Polizeigesetz für Baden-Württemberg

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1. § 3 als allgemeine Befugnisnorm

1

§ 3 ist die allgemeine Befugnisnorm des Polizeigesetzes. Als notwendige Ergänzung zur Aufgabenzuweisungsnorm des § 1 für Maßnahmen mit Eingriffscharakter (s. o. § 1, RN 2) bildet er zusammen mit dieser die polizeiliche Generalermächtigung (§§ 3, 1 Abs. 1).

2

§§ 3, 1 Abs. 1 kommen als Ermächtigungsgrundlage für eine polizeiliche Maßnahme nur in Betracht, sofern nicht spezielle Ermächtigungsgrundlagen vorhanden sind (Subsidiarität der Generalermächtigung). Solche enthält das Polizeigesetz mit §§ 17 ff. (Polizeiverordnung), §§ 15 und 42 ff. (Datenverarbeitung), §§ 27 ff. (Standardmaßnahmen) und §§ 63 ff. (Polizeizwang). Darüber hinaus stellen die Normen des besonderen Polizeirechts eine Fülle von Ermächtigungsgrundlagen zur Verfügung. Sie verdrängen in ihrem Anwendungsbereich die polizeiliche Generalklausel, der somit nur noch eine Reservefunktion zukommt.

2a

Ob das Spezialgesetz zur Gefahrenabwehr seinen Regelungsbereich abschließend abdeckt oder ob daneben Raum für die Anwendung von Vorschriften des Polizeigesetzes bleibt, ist durch Auslegung zu ermitteln.

Beispiele: Zur Zulässigkeit einer Meldeauflage neben Maßnahmen nach dem Pass- und Personalausweisgesetz vgl. VGH BW, VBlBW 2000, 474, 475; zur Anwendung der allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften nach Stilllegung eines Bergwerks, vgl. VGH BW, NVwZ-RR 2000, 589, 590; § 16 a TierSchG verdrängt in seinem Anwendungsbereich die §§ 3, 1 und 38, 39 (BayVGH, BayVBl. 2006, 734); zur Anwendung des Polizeigesetzes neben dem Versammlungsgesetz, s. u. § 4 RN 22 ff.; zur Zulässigkeit von Maßnahmen aufgrund des Polizeigesetzes neben solchen des Asylgesetzes vgl. VGH BW, NVwZ-RR 1998, 680.

Manchmal bestimmen Spezialgesetze sogar selbst, dass das Polizeigesetz ergänzend heranzuziehen ist, wie z. B. § 19 Abs. 4 LAbfG.

2b

Fehlt einer Maßnahme zur Gefahrenabwehr eine spezielle Ermächtigungsgrundlage, kann nicht automatisch die Generalklausel herangezogen werden. Nach der Wesentlichkeitslehre des BVerfG (vgl. u. a. BVerfGE 33, 1, 11 f.; 34, 165, 192; 61, 260, 275; 83, 130, 152; 108, 282, 309 ff.) gilt nämlich folgender Grundsatz: Je schwerwiegender der Eingriff in ein Grundrecht ist, umso genauer müssen die Vorgaben des förmlichen Gesetzes sein. Eine so allgemein gehaltene Rechtsgrundlage wie die Generalklausel genügt dieser Anforderung aber häufig nicht.

Beispiele: Ein Eingriff in das Brief, Post- und Fernmeldegeheimnis aufgrund der §§ 3, 1 Abs. 1 PolG ist nicht zulässig. §§ 3, 1 Abs. 1 können auch nicht stets eine ausreichende Grundlage für einen Eingriff in die Berufsausübung sein (BVerwG, DÖV 2002, 479, 480). Zur Notwendigkeit einer speziellen Rechtsgrundlage für eine Meldeauflage: BVerwG, NVwZ 2007, 1439, 1441 – verneinend.

3

Ist eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für eine polizeiliche Maßnahme vorhanden, bestimmen sich grundsätzlich alle übrigen rechtlichen Anforderungen für sie (z. B. Zuständigkeit, Verfahrensanforderungen, Form, Adressat) nach dem speziellen Gesetz.

Beispiele: Die Zuständigkeit für eine Abbruchsanordnung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 LBO richtet sich nach der LBO: §§ 46 ff. Der Adressat einer Anordnung nach § 16 a TierSchG bestimmt sich nach diesem Gesetz: § 2 TierSchG – Halter, Betreuer.

4

Selbst bei Vorhandensein eines speziellen Gesetzes zur Gefahrenabwehr ist ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalermächtigung ausnahmsweise dann geboten, wenn das spezielle Gesetz zur Gefahrenabwehr lediglich Ge- oder Verbote ausspricht, nicht aber – ausdrücklich oder im Wege der Auslegung ermittelbar – zu Maßnahmen ermächtigt. Hier kann die Ge- oder Verbotsnorm allein nicht Ermächtigungsgrundlage sein, da der Vorbehalt des Gesetzes eine Handlungsermächtigung fordert. Ermächtigungsgrundlage sind dann §§ 3, 1 Abs. 1. Die Generalermächtigung konkretisiert das im Spezialgesetz enthaltene Ge- oder Verbot (konkretisierende Verfügung).

Beispiele: Durch Satzung (§ 41 Abs. 2 StrG) wird den Straßenanliegern aufgegeben, die Gehwege zu reinigen. Enthält die Satzung selbst keine Norm, mit der auf die Befolgung des Gebots durch Verwaltungsakt hingewirkt werden kann, kommen als Ermächtigungsgrundlage nur §§ 3, 1 Abs. 1 in Betracht (OVG Schleswig, NVwZ-RR 1992, 338, 339; VGH BW, GewArch 1990, 403, 404; 1993, 205, 206).

Die Untersagung des gewerblichen Betriebs einer Automatenvideothek an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen stützt sich auf §§ 3, 1 Abs. 1 wegen Verstoßes gegen § 6 Abs. 1 FTG (vgl. VGH BW, NVwZ 2007, 1333).

Untersagung eines bordellartigen Betriebs in einer Gemeinde mit weniger als 35000 Einwohnern wegen Verstoßes gegen § 1 der VO der Landesregierung über das Verbot der Prostitution.

Anordnung der Herausgabe einer Urne, die entgegen § 33 BestattG auf einem Privatgrundstück beigesetzt wurde.

Die Anordnung, eine nicht genehmigte Zweckentfremdung von Wohnraum zu beenden, ist auf §§ 3, 1 Abs. 1 zu stützen, da das Zweckentfremdungsverbotsgesetz in § 5 lediglich einen Ordnungswidrigkeitentatbestand enthält (VGH BW, Beschl. v. 6.8.2020 – 3 S 1493/20).

Im Hinblick auf die übrigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gilt wieder der Grundsatz, dass das spezielle dem allgemeinen Gesetz vorgeht. Der Grundsatz, dass die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen dem Gesetz der Ermächtigungsgrundlage zu entnehmen sind, erfährt hier also eine Ausnahme (str.).

Beispiele: § 33 StVO verbietet den Betrieb von Lautsprechern auf der Straße. Mangels Verfügungsermächtigung in der StVO findet eine Verbotsanordnung ihre Grundlage in §§ 3, 1 Abs. 1. Zuständig hierfür ist die Straßenverkehrsbehörde nach § 44 Abs. 1 StVO und nicht die Ortspolizeibehörde nach §§ 104, 105, 111 Abs. 2. Ein anderes Ergebnis wäre auch praxisfremd. Vgl. aber auch VGH BW, VBlBW 2007, 104, wo in einem vergleichbaren Fall die Ortspolizeibehörde als zuständig angesehen wurde.

Die Straßenverkehrsbehörden können auch gegen sog. Auto-Poser eine auf §§ 3, 1 Abs. 1 i. V. m. § 30 Abs. 1 StVO gestützte Untersagungs- bzw. Unterlassungsverfügung erlassen, die eine Grundlage für die Verwaltungsvollstreckung schafft (VG Karlsruhe, Urt. v. 17.12.2018 – 1 K 4344/17).

2. Polizeiliche Maßnahmen
a) Allgemeines

5

Polizeiliche Maßnahmen sind alle, i. d. R. nach außen in Erscheinung tretenden, aufgrund Polizeirechts getroffenen Tätigkeitsakte. Dazu zählen nicht nur die im zweiten Abschnitt des ersten Teils des Polizeigesetzes ausdrücklich genannten Maßnahmen. Insgesamt können folgende Maßnahmen unterschieden werden: Polizeiverfügung, unmittelbare Ausführung einer Maßnahme, Polizeiverordnung, Maßnahmen zur Datenverarbeitung, Polizeizwang, Erlaubnis, Realakt und verwaltungsrechtlicher Vertrag. Eine rechtliche Einordnung ist mit dieser Aufzählung nicht unbedingt verbunden; so können z. B. Maßnahmen zur Datenverarbeitung teils Verwaltungsaktqualität aufweisen, teils sind sie Realakte.

b) Rechtliche Schranken

6

Nach § 3 darf die Polizei ihre Maßnahmen nur innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken treffen. Mit dieser Aussage wird an die Geltung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) für polizeiliches Handeln erinnert. Dieser Grundsatz enthält als erstes Element den Vorrang der Verfassung, d. h., polizeiliche Maßnahmen müssen stets verfassungskonform sein (Einzelheiten s. u. § 4). Der Vorrang des Gesetzes, das zweite Element, bedeutet, dass polizeiliche Maßnahmen nicht gegen (höherrangige) Rechtssätze verstoßen dürfen. Welche formellen und materiellen Anforderungen diese stellen, hängt auch von der Art der polizeilichen Maßnahme ab (Einzelheiten s. u. RN 10 ff.). Das dritte Element, der Vorbehalt des Gesetzes, besagt, dass niemand zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung gezwungen werden kann, wenn nicht ein Gesetz oder eine auf Gesetz beruhende Bestimmung es verlangt oder zulässt (so Art. 58 VerfBW).

c) Erforderlichkeit der Maßnahme

7

Nach § 3 darf die Polizei nur solche Maßnahmen treffen, die „erforderlich erscheinen“. Das ist der Fall, wenn die Maßnahme notwendig ist, um eine bestimmte polizeiliche Aufgabe rechtmäßig, vollständig und zeitgerecht wahrzunehmen (VGH BW, DÖV 1995, 424, 426).

Beispiel: Die Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen, die gem. § 81 b 2. Alt. StPO zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung angefertigt werden, ist dann nicht mehr erforderlich, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, dass die betreffende Person künftig kriminell in Erscheinung treten wird und die Unterlagen hierbei die Ermittlung fördern könnten (VGH BW, NJW 1987, 2762, 2763, 2764). Vgl. auch § 41 Abs. 3.

Den Begriff „erforderlich“ in diesem Sinne verwendet das Polizeigesetz recht häufig.

8

 

Der Begriff „erforderlich“ in diesem Sinne ist nicht identisch mit dem Begriff „geeignet“ (dazu s. u. § 5, RN 3), denn eine an sich geeignete Maßnahme kann durchaus nicht erforderlich sein.

Beispiel: Im Beispielsfall bei RN 7 ist die weitere Aufbewahrung zwar zur Gefahrenabwehr an sich geeignet, aber nicht notwendig.

Vor allem ist der hier angesprochene Begriff der Erforderlichkeit von demselben Begriff zu unterscheiden, mit dem teilweise der Grundsatz des geringsten Eingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (s. u. § 5, RN 6) bezeichnet wird. Das wird leider häufig in der Literatur übersehen.

9

Ob eine Maßnahme erforderlich ist, ist eine Rechtsfrage und daher der vollen verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung unterworfen. Da aber die Beurteilung der Erforderlichkeit von Maßnahmen häufig nur aufgrund einer Prognose über die künftige weitere Entwicklung möglich ist, beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle in diesen Fällen darauf, ob die Prognose die zutreffenden Tatsachen berücksichtigt hat und die getroffenen Wertungen sachgerecht und nachvollziehbar sind. Abzustellen ist hierbei auf den Kenntnisstand der Polizei zum Zeitpunkt ihres Einschreitens (vgl. VGH BW, VBlBW 1981, 182; NJW 1987, 2762).

d) Polizeiverfügung

10

Die Polizeiverfügung – eine der bedeutsamsten Maßnahmen im Polizeirecht – ist ein Verwaltungsakt (§ 35 LVwVfG), der ein Ge- oder Verbot zur Gefahrenabwehr ausspricht.

Beispiel: Das Gebot, einen bissigen Hund anzuleinen, zur Dienststelle zu kommen, das ausgeübte stehende Gewerbe anzuzeigen, die Straße bei Eisglätte zu streuen, ein kontaminiertes Grundstück zu sanieren oder das Verbot, belastetes Gemüse zu verkaufen, eine Peep-Show zu betreiben, an Sonntagen einen Trödelmarkt abzuhalten.

Das Polizeigesetz kennt den Begriff „Polizeiverfügung“ nicht, dennoch ist es sinnvoll an ihm – zur Unterscheidung von anderen polizeilichen Verwaltungsakten – festzuhalten. Eine Polizeiverfügung erfüllt alle Merkmale des § 35 Satz 1 LVwVfG: Sie ist eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde (dazu zählen nach § 1 Abs. 2 LVwVfG auch die Polizeidienststellen, sofern sie zu eigenverantwortlichem Handeln im eigenen Namen nach außen befugt sind) zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (Polizeirechts) und sie ist auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet.

Eine Polizeiverfügung kann auch eine Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 LVwVfG) sein, d. h. ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihrer Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.

Beispiele: Die Anordnung an alle Hausbesetzer, das Haus zu räumen. Aufforderung an Demonstranten, den Versammlungsort zu verlassen. Das über Rundfunk verbreitete Verbot, in allen von Typhus betroffenen Gebieten Endiviensalat zu verkaufen (BVerwG, NJW 1961, 2077). Die – allerdings rechtswidrige – Anordnung, während eines Volksfestes in bestimmten Bereichen einer Gemeinde keine alkoholischen Getränke mitzuführen und zu verzehren, VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2009, 22.

Allgemeinverfügungen in Form der Benutzungsregelung sind auch die in Verkehrszeichen enthaltenen Ge- oder Verbote (BVerwG, NJW 1997, 1021, 1022. VGH BW, NJW 1991, 1698; VBlBW 2004, 216). Desgleichen über Funk und Fernsehen angeordnete Fahrverbote oder beschränkungen (vgl. § 45 Abs. 4 StVO).

Keine Allgemeinverfügung ist ein in persönlicher Anrede gehaltenes Blankoformular der Ortspolizeibehörde, das im Adressfeld und der namentlichen Anrede durch den Polizeivollzugsdienst aufgrund eigener tatsächlicher Feststellungen und eigener Bewertung ergänzt und dem Betroffenen übergeben wird (VG Sigmaringen, NVwZ-RR 1995, 327).

Ebenso wenig adressatenbezogene Allgemeinverfügung ist die Anordnung, die sich an alle Mitglieder der Drogen- oder Punkerszene richtet, sofern im Zeitpunkt des Erlasses diese Personen nicht bestimmt oder bestimmbar sind, was i. d. R. auch nicht der Fall sein wird. Allerdings kann es sich um eine Benutzungsregelung (§ 35 Satz 2 3. Alt. LVwVfG) handeln (vgl. aber auch oben § 1, RN 43a).

10a

Polizeiverfügungen sind der Platzverweis, das Aufenthaltsverbot, der Wohnungsverweis, das Rückkehrverbot und das Annäherungsverbot. Sie haben in § 30 eine spezielle Regelung erfahren.

10b

Auch die Meldeauflage ist eine Polizeiverfügung. Sie verpflichtet den Betroffenen, sich zu einer bestimmten Zeit bei einer Polizeidienststelle oder behörde zu melden. Auf diese Weise sollen als Störer angesehene Personen (z. B. Hooligans) von bestimmten Ereignissen (z. B. Fußballspiele) ferngehalten werden.

Mangels spezieller Rechtsgrundlage wird die Meldeauflage in Baden-Württemberg auf die Generalklausel gestützt (VGH BW, VBlBW 2000, 474, 477). Umstritten ist, ob diese Maßnahme zwingend einer speziellen Ermächtigung bedarf (verneinend: BVerwG, NVwZ 2007, 1439, 1441; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2006, 613).

Bei Auslandsbezug wird die Meldeauflage häufig von Ausreiseverboten und Pass- bzw. Ausweisbeschränkungen flankiert (vgl. § 7 ff. PassG; § 6 Abs. 7 PAuswG); vgl. OVG Bremen, DÖV 2009, 86.

10c

Für die Anordnung einer Ausgangssperre, wie sie in Frankreich zur Bekämpfung krimineller Unruhen in den Vororten großer Städte angeordnet worden ist, fehlt es an einer speziellen gesetzlichen Grundlage. Ein Rückgriff auf die Generalklausel verbietet sich, denn ein derart schwerer Eingriff in die Rechte vieler Bürger (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 11 GG) kann nur durch ein Gesetz, das die tatbestandlichen Voraussetzungen konkret umschreibt, zugelassen werden (s. o. RN 2b).

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei einem zivilen Notstand sehen z. B. § 10 ZSKG und § 29 LKatSG vor.

10d

Ein begünstigender Verwaltungsakt ist keine Polizeiverfügung, da dieser kein Ge- oder Verbot ausspricht, sondern eine Berechtigung begründet oder bestätigt oder eine Belastung beseitigt.

Beispiele: Gewährung einer Entschädigung nach §§ 100 ff.; Aufhebung einer Beschlagnahmeanordnung, § 38.

Nur begünstigender Verwaltungsakt ist grundsätzlich die sog. Einweisungsverfügung, die dem Obdachlosen das Recht auf Nutzung einer Unterkunft (z. B. eine beschlagnahmte Wohnung, s. u. § 38, RN 14 f.) einräumt. Belastend ist sie nur, wenn die zugewiesene Wohnung nicht den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügt (anders VGH BW, NVwZ-RR 1995, 326, 327).

11

Die formellen Rechtmäßigkeitsanforderungen an eine Polizeiverfügung bestimmen sich zunächst nach einem einschlägigen Spezialgesetz, andernfalls nach dem Polizeigesetz oder letztendlich nach dem Landesverwaltungsverfahrensgesetz. Im Einzelnen müssen die folgenden formellen Voraussetzungen vorliegen:

– die Polizei muss zuständig sein (sachlich, instanziell, funktionell und örtlich);

– sie muss beim Erlass die bestehenden Verfahrensvorschriften einhalten (z. B. Anhörung Beteiligter – § 28 LVwVfG, Verbot der Mitwirkung ausgeschlossener Personen – § 20 LVwVfG, Begründung der Entscheidung – § 39 LVwVfG);

– die Polizeiverfügung muss in der dafür vorgeschriebenen Form erlassen werden, wobei grundsätzlich Formfreiheit besteht (§ 37 Abs. 2 LVwVfG).

12

Bei den materiellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen sind zu prüfen:

– die Ermächtigungsgrundlage muss wirksam sein und ihre Tatbestandsvoraussetzungen müssen vorliegen. Ist die polizeiliche Generalklausel Ermächtigungsgrundlage, muss eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gegeben sein (gilt auch für die Allgemeinverfügung, vgl. VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2009, 22); konkret ist eine Gefahr, bei der sich die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts aus einem bestimmten einzelnen (realen) Sachverhalt ergibt.

– die Polizeiverfügung muss sich an den richtigen Adressaten wenden (z. B. §§ 6, 7, 9);

– die Maßnahme muss hinreichend bestimmt sein (§ 37 Abs. 1 LVwVfG);

– soweit die Ermächtigungsgrundlage Ermessen einräumt, muss dieses fehlerfrei ausgeübt werden (s. u. RN 24 ff.). Außerdem darf die Maßnahme nicht gegen höherrangiges Recht (z. B. Grundrechte) verstoßen.

13

Um wirksam zu werden, bedarf die Polizeiverfügung der Bekanntgabe (§ 43 Abs. 1 LVwVfG) nach § 41 LVwVfG oder nach den Vorschriften des Landesverwaltungszustellungsgesetzes. Grundsätzlich setzt die Bekanntgabe die Verfahrenshandlungsfähigkeit (§ 12 LVwVfG) voraus. Die an eine nicht handlungsfähige Person gerichtete Verfügung (zur Zulässigkeit s. u. § 6, RN 4) muss also dem (oder den) gesetzlichen Vertreter(n) bekanntgegeben werden (vgl. § 6 Abs. 1 LVwZG). Muss jedoch sofort gehandelt werden und erscheint der gesetzliche Vertreter nicht oder nicht rechtzeitig erreichbar, ist eine Bekanntgabe auch an den Handlungsunfähigen zulässig.

Beispiel: Ein Polizeibeamter bemerkt, dass ein ca. 10-Jähriger mit dem Auto seiner Eltern losfahren will. Er erlässt gegenüber dem Kind die Anordnung, auszusteigen und den Autoschlüssel herauszugeben.

In derartigen Fällen nur ein Handeln nach § 8 Abs. 1 (unmittelbare Ausführung) zuzulassen, ist schon deswegen nicht sinnvoll, weil die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme bei unvertretbaren Handlungen (wie im obigen Beispiel) nicht zur Anwendung gelangen kann.

Sofern Verkehrszeichen Allgemeinverfügungen sind, werden sie durch Aufstellung nach den Vorschriften der StVO bekanntgegeben (besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe). Sie äußern damit ihre Rechtswirkungen gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Zeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht. Verkehrsteilnehmer ist nicht nur der Fahrer, sondern auch der Halter, solange er Inhaber der tatsächlichen Gewalt über das Fahrzeug ist (BVerwG, NJW 1997, 1021, 1022; VGH BW, Beschl. v. 2.3.2009 – 5 S 3047/08).

14

Eine fehlerhafte Polizeiverfügung führt i. d. R. zur Rechtswidrigkeit mit der Konsequenz, dass – aus Gründen der Rechtssicherheit – die Verfügung dennoch gilt, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (§ 43 Abs. 2 LVwVfG). Nichtig und damit (innerlich) unwirksam ist eine Polizeiverfügung nur unter den Voraussetzungen des § 44 LVwVfG. Zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Polizeiverfügung stehen formlose Rechtsbehelfe (Gegenvorstellung, Fachaufsichtsbeschwerde und Dienstaufsichtsbeschwerde) und förmliche Rechtsbehelfe (Widerspruch und Klage) zur Verfügung.

15

Im Widerspruchsverfahren, das mit Erhebung des Widerspruchs beginnt (§ 69 VwGO), wird die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Polizeiverfügung überprüft (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Erfolg hat der Widerspruch, wenn dieser zulässig und begründet ist. Über den Widerspruch entscheidet zunächst die Ausgangsbehörde, d. h. die Polizeibehörde oder Polizeidienststelle, welche die Polizeiverfügung erlassen oder abgelehnt hat. Sie erlässt einen Abhilfebescheid (§ 72 VwGO), sofern sie den Widerspruch für begründet hält. Andernfalls ergeht ein Widerspruchsbescheid (§ 73 VwGO). Zuständig ist hierfür grundsätzlich die nächsthöhere Behörde (§ 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO), d. h. die Behörde, die die Fachaufsicht über die Ausgangsbehörde hat. Bei Verwaltungsakten einer Polizeidienststelle nach § 105 Abs. 2 ist gem. § 16 AGVwGO nächsthöhere Behörde die unterste nach § 118 zur Fachaufsicht zuständige allgemeine Polizeibehörde.

Beispiel: Widerspruchsbehörde für einen Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt einer Polizeidirektion gemäß § 105 Abs. 2 ist die Kreispolizeibehörde, § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO, § 16 AGVwGO, § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO.

 

16

Rechtsschutz durch verwaltungsgerichtliche Klagen wird gewährt durch die Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 VwGO (gerichtet auf die Aufhebung der Polizeiverfügung), die Verpflichtungsklage, § 42 Abs. 1 VwGO (erstrebt wird der Erlass einer abgelehnten oder unterlassenen Polizeiverfügung) oder durch eine Fortsetzungsfeststellungsklage, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (ihr Ziel ist die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erledigten Polizeiverfügung). Diese Klagen sind gem. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich gegen den Rechtsträger, dem die Behörde oder Dienststelle angehört, zu richten. Klagegegner bei Polizeiverfügungen der obersten Landespolizeibehörde (§ 107 Abs. 1), der Landespolizeibehörden (§ 107 Abs. 2) und der Polizeidienststellen (§ 115) ist das Land. Bei Verwaltungsakten, die von der Kreispolizeibehörde „Landratsamt“ erlassen werden, gilt dies ebenso (§ 107 Abs. 3, § 15 Abs. 1 Nr. 1 LVG, § 1 Abs. 3 LKrO). Bei Polizeiverfügungen einer Großen Kreisstadt, Verwaltungsgemeinschaft, Gemeinde und eines Stadtkreises als Kreis- bzw. Ortspolizeibehörde sind diese selbst Klagegegner.

16a

Vorläufiger Rechtsschutz wird durch Einlegung eines Widerspruchs oder Erhebung einer Anfechtungsklage erlangt. Beide haben nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, d. h., die Polizeiverfügung wird in ihrer Vollziehung gehemmt. In den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO wird dieser Grundsatz allerdings durchbrochen, s. u. § 63, RN 11 ff. Nach Art. 80 Abs. 5 VwGO kann jedoch auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Falle von § 80 Abs. 2 Nr. 1-3 VwGO ganz oder teilweise angeordnet oder im Falle von § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederhergestellt werden.