessen ist.

Beispiel: Kommen als tatbestandsmäßig zulässige und geeignete Mittel zur Beseitigung von Gefahren, die von jugendlichen Fußballrowdys ausgehen, die Beschlagnahme von gefährlichen Gegenständen und die Zurückschickung in Betracht, scheidet Letztere im Hinblick auf § 5 Abs. 1 aus und somit besteht keine Wahlmöglichkeit.

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Im Gegensatz zum Opportunitätsprinzip steht das Legalitätsprinzip. Dieses gilt bei der Verfolgung von Straftaten und verpflichtet die Polizei, Straftaten zu erforschen und entsprechende Anordnungen zu treffen. Dagegen findet das Opportunitätsprinzip bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten Anwendung (§§ 47, 53 OWiG).

b) Bindungen des Ermessens, Ermessensfehler

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Ermessen ist immer ein pflichtgemäßes, d. h. rechtlich gebundenes Ermessen. Das kommt auch in § 40 LVwVfG zum Ausdruck: Das Ermessen ist entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und es sind die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Polizeiliches Handeln, das hiergegen verstößt, ist ermessensfehlerhaft und damit grundsätzlich rechtswidrig. Insoweit unterliegen Ermessensakte auch der gerichtlichen Kontrolle (vgl. § 114 VwGO). Anders liegt der Fall bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen. Deren Überprüfung kann nur in einem Verwaltungsverfahren (vgl. z. B. § 68 VwGO) verlangt werden. Außerdem hat die Unzweckmäßigkeit einer Maßnahme keine Folgen für deren Rechtmäßigkeit.

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Ein Ermessensfehler ist die Ermessensüberschreitung, die dann gegeben ist, wenn die angeordnete Rechtsfolge über die von der Ermessensnorm gesetzten Grenzen hinausgeht.

Beispiel: Im Rahmen einer Durchsuchung nach § 34 wird der Betroffene auch nach Körpermerkmalen untersucht. Das sprengt den Rahmen des § 34, da diese Vorschrift körperliche Untersuchungen nicht erfasst.

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Von Ermessensausfall (Ermessensnichtgebrauch) spricht man, wenn ein vorhandenes Ermessen nicht ausgeübt wird, sei es aus Nachlässigkeit oder weil die Polizei meint, sie besitze kein Ermessen.

Beispiel: Polizeibeamter P lehnt ein Einschreiten gegen den Fahrer eines vor einer Garagenausfahrt widerrechtlich geparkten Kfz ab, weil er irrtümlich der Auffassung ist, er dürfe hier (wegen § 2 Abs. 2) nicht einschreiten, was im Hinblick auf § 12 LOWiG jedoch unzutreffend ist. Vgl. auch die – wenig überzeugende – Entscheidung des VGH BW, VBlBW 2002, 73.

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Ermessensmissbrauch (Ermessensfehlgebrauch) liegt vor, wenn das Ermessen nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt wird, so etwa, wenn von unzutreffenden Tatsachen ausgegangen wird (von mehreren Störern A und B wird A herangezogen, weil irrtümlich angenommen wird, B sei nicht erreichbar), wenn die Polizei sich von schlechthin unzulässigen Erwägungen leiten lässt (rein persönliche oder böse Absicht, Willkür) oder wenn sie sich von Motiven bestimmen lässt, die mit dem Zweck des Gesetzes nicht in Einklang stehen.

Beispiele: Bei der Entscheidung, ob eine Ausnahmebewilligung nach § 12 FTG erteilt werden kann, stellt die Behörde wettbewerbliche Argumente (z. B. Schutz eines Konkurrenten) in den Vordergrund. Das ist mit dem Zweck dieses Gesetzes (Feiertagsschutz) nicht vereinbar. Polizeiliche Kontrollen vor Beginn einer Versammlung, mit denen die Teilnahme an der Versammlung verhindert werden soll, sind mit dem Versammlungsgesetz und Art. 8 Abs. 1 GG nicht vereinbar.

Welche Erwägungen im Einzelfall ermessensfehlerfrei sind, ist nicht immer ganz einfach zu ermitteln. Grundsätzlich werden im Polizeirecht polizeiliche, d. h. der Gefahrenabwehr dienende, Motive nicht zu beanstanden sein. Andere Motive sind daneben aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. So hat die Rechtsprechung (VGH BW, VBlBW 1990, 257, 259; BWVPr. 1995, 233) beim Abschleppen von Kfz u. a. – jedoch nicht allein – generalpräventive Gesichtspunkte als zulässige Ermessenserwägungen angesehen. In gleicher Weise können Maßnahmen zulässig sein, um (z. B. eine Drogenszene) zu verunsichern oder um (z. B. gewaltbereite Hooligans) zu beeindrucken. Selbst fiskalische Erwägungen können im Einzelfall die Ermessensentscheidung der Polizei zulässigerweise (mit-)bestimmen.

Ermessensfehlerhaft sind aber z. B. Maßnahmen, mit denen jemand gezielt angeprangert oder bloßgestellt werden soll.

Beispiele: Für eine Gefährderansprache (s. o. RN 19) wird bewusst der Arbeitsplatz ausgewählt, um den Betroffenen vor den Kollegen bloßzustellen. Dem Freier im Sperrgebiet (s. u. § 6, RN 12) wird die Anordnung des Platzverweises nach Hause zugestellt (vgl. § 2 Abs. 3 LVwZG), in der Erwartung, die Ehefrau erhalte hiervon Kenntnis.

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Als Ermessensfehler i. w. S. können auch Verstöße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. w. S. (s. u. § 5, RN 1 ff.) und gegen Grundrechte, vor allem gegen Art. 3 Abs. 1 GG angesehen werden. Der Gleichheitssatz verbietet es z. B., dass die Polizei von ihrer ständigen Praxis ohne sachlichen Grund abweicht (Selbstbindung der Verwaltung). Eine Polizeiverordnung über das Halten gefährlicher Hunde darf nicht willkürlich einzelne Hunde als sog. Kampfhunde aufnehmen, andere, bei denen sich diese Eigenschaft aber geradezu aufdrängt, unbeachtet lassen (VGH BW, NVwZ 1992, 1105, 1107; BVerfGE 110, 141). Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt jedoch nicht ohne Weiteres dann vor, wenn die Polizei in vergleichbaren Fällen nicht eingeschritten ist.

Beispiel: Die Polizei handelt nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie nicht „flächendeckend“ alle verbotswidrig abgestellten Kfz abschleppt. Es ist zulässig, anlass-, zeit- oder ortsbezogen, z. B. wegen begrenzter personeller Kapazitäten der Polizei vorzugehen (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1992, 360; VGH BW, NJW 1989, 603; NVwZ-RR 1997, 465, 466). Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG wäre jedoch das Abschleppen einzelner Fahrzeuge, ohne dass ein sachlicher Grund für die Schonung der anderen erkennbar wäre.

c) Ermessensreduzierung

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Ermessensreduzierung „auf null“ (beim Entschließungsermessen) bedeutet: Das gesetzlich eingeräumte Ermessen schrumpft so weit, dass nur noch eine Entscheidung, und zwar die zum Einschreiten oder die zum Nichteinschreiten, rechtmäßig ist. Der erste Fall wird aufgrund der bestehenden Schutzpflicht des Staates immer dann gegeben sein, wenn höchste Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit) bedroht sind. Auch wenn Rechtsgütern der EU Gefahren drohen, kann eine Ermessungsreduzierung auf null beim Entschließungsermessen vorliegen.

Beispiel: Aus Protest blockieren Bauern tagelang alle Grenzübergänge nach Frankreich. Hier muss die Polizei Maßnahmen treffen, um den freien Personen- und Güterverkehr zu gewährleisten (vgl. EuGH, EuZW 1998, 84).

Ansonsten sind die Umstände des Einzelfalles maßgebend. Dort kann die Höhe des zu erwartenden Schadens eine Pflicht zum Einschreiten begründen, ohne dass dieses allerdings zwingend wäre. Bagatellgefahren können grundsätzlich keine Ermessensreduzierung auslösen, es sei denn, das polizeiliche Einschreiten erfordert keinen hohen Aufwand und führt auch nicht zu einer Vernachlässigung anderer wichtigerer Aufgaben.

Beispiele: Die Ortspolizeibehörde ist verpflichtet, einem Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, in der er sich ganztägig aufhalten kann (VGH BW, VBlBW 1993, 304, 305). Es genügt eine „Notunterkunft“, nicht eine „Normalwohnung“ (VGH BW, VBlBW 1997, 187, 188). Die Polizei ist – zumindest vorübergehend – nicht verpflichtet, gegen Hausbesetzer einzuschreiten, wenn hierdurch schwerwiegende Ausschreitungen als Reaktion zu erwarten sind (VG Berlin, NJW 1981, 1748, 1749).

Ermessensreduzierung „auf null“ beim Auswahlermessen bedeutet: nur eine von mehreren möglichen Maßnahmen und/oder die Heranziehung nur eines von mehreren Adressaten ist rechtmäßig.

d) Intendiertes Ermessen

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Die Rechtsprechung hat zudem die umstrittene Rechtsfigur des sog. „intendierten Ermessens“ entwickelt. Diese Ermessensvorschriften bringen ausdrücklich oder zumindest nach Sinn und Zweck hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass im Regelfall eine bestimmte Rechtsfolgeentscheidung zu treffen ist (BVerwGE 105, 55).

Beispiel: Auslegung von § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO in dem Sinne, dass die Gewerbebetriebsschließung die vom Gesetzgeber vorgezeichnete Regelentscheidung ist, ein Absehen hiervon der zu begründende Ausnahmefall (VGH Kassel, GewArch 1996, 291).

4. Anspruch auf polizeiliches Einschreiten

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Der Verpflichtung oder Berechtigung zum polizeilichen Handeln steht nicht automatisch das Recht des Bürgers auf eine konkrete Maßnahme oder auf fehlerfreie Ermessensausübung gegenüber. Das ist nur der Fall, wenn die anzuwendende Norm die Interessen des Einzelnen schützt und dieser Schutz bezweckt ist, mithin ein subjektiv-öffentliches Recht vorliegt. Die Generalklausel und die speziellen Ermächtigungsgrundlagen des Polizeigesetzes – nicht aber § 2 Abs. 2 – können ein solches sein. Das ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut des § 1 (von dem Einzelnen … Gefahren abzuwehren), sondern auch aus den individualbezogenen Schutzgütern (z. B. Leben, Gesundheit, Freiheit), die vom Begriff „öffentliche Sicherheit“ umfasst sind.

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Kann sich der Bürger auf ein subjektiv-öffentliches Recht berufen, so steht ihm bei gebundener Verwaltung ein Anspruch auf das Handeln und/oder die vom Gesetz festgelegte Maßnahme zu. Bei Ermessensnormen besteht grundsätzlich nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens. Hat sich aber das Ermessen „auf null“ reduziert (s. o. RN 30), erwächst ein Anspruch wie bei der gebundenen Verwaltung.

Beispiel: Im ersten Beispielsfall bei RN 33 hat der Obdachlose nicht nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, sondern einen Anspruch auf die Zuweisung einer ganztägigen Unterkunft.