Polizeigesetz für Baden-Württemberg

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6. Gefahr
a) Begriffsbestimmung

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Eine Gefahr ist eine Sachlage, bei der die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Kurz: hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts.

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Gefahrenabwehr dient der Abwendung eines Schadens. Ein solcher ist eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung eines polizeilichen Schutzgutes. Darin unterscheidet er sich von bloßen Belästigungen, Geschmacklosigkeiten oder Unbequemlichkeiten, die noch keine Gefahr darstellen. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach, zumal sich aus Belästigungen – je nach Ort, Zeit und Intensität – ein Schaden entwickeln kann.

Beispiele: Damenboxkämpfe, Damenringkämpfe oder Damenschlammkämpfe „Oben-Ohne“ sind grundsätzlich eine Geschmacklosigkeit (VG Karlsruhe, GewArch 1978, 163; a. A. BayVGH, NVwZ 1984, 254). Das vereinzelte Bellen eines Hundes ist regelmäßig keine Belästigung, anders dann, wenn dieses ständig und evtl. auch nachts erfolgt. Zur Lärmbelästigung durch Kuhglocken vgl. VGH BW 1996, 232.

Ob eine Beeinträchtigung nicht unerheblich ist, beurteilt sich aus der Sicht des sogenannten Durchschnittsbürgers.

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Für den Schadenseintritt muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen. Diese liegt zwischen der bloßen Möglichkeit und der Gewissheit des Eintritts des Schadens. Wo genau im Einzelfall, ist abhängig von der Wertigkeit der zu schützenden und der Rechtsgüter, in die durch die polizeiliche Maßnahme eingegriffen wird (VGH BW, Urt. v. 28.7.2009 – 1 S 2200/2008, VGH BW, VBlBW 1982, 338, 339; 1983, 110, 112; 1989, 108, 109; NVwZ 1990, 781, 782).

Beispiele: Werden besonders hochwertige Rechtsgüter, wie das Leben oder das Grundwasser gefährdet, genügt zur Bejahung einer Gefahr in der Regel bereits die Möglichkeit des Schadenseintritts (VGH BW VBlBW 1996, 221, 222; NVwZ-RR 1996, 387, 388; vgl. aber auch VGH BW, NVwZ-RR 2002, 16). Andererseits sind z. B. bei einer Gewahrsamnahme einer Person grundsätzlich höhere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen.

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Ob der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist, ergibt sich aufgrund einer Prognose. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Prognose ist auf den Kenntnisstand der Polizei (subjektiver Gefahrenbegriff) im Zeitpunkt ihres Einschreitens (sogenannte Ex-ante-Betrachtung) abzustellen. Durfte die Polizei hiernach aufgrund verständiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles davon ausgehen, ein Schaden werde eintreten, wird ihr Handeln nicht deswegen rechtswidrig, wenn sich später – z. B. aufgrund eines neueren Erkenntnisstandes – herausstellt, dass objektiv eine Gefahr überhaupt nicht bestanden hat. Diese so bezeichnete Anscheinsgefahr ist also eine ganz „normale“ Gefahr (OLG Karlsruhe, VBlBW 2000, 329).

Beispiel: Es wird festgestellt, dass der gesamte Kälberbestand im Zuchtbetrieb des Bauern H hormonbelastet ist. Daraufhin werden Kälber aus diesem Betrieb auf einem Viehtransporter vor der französischen Grenze beschlagnahmt. Eine spätere Untersuchung ergibt, dass die Kälber nicht belastet sind. Die Beschlagnahme war dennoch rechtmäßig. Die Prognose ist aufgrund von Tatsachen, allgemeiner Lebenserfahrung, polizeilichem Erfahrungswissen und aufgrund wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse zu treffen. Ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum steht der Polizei hierbei nicht zu.

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Für die Praxis bedeutsam ist die Frage, ob bereits die Zugehörigkeit zu einem Personenkreis oder einer „Szene“ eine von der Person ausgehende Gefahr belegt. Für Personen, die der Trinker- oder Punkerszene angehören, wird man das nicht ohne Weiteres annehmen können, weil von diesem Personenkreis nicht zwangsläufig, ohne Hinzutreten weiterer Umstände, Gefahren ausgehen (vgl. VGH BW, NVwZ 2003, 115, 116). Hier muss also konkret ermittelt werden, ob im Einzelfall Handlungen die Gefahrenschwelle überschreiten. Demgegenüber hat die Rechtsprechung die erwiesene Zugehörigkeit zur Hooligan-Szene als Gefahr für die öffentliche Sicherheit angesehen, selbst wenn der Betroffene bisher nicht einschlägig vorbestraft ist (BayVGH, BayVBl. 2006, 671; enger VG Stuttgart, VBlBW 2007, 67, 68 f.). Nach OVG NW (DÖV 2001, 216) ist die offene Drogenszene als kollektives Geschehen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Demnach stelle die Angehörigkeit zu dieser Szene, sei es als Drogenhändler, Drogenkonsument oder als Person, die auf sonstige Weise zur Verfestigung der Drogenszene beiträgt, eine Gefahr für dieses Schutzgut dar (vgl. auch VGH BW, VBlBW 1997, 66 ff.; OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 317; OVG Lüneburg, NVwZ 2000, 454; BayVGH, NVwZ 2001, 1291, 1292). Wer sich wesentliche Elemente der Reichsbürgerbewegung zu eigen macht, gilt im Hinblick darauf, dass beim Umgang mit Waffen und Munition die Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu wahren sind, wegen der Leugnung der Existenz der Bundesrepublik und ihrer Rechtsordnung als waffenrechtlich unzuverlässig; auf konkrete waffenrechtliche Verstöße kommt es dabei nicht an (OVG Lüneburg, NJW 2017, 3256; Roth, NVwZ 2018, 1772).

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Nach verbreiteter Auffassung (vgl. VGH BW, VBlBW 1990, 469, 471; 1993, 298, 300; 1995, 64, 6) soll bereits das Vorliegen eines Gefahrenverdachts polizeiliche Eingriffsmaßnahmen erlauben. Anders als bei der Anscheinsgefahr, bei der sich die Polizei im Zeitpunkt des Einschreitens sicher ist, dass ein Schaden eintreten wird, ist sich die Polizei hier unsicher über den weiteren Geschehensablauf. In dieser Situation sollen sogenannte Gefahrerforschungseingriffe zulässig sein, um festzustellen, ob wirklich eine Gefahr besteht. Der Begriff „Gefahrenverdacht“ ist jedoch „mit Vorsicht zu genießen“. Oft handelt es sich um Situationen, in denen tatsächlich eine Gefahr vorliegt, bei der jedoch, in Anbetracht der Wertigkeit der zu schützenden Güter, geringere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden können. Gefahrerforschungseingriffe ohne das Vorliegen einer konkreten Gefahr sind auch dann zulässig, wenn das Gesetz an andere Zulässigkeitskriterien anknüpft, wie z. B. die §§ 43 Abs. 1, 27 Abs. 1 Nr. 2–7, 28. Außerhalb dieser Fälle erlaubt der bloße Gefahrenverdacht keine Eingriffe, es sei denn, ein spezielles Gesetz hält einen solchen für ausreichend (z. B. §§ 39 Abs. 2, 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 LFGB, § 9 Abs. 2 BBodSchG).

Das Bundesverwaltungsgericht (NVwZ 2003, 95, 96) hat der Zulässigkeit von Eingriffen bei Vorliegen eines bloßen Gefahrenverdachts eine klare Absage erteilt und festgestellt, es sei „Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind“. Damit wird auch jenen entgegengetreten, die Gefahrerforschungseingriffe auf manchmal recht eigenwillige Weise zu begründen versuchen, so etwa, weil die Generalermächtigung einen Gefahrerforschungseingriff stillschweigend mit enthalte, weil § 24 LVwVfG eine Pflicht zur Duldung von Eingriffen begründe oder weil Störer bereits derjenige sei, der einen subjektiv behördlichen Verdacht erzeuge.

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Von einer Schein- oder Putativgefahr spricht man, wenn in vorwerfbarer Weise von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen oder nicht nachvollziehbar prognostiziert wird. Sie ist keine Gefahr; in derartigen Situationen getroffene Maßnahmen sind rechtswidrig.

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Nach „herkömmlichem Verständnis“ (vgl. VGH BW, NJW 1987, 3022; BVerwG, NJW 1990, 2765 und 2768) umfasst die Gefahrenabwehr auch die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten und die Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr. Zumindest wird die Polizei in einigen Befugnisnormen ermächtigt, zu diesen Zwecken zu handeln (z. B. §§ 41 Abs. 1 Nr. 2, 43 Abs. 3, 49 Abs. 1 Nr. 2 u. 3, 50 Abs. 1, 56 Abs. 1). Eine nähere Erläuterung dieser Begriffe erfolgt dort.

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Der Schadenseintritt muss in absehbarer Zeit hinreichend wahrscheinlich sein. Eine unmittelbar bevorstehende Gefahr ist also im Normalfall nicht notwendig, die weit entfernte Möglichkeit des Schadenseintritts reicht nicht aus.

b) Arten von Gefahren

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Regelmäßig werden durch gesetzliche Vorschrift besondere Anforderungen an die Gefahr gestellt, wie beispielsweise ein besonders naher Schadenseintritt (unmittelbar bevorstehend), eine Gefährdung besonders wichtiger Rechtsgüter (Leben und Gesundheit) oder bestimmte Situationen (Gefahr im Verzug). Besondere Gefahrenarten, die teilweise auch miteinander kombiniert werden, sind:

– konkrete Gefahr (§§ 3, 43 Abs. 2, 27 Abs. 1 Nr. 1, 53 Abs. 1 Nr. 1, 26 Abs. 1, 33 Abs. 1 Nr. 2, 48 Abs. 1 Satz 1),

– abstrakte Gefahr (§§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1),

– Gefahr im Verzug (§§ 2 Abs. 1, 53 Abs. 5, 112 Abs. 1, Abs. 2, 113 Abs. 2, 122 Abs. 3),

– dringende Gefahr (§§ 54 Abs. 1 Nr, 1, 36 Abs. 1 Satz 1),

 

– unmittelbar bevorstehende Störung oder gegenwärtige Gefahr (§§ 9 Abs. 1, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4, 33 Abs. 1 Nr. 1, 67 Abs. 2 Satz 2, 68 Abs. 2),

– gemeine Gefahr (§ 36 Abs. 1 Satz 2),

– Gefahr für Leben und Gesundheit (§§ 28 Abs. 3 Nr. 1, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4, 36 Abs. 1 Satz 2, 48 Abs. 1, 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Satz 2),

– erhebliche Gefahr (§§ 54 Abs. 1 Nr. 1, 33 Abs. 1 Nr. 1, 61 Abs. 4 Nr. 3, 32 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4),

– Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes (§§ 29 Abs. 2, 48 Abs. 1 Satz 1, 50 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1 Satz 2),

– Gefahr für bedeutende fremde Sach- und Vermögenswerte (§ 28 Abs. 3 Nr. 1),

– Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit (§ 68 Abs. 2).

Die Inhalte der jeweiligen Gefahrbegriffe werden bei den sie verwendenden Vorschriften erläutert.

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Keine besondere Gefahr ist die sogenannte latente Gefahr. Damit bezeichnet man eine Situation, die zurzeit ungefährlich ist, jedoch später aufgrund veränderter Bedingungen zu einem Schaden führen kann. Der Begriff „latente Gefahr“ ist überflüssig. Entscheidend ist, dass im Zeitpunkt des Einschreitens eine Gefahr vorliegt, ob diese bereits früher latent, d. h. schlummernd existierte, ist unmaßgeblich.

Beispiel: Jemand betreibt eine Tischlerei. Nachdem in der Umgebung einige Gewerbebetriebe in Wohnungen umgewandelt wurden, fühlen sich deren Bewohner von dem Lärm der Tischlerei gestört. Ob hierdurch eine Gefahr gegeben ist, beurteilt sich aus heutiger Sicht. Darauf, ob diese früher möglicherweise latent bestanden hat, kommt es nicht an.

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Überflüssig ist auch der Begriff „Dauergefahr“. Nach einem Teil der Rechtsprechung (KG, NVwZ 2002, 1537, 1540; OLG Düsseldorf, NVwZ 2002, 629; OVG Koblenz, NVwZ 2002, 1528; abl. OLG Frankfurt, NVwZ 2002, 626 – zur Zulässigkeit der Rasterfahndung nach terroristischen „Schläfern“) soll eine derartige Gefahr, die sich jederzeit verwirklichen könne, mit einer gegenwärtigen Gefahr gleichzusetzen sein. Damit wird aber die vom Gesetzgeber gewollte Differenzierung zwischen den Gefahrenarten unzulässigerweise eingeebnet. Für eine „Dauergefahr“ gelten vielmehr die gleichen Anforderungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und der zeitlichen Nähe des Schadeneintritts. Eine „allgemeine Bedrohungslage“ (wie seit dem 11.9.2001) genügt für die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr nicht (BVerfGE 115, 320, 364 ff.)

7. Störung

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Von einer Störung spricht man, wenn an einem polizeilichen Schutzgut bereits ein Schaden entstanden ist. Da die Polizei nach dem Polizeigesetz nur zu präventivem Handeln befugt ist, können aber nur solche Störungen relevant sein, aus denen die Entstehung eines weiteren Schadens zu befürchten ist. Störungsbeseitigung ohne gleichzeitige Gefahrenabwehr dient anderen Zwecken, etwa der (repressiven) Strafverfolgung. Es ist sprachlich in sich widersprüchlich, wenn einige Befugnisnormen des Polizeigesetzes als Eingriffsvoraussetzung unter anderem das Vorliegen einer „unmittelbar bevorstehenden Störung“ verlangen (§§ 9 Abs. 1, 33 Abs. 1 Nr. 1, 38 Abs. 1 Nr. 1). Richtigerweise muss hier eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr“ geprüft werden. Eine Tautologie ist es schließlich, wenn ebenda von einer „bereits eingetretenen Störung“ gesprochen wird. Als engere Tatbestandsvoraussetzung, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, scheidet dieser Begriff ohnehin aus, weil er inhaltlich mit der „normalen“ Gefahr identisch ist. Letztlich ist also der Begriff Störung überflüssig und konsequenterweise verzichten nahezu alle neueren Polizeigesetze auf diesen Begriff.

8. Öffentliches Interesse

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Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 erwähnte „öffentliche Interesse“ an der Gefahrenabwehr ist kein gesondert zu prüfendes Tatbestandsmerkmal (missverständlich VGH BW, VBlBW 2008, 375, 377). Werden die von der „öffentlichen Sicherheit“ umfassten Schutzgüter betroffen, impliziert dieses grundsätzlich ohne Weiteres ein öffentliches Interesse am Einschreiten. Beim Schutz privater Rechte (§ 2 Abs. 2) hat der Gesetzgeber bereits von sich aus das fehlende öffentliche Interesse dokumentiert, indem er dort eine polizeiliche Zuständigkeit im Grundsatz verneint. In freier Willensbestimmung vorgenommene ausschließliche Selbstgefährdungen (z. B. Bungee-Jumping [vgl. VGH BW, VBlBW 1995, 24], Bergsteigen, Autorennen, Fallschirmspringen) sind nach Art. 2 Abs. 1 GG zulässig und können daher nicht einmal als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angesehen werden, i. d. R. auch dann nicht, wenn sie andere zu gefährlichen Rettungsaktionen veranlassen, denn diese können dem sich selbst Gefährdenden nicht unmittelbar zugerechnet werden (a. A. VGH BW, VBlBW 1998, 25, 26 f.; VGH BW, VBlBW. 2013, 178). Ist jemand in seiner freien Willensbestimmung eingeschränkt (z. B. Kinder, Betrunkene) so darf bzw. muss die Polizei zum Schutz von Leben und Gesundheit handeln (vgl. z. B. § 33 Abs. 1 Nr. 2 b), ohne dass zusätzlich ein öffentliches Interesse zu prüfen wäre. Das Gleiche gilt – nach der in § 33 Abs. 1 Nr. 2 c zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers – für die Selbsttötung, ohne dass es hier darauf ankäme, ob dieser frei willensbestimmt ist oder nicht.

9. Sonstige Aufgaben der Polizei (Abs. 2)
a) Übertragung durch Gesetz oder Rechtsverordnung

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Neben der Aufgabe der allgemeinen Gefahrenabwehr (Abs. 1) hat die Polizei die ihr durch andere bundes- oder landesrechtliche Rechtsvorschriften (Gesetz oder Rechtsverordnung) übertragenen Aufgaben wahrzunehmen (Abs. 2). Eine Übertragung durch Satzung oder Verwaltungsvorschrift ist nicht zulässig. Die Aufgabe kann eine solche zur (speziellen) Gefahrenabwehr sein, sie kann aber auch andere Inhalte aufweisen. In jedem Fall bestimmen sich die formellen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen polizeilicher Maßnahmen zunächst nach dem speziellen Gesetz. Zur Frage, ob darüber hinaus ein Rückgriff auf die Vorschriften des Polizeigesetzes geboten und zulässig ist, s. u. RN 54 und § 3, RN 4.

b) Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten

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Dass die sonstigen der Polizei zugewiesenen Aufgaben kein unbedeutendes „Anhängsel“ sind, wird bei den Aufgaben Strafverfolgung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sichtbar. So ist z. B. die Kriminalpolizei ausschließlich in diesem Bereich tätig (§ 23 Abs. 2 DVO PolG). Strafverfolgung und die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sind repressiv, sie knüpfen an eine begangene Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit an, dienen dazu, den, der schuldhaft eine Tat begangen hat, seiner Bestrafung oder Buße zuzuführen und sind damit im Wesentlichen vergangenheitsorientiert. Das unterscheidet sie von der präventiven Gefahrenabwehr, die bevorstehende Schadensereignisse verhindern will und bei der die Schuld des Verursachers an der Entwicklung des Geschehens grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Die Gesetzgebungskompetenz für das Strafverfolgungsrecht und das Ordnungswidrigkeitenrecht liegt beim Bund (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG).

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Nach § 160 Abs. 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft Straftaten zu erforschen. Zu diesem Zweck kann sie Ermittlungen selbst vornehmen oder durch den Polizeivollzugsdienst vornehmen lassen (§ 161 StPO). Regelmäßig wird der Polizeivollzugsdienst jedoch aufgrund eigener Initiative zur Erforschung von Straftaten tätig – Recht des ersten Zugriffs (§ 163 Abs. 1 StPO). Die §§ 161 und 163 Abs. 1 StPO sind lediglich Aufgabenzuweisungsnormen. Welche konkreten Maßnahmen dem Polizeivollzugsdienst im Ermittlungsverfahren zustehen, ergibt sich ausschließlich aus den Befugnisnormen der StPO, d. h., ein Rückgriff auf die Generalklausel des Polizeigesetzes oder auf andere seiner Befugnisnormen ist – selbst bei Regelungslücken in der StPO – ausgeschlossen. Eine Ausnahme besteht hinsichtlich der Vorschriften zum unmittelbaren Zwang: weil die StPO über die Art und Weise seiner Anwendung keine Aussage enthält, ist es zum Zwecke einer rechtsstaatlichen Begrenzung dieses Mittels gerechtfertigt, die §§ 64 ff. entsprechend heranzuziehen.

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Präventive und repressive polizeiliche Tätigkeit voneinander abzugrenzen ist nicht immer ganz einfach, da sie sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild häufig gleichen.

Beispiele: Die Durchsuchung einer Wohnung ist sowohl nach § 36 Abs. 2 PolG wie auch nach § 102 StPO zulässig.

Einfache körperliche Gewalt (unmittelbarer Zwang) kann der Verhütung einer Straftat, aber auch der Strafverfolgung dienen.

Entscheidend ist, wo das Schwergewicht der polizeilichen Tätigkeit nach ihrer objektiven Zweckrichtung liegt. Das ist für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen, wobei im Ergebnis nur das eine oder andere Recht angewendet werden kann (BVerwG, NJW 1975, 893; VGH BW, VBlBW 1984, 245, 247; 1989, 16, 17; 2005, 63 f.). Eine korrekte Zuordnung zum jeweiligen Rechtsgebiet ist deshalb notwendig, weil die Rechtmäßigkeitsanforderungen unterschiedlich ausgestaltet sind. Außerdem werden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO), solche zur Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten jedoch von den ordentlichen Gerichten (§ 23 GVG) überprüft, da der Polizeivollzugsdienst hier als Justizbehörde im funktionellen Sinn angesehen wird.

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Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sind grundsätzlich die Verwaltungsbehörden zuständig (§§ 35, 36 OWiG i. V. m. §§ 1 ff. OWiZuVO). Der Polizeivollzugsdienst wird für diese entweder auf Ersuchen tätig (§ 46 Abs. 1, 2 OWiG; § 161 StPO) oder er handelt aus eigener Initiative nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 53 OWiG). Er hat hierbei grundsätzlich die gleichen Befugnisse wie im Strafverfahren (vgl. jedoch § 46 Abs. 2 bis 5 OWiG). Sofern dies ausdrücklich bestimmt ist, können auch Polizeibehörden und der Polizeivollzugsdienst zuständige Verfolgungsbehörde sein (§ 36 OWiG). In Baden-Württemberg finden sich entsprechende Bestimmungen nur für Polizeibehörden (z. B. § 2 ff. OWiZuVO).

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Bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten kann die zuständige Verwaltungsbehörde den Betroffenen verwarnen und ein Verwarnungsgeld erheben (§ 55 OWiG). Diese Befugnis steht auch den Beamten des Polizeivollzugsdienstes gem. § 57 Abs. 2 OWiG zu.

c) Andere sonstige Aufgaben

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Zu den sonstigen Aufgaben der Polizei gehört auch die Pflicht, Amtshilfe zu leisten. Darunter versteht man die Vornahme von Handlungen rechtlicher oder tatsächlicher Art durch die Polizei zur Unterstützung einer Amtshandlung der ersuchenden Behörde.

Beispiele: Eine Polizeidienststelle überlässt dem ersuchenden Straßenbauamt, das eine Straßenführung verbessern will, ihre Unfalldiagramme zur Einsicht. Die Ausländerbehörde erteilt der Sozialbehörde Auskünfte über einen sozialhilfeberechtigten Ausländer.

Die Verpflichtung, Amtshilfe zu leisten, besteht allgemein aufgrund Art. 35 GG, Art. 35 Abs. 3 VerfBW und für die gefahrenabwehrende Tätigkeit der Polizei (also nicht bei der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, vgl. §§ 1, 2 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG) aufgrund der §§ 4–8 LVwVfG oder aufgrund spezieller Rechtsvorschriften. Werden anlässlich der Amtshilfe personenbezogene Daten übermittelt (Informationshilfe) sind vor allem die Vorschriften über die Datenübermittlung (§§ 59 ff.) zu beachten. Amtshilfe für die Nachrichtendienste (Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst) ist insofern eingeschränkt, als die Polizei nicht um solche Maßnahmen ersucht werden darf, zu denen diese selbst nicht befugt ist (§ 5 Abs. 3 LVSG, § 8 Abs. 3 BVerfSchG; § 2 Abs. 3 BNDG, § 4 Abs. 2 MADG).

 

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Die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme, für die die Polizei Amtshilfe leistet, trägt die ersuchende Behörde. Dagegen ist die Polizei für die Rechtmäßigkeit der Durchführung der Amtshilfe verantwortlich (§ 7 Abs. 2 LVwVfG), wobei jede Stelle das für sie geltende Recht anwendet (§ 7 Abs. 1 LVwVfG). Dementsprechend gilt für den Rechtsschutz: Begehrt der Bürger die Aufhebung von Maßnahmen der ersuchenden Behörde, muss er seine Rechtsbehelfe gegen diese richten. Rügt er Art und Weise der Durchführung der Amtshilfe, ist der jeweilige Träger der Polizei Klagegegner.

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Keine Amtshilfe liegt vor, wenn Behörden innerhalb eines bestehenden Weisungsverhältnisses Hilfe leisten (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 LVwVfG). Dazu zählen z. B. Amtshandlungen einer nachgeordneten für eine übergeordnete Polizeidienststelle bzw. Polizeibehörde wie auch solche von Polizeidienststellen für allgemeine Polizeibehörden (vgl. § 119).

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Amtshilfe liegt auch dann nicht vor, wenn die Hilfeleistung in Handlungen besteht, die der ersuchten Behörde als eigene Aufgabe obliegen (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG). Hierzu gehört vor allem die Vollzugshilfe des Polizeivollzugsdienstes aufgrund allgemeiner (§ 105 Abs. 5) oder besonderer Vorschriften (z. B. § 7 LVwVG, § 44 Abs. 2–4 WPflG, § 23 a ZDG, §§ 287 Abs. 3, 288 AO, §§ 758 Abs. 3, 759 ZPO, §§ 892 a i. V. m. 758 Abs. 3 und 759 ZPO, § 26 Abs. 2 LKJHG), aber auch das Handeln bei Gefahr im Verzug (z. B. §§ 2 Abs. 1, 112, 113 Abs. 2), zumal in diesen letztgenannten Fällen auch nicht auf Ersuchen gehandelt wird.

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Über die Verpflichtung zur Amtshilfe hinaus geht die gegenseitige Unterstützungspflicht aller Polizeidienststellen (§ 8 Abs. 1 DVO PolG), weil sie kein Ersuchen voraussetzt. Vielmehr haben sich die Polizeidienststellen von sich aus von allen Wahrnehmungen zu unterrichten.

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Zur großen Zahl anderer sonstiger Aufgaben vgl. die Erläuterungen zur Zuständigkeit der Kreis- und Ortspolizeibehörden (§ 111, RN 8) und zur Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes (§ 105, RN 4 ff.).