Polizeigesetz für Baden-Württemberg

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cc) Schutz kollektiver Rechtsgüter

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Als kollektive Rechtsgüter werden solche angesehen, deren Schutz mit Rücksicht auf die Allgemeinheit, vornehmlich also auf das Leben in der staatlich organisierten Gemeinschaft, geboten ist (BVerwG, DVBl. 1974, 299 f.). Dazu zählen z. B. die öffentliche Wasserversorgung, die Volksgesundheit und die Natur und Landschaft (VGH BW, VBlBW 1987, 109, 110). Polizeilicher Schutz dieser Güter ist jedoch nur im Rahmen der vorhandenen Gesetze (z. B. Wassergesetz, Naturschutzgesetz, Infektionsschutzgesetz, Tiergesundheitsgesetz, Gentechnikgesetz, Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch) möglich, denn es ist nicht Aufgabe der Polizei, neue Standards zu setzen.

Insofern ist die eigenständige Nennung dieses Schutzgutes im Grunde überflüssig. Wenn dann sogar „die Erhaltung und Verbesserung der Reinlichkeit des öffentlichen Raums“ dem Schutzgut öffentliche Sicherheit zuzuordnen sein soll (so VGH BW, VBlBW 2006, 103, 104), ist der Weg zum kollektiven Schutzgut „Kehrwoche“ nicht mehr weit.

b) Schutzgut: Individualgüter

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Die Polizei hat auch die durch die Rechtsordnung geschützten Rechtsgüter des Einzelnen zu schützen. Zu diesen Individualrechtsgütern gehören u. a. Leben, Gesundheit, Freiheit, Würde, Ehre, Eigentum.

Beispiele: Untersagung eines sogenannten Zwergenweitwurfs, der einen Verstoß gegen die Würde des Menschen darstellt (VG Neustadt, GewArch 1992, 296).

Einschreiten gegen gesundheitsbeeinträchtigendes Hundegebell (VGH BW, BWVPr. 1975, 60; VBlBW 1982, 142; 1996, 196), lärmende Kuhglocken (VGH BW, VBlBW 1996, 232) oder gegen herumstreunende Hunde, die Unfälle verursachen können.

Untersagung der Leistung aktiver Sterbehilfe zum Schutz des Lebens (VG Karlsruhe, NJW 1988, 1536; VGH BW, NVwZ 1990, 378).

Zum Betrieb eines Laserdromes angesichts der Menschenwürde s. u. RN. 36.

Soweit die Präsentation von Plastinaten Verstorbener (Ausstellung, „Körperwelten“) der (populär-)wissenschaftlichen Vermittlung anatomischer Gegebenheiten dient, sie in einem sachlichen, auch der postmortalen Würde des Toten angemessenem Rahmen stattfindet und das sittliche Empfinden der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird, widerspricht sie nicht den bestehenden bestattungsrechtlichen Regelungen, insbesondere dem § 25 BestattG (VGH BW, VBlBW 2006, 186). Ein Verbot der Ausstellung insgesamt aufgrund der §§ 1, 3 wäre daher unzulässig.

Ein durch Polizeiverordnung erlassenes Taubenfütterungsverbot dient dem Schutz des Eigentums an Gebäuden und der Abwehr von Gesundheitsgefahren (VGH BW, VBlBW 2006, 103, 104).

Schuss auf einen Geiselnehmer oder Amokläufer zum Schutz des Lebens der bedrohten Personen.

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Auch das Vermögen, d. h. die Summe aller geldwerten Rechte, gehört zu den geschützten Individualgütern.

Beispiele: Die Polizei stellt zur Sicherung einer Forderung die Personalien des Schuldners gem. § 27 Abs. 1 Nr. 1 fest.

Zur Durchsetzung des Besitz- und Nutzungsrechts an Pkw und Garage wird ein davor parkendes Fahrzeug abgeschleppt (VG Freiburg, NJW 1979, 2060).

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Die umfassende Einbeziehung der Individualrechte in das Schutzgut „öffentliche Sicherheit“ bedeutet nicht zugleich eine umfassende Zuständigkeit der Polizei. Zum Schutz ausschließlich privater Rechte darf nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 eingeschritten werden.

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Zu den Individualrechten zählen auch die staatsbürgerlichen Rechte (z. B. Wahlrecht) und die Grundrechte. Aufgabe der Polizei ist es, ihre ungehinderte Ausübung zu gewährleisten (vgl. auch § 1 Abs. 1 Satz 2).

Beispiele: Schutz einer Versammlung vor externen Störungen, Art. 8 GG (VGH BW, NVwZ-RR 1990, 602, 603). Schutz des Lebens einer obdachlosen Familie, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, durch Beschlagnahme einer Wohnung (VGH BW, VBlBW 1985, 18). Schutz rechtmäßig Streikender, Art. 9 Abs. 3 GG, vor Übergriffen von Streikbrechern. Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) durch Beschlagnahme einer Bildaufnahme, die unbefugt hergestellt wurde (VBlBW 1995, 282, 283; 2008, 375).

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Bei ausschließlichen Selbstgefährdungen liegt grundsätzlich keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor, sodass sich ein polizeiliches Eingreifen verbietet (Näheres s. u. RN 51).

c) Schutzgut: Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind

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Prinzipiell stellt jeder (drohende) Verstoß gegen Normen der Rechtsordnung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Folgende Einschränkungen sind aber geboten: Sofern Rechtsgüter ausschließlich durch Normen des Privatrechts geschützt sind, ist die Polizei nur subsidiär unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 zuständig. Außerdem ist es nicht Sache der Polizei, bei jeder Verletzung einer Norm des öffentlichen Rechts einzuschreiten. Polizeirechtlich relevant sind lediglich Verstöße gegen die normativen Ge- oder Verbote des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts und des Verwaltungsrechts (VGH BW, NVwZ 1994, 1233, 1234).

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Schutz der Strafgesetze und Ordnungswidrigkeitentatbestände bedeutet vorbeugende Verhütung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (nicht zu verwechseln mit der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, s. u. RN 46).

Beispiele: Untersagung der Nutzung von Räumen, in denen ein bordellartiger Betrieb unter Verstoß gegen § 180 a Abs. 1 Nr. 2 StGB oder gegen § 184 a StGB bzw. § 120 OWiG unterhalten wird (VGH BW, NVwZ-RR 1990, 413; VGH Kassel, NVwZ-RR 1993, 302, 303).

Beschlagnahme eines Transparentes, durch das eine ausländische diplomatische Vertretung beleidigt (§ 103 StGB) wird (BVerwGE 64, 55). Dagegen erfüllt das bloße Mitführen oder Hissen der Reichskriegsflagge weder den Straftatbestand des § 86 a StGB noch den des § 130 StGB. Ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit ist also nicht gegeben (OVG Münster, NJW 1994, 2909). Zum möglichen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung s. u. RN 39. Verbot der Hundehaltung wegen ständigen Bellens als Verstoß gegen § 117 OWiG (BVerwG, NVwZ 1993, 268).

Zur Frage, ob das Läuten von Kuhglocken den objektiven Tatbestand des § 117 OWiG erfüllt, vgl. VGH BW 1996, 232. Zur Strafbarkeit des Bettelns s. u. RN 37.

Die Kontaktaufnahme von Freiern zu Prostituierten im Sperrbezirk ist als solche kein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit, denn der Freier ist nach h. L. weder Beteiligter (§ 14 OWiG) noch Teilnehmer (§ 25 StGB) an der verbotenen Ausübung der Prostitution (§ 120 OWiG, § 184 d StGB), sondern strafloser „notwendiger Gehilfe“ (vgl. aber auch RN 35). Sprechen allerdings Freier auch unbeteiligte Frauen und Mädchen – in der irrigen Annahme, es handele sich um Prostituierte – auf die Erbringung von sexuellen Leistungen an, so erfüllen sie den Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) und beeinträchtigen zudem die geschützte Ehre der Frauen – Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. VGH BW, VBlBW 2001, 142, 144).

Untersagung der unerlaubten Ausübung der Heilkunde als Abwehr weiterer drohender Verstöße gegen die strafbewehrte Vorschrift des § 5 Heilpraktikergesetz (VGH BW VBlBW 2007, 24, 25).

Wird beim Umgang mit Leichen gegen Vorschriften des Bestattungsgesetzes (z. B. §§ 25 ff.) verstoßen, so kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden (VGH BW, VBlBW 2006, 186, 187 f.).

Verbot der Veranstaltung eines „Hütchenspiels“ zur Verhütung der Begehung einer Straftat nach §§ 284, 263 StGB (VG Frankfurt, NVwZ 2003, 1407; 2008, 109); Verbot von Pokerveranstaltungen (VGH Kassel, NVwZ-RR 2009, 62; VG Hamburg, NVwZ-RR 2009, 63).

Die Beschlagnahme von Werkzeug, das gewerbsmäßig dazu benutzt wird, um Kilometerzähler in Kfz. zurückzustellen, dient dazu, eine zukünftige Beihilfe zu betrügerischen Handlungen zu verhindern (OVG Hamburg, DÖV 2004, 928).

Zum „wilden Plakatieren“ und Anbringen von Graffiti s. u. RN 39b.

25a

Ein Tätigwerden in Baden-Württemberg aufgrund des Polizeigesetzes kann auch zur vorbeugenden Verhütung von Straftaten im Ausland zulässig sein, z. B. wenn eine Straftat nach § 6 StGB droht, unabhängig davon, ob die Person Deutscher oder Ausländer ist oder eine Straftat eines Deutschen nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu erwarten ist, denn in beiden Fällen gilt hinsichtlich der im Ausland bevorstehenden Taten deutsches Strafrecht (vgl. OVG Koblenz, NVwZ 2002, 1528; KG, NVwZ 2002, 1537, 1539).

Beispiel: Eine Polizeibehörde erlässt eine Meldeauflage nach §§ 3, 1 Abs. 1 gegenüber einem Hooligan, der beabsichtigt, nach Frankreich zu reisen, um dort anlässlich eines Fußballspiels Gewalttaten (z. B. §§ 233 ff. StGB) zu begehen (vgl. BVerwG, NVwZ 2007, 1439). Zu Passbeschränkungen vgl. OVG Bremen, DÖV 2009, 86.

 

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Ein polizeiliches Einschreiten setzt lediglich die Verwirklichung des objektiven Tatbestands der Norm aus dem Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht voraus, nicht aber den subjektiven Tatbestand, ein Verschulden, evtl. erforderliche objektive Strafbarkeitsbedingungen (z. B. diplomatische Beziehungen in § 104 a StGB) und auch nicht das Vorliegen von Strafverfolgungsvoraussetzungen (z. B. Strafantrag, §§ 123, 185 ff. StGB).

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Die Tätigkeit zur vorbeugenden Verhütung von Straftaten darf nicht mit der Strafverfolgung aufgrund der Strafprozessordnung verwechselt werden. Erstere dient dazu, die Begehung von Straftaten zu verhindern, Letztere, eine begangene Straftat zu verfolgen und zu ahnden (Näheres s. u. RN 53 ff.). Polizeiliches Handeln dient – hinsichtlich einer Maßnahme – entweder dem einen oder dem anderen Zweck, nicht aber zugleich beiden gemeinsam. Dementsprechend sind die Rechtsgrundlagen entweder dem Polizeigesetz oder dem Strafverfahrensrecht zu entnehmen. Aber selbst dann, wenn bereits eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen wurde, bleibt evtl. noch Raum zur vorbeugenden Verhütung, etwa wenn es gilt, die weitere Begehung eines Dauerdeliktes zu verhindern oder dafür zu sorgen, dass ein strafbarer Versuch nicht vollendet wird.

Beispiel: Wird in einem Sperrgebiet der Prostitution nachgegangen, liegt zumindest eine vollendete Ordnungswidrigkeit nach § 120 Abs. 1 Nr. 1 OWiG vor. Dennoch kann die Polizei zusätzlich aufgrund des Polizeigesetzes zur vorbeugenden Verhütung einschreiten, nämlich zur Verhütung der weiteren Begehung dieser Dauerordnungswidrigkeit.

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Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt auch dann vor, wenn die Verletzung von Ge- oder Verbotsnormen des Verwaltungsrechts droht. In aller Regel scheidet jedoch ein Einschreiten aufgrund des Polizeigesetzes aus, weil verwaltungsrechtliche Gesetze zumeist eigene spezielle Ermächtigungsgrundlagen enthalten (z. B. § 65 Abs. 1 LBO, § 15 Abs. 2 GewO, § 16 Abs. 1 IfSG). Nur wenn solche fehlen, bleibt Raum für die Anwendung der polizeilichen Generalklausel (konkretisierende Verfügung und dazu s. u. § 3, RN 4).

5. Das Schutzgut „öffentliche Ordnung“
a) Erläuterung des Begriffs

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Unter „öffentliche Ordnung“ versteht man die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes staatsbürgerliches Zusammenleben betrachtet wird. Diese Umschreibung enthält eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe, die ihrerseits der Auslegung bedürfen. Hierbei ist zu beachten, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ auch in anderen Rechtsgebieten verwendet wird (z. B. Überschrift vor § 123 StGB, § 118 OWiG, Art. 36 AEUV), dort aber durchaus einen anderen Inhalt haben kann.

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Nur ein Verhalten in der Öffentlichkeit oder ein solches, das in die Öffentlichkeit ausstrahlt, ist beachtenswert. Vorkommnisse in der Privatsphäre gehen die Polizei also nichts an.

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Das Verhalten muss außerrechtliche Normen (ungeschriebene Regeln, Sozialnormen, gesellschaftliche Wertungen) berühren. Dieses ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Begriff „öffentliche Sicherheit“, weil dort nur Verstöße gegen die Rechtsordnung erfasst sind. Das reduziert den Anwendungsbereich des Begriffs „öffentliche Ordnung“ auf nahezu Null, da heutzutage fast alle Lebensbereiche rechtlich erfasst sind. Außerdem kann ein Verhalten, das sich als rechtmäßige (Grund-)Rechtsausübung darstellt, niemals ein Verstoß gegen außerrechtliche Normen sein.

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Außerrechtliche Normen müssen allgemein anerkannt sein, d. h. von einer klaren, deutlichen Mehrheit getragen werden. Ob eine solche vorliegt, kann regelmäßig nur aufgrund von – subjektiv gefärbten – „Erfahrungswerten“ beurteilt werden. Ob der Begriff „öffentliche Ordnung“ damit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot entspricht, muss bezweifelt werden. Erschwert wird die Feststellung einer Mehrheit noch dadurch, dass auf die jeweils geltenden außerrechtlichen Normen abzustellen ist, d. h. diese können sich im Laufe der Zeit ändern und auch – in gewissen Grenzen – lokal unterschiedlich sein. Diese zeitliche und eingeschränkte lokale Variabilität außerrechtlicher Normen ist ein weiterer Grund für den zunehmenden Bedeutungsrückgang dieses Tatbestandsmerkmals.

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Die Einhaltung der außerrechtlichen Norm muss eine unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben sein. Das bloße Anderssein oder das Leben außerhalb gewohnter Bahnen reichen also nicht aus, denn auch solche Verhaltensweisen sind durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG gedeckt. Erforderlich ist ein sozial abträgliches Verhalten, welches das menschliche Miteinander nicht unerheblich beeinträchtigt und Gegenmaßnahmen geradezu zwingend macht. Dass auch diese Umschreibung im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot nicht völlig befriedigt, liegt auf der Hand.

b) (Nicht-)Anwendungsfälle

33a

Die meisten, früher im Zusammenhang mit der „öffentlichen Ordnung“ genannten Fälle werden heutzutage von der Rechtsordnung erfasst. Zunächst ist also sorgfältig zu prüfen, ob das vorliegende Verhalten oder der bestehende Zustand z. B. gegen Normen des Straf-, des Ordnungswidrigkeitenrechts oder des Verwaltungsrechts verstößt. Ist das der Fall, kann nur die öffentliche Sicherheit tangiert sein. Nur wenn ein (drohender) Normverstoß nicht festgestellt werden kann, darf ein möglicher Ordnungsverstoß untersucht werden. Bei genauer Auslegung dürfte es jedoch schwer sein, einen Anwendungsfall zu finden. Die folgenden Beispiele sind Belege dafür.

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Die ungestörte Ausübung religiöser Betätigung wird durch Art. 4 Abs. 2 GG und zahlreiche Normen des Strafrechts (z. B. §§ 166 ff. StGB) geschützt, ebenfalls die Totenruhe (§ 168 StGB). Die Zulässigkeit von Betätigungen an Sonn- und Feiertagen, wie z. B. der Betrieb von Sonnenstudios oder Autowaschanlagen regelt das Feiertagsgesetz umfassend. In allen Fällen bleibt daher für einen Ordnungsverstoß kein Raum, da allenfalls die öffentliche Sicherheit tangiert sein kann. Ein Einschreiten gegen Veranstaltungen, die ihrem Charakter nach mit bestimmten Ereignissen (z. B. Staatstrauer, schweres Unglück mit vielen Opfern) im Widerspruch stehen, ist zum Schutz der öffentlichen Ordnung unzulässig, da es nicht Aufgabe der Polizei sein kann, einem nichtbestehenden Trauerbewusstsein Geltung zu verschaffen (BVerwG, DVBl. 1970, 504).

Beispiel: Wenige Tage nach einem Amoklauf in einer Schule mit vielen Toten verbietet die Stadt S. eine zugelassene Waffenmesse (§§ 68, 69 GewO), u. a. mit der Begründung, es seien erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu befürchten (§§ 69 a Abs. 1 Nr. 3, 69 b Abs. 2 GewO). Dieses Verbot war rechtswidrig, da man die öffentliche Reaktion gegen die Veranstaltung nur als sehr verhalten bezeichnen konnte (vgl. VG Stuttgart, Beschl. v. 13.3.2009 – 4 K 920/09).

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Im Bereich der Sexualität ist der Wandel außerrechtlicher Normen besonders augenfällig. Die Liberalisierung des Strafrechts hat zur Straflosigkeit vieler Verhaltensweisen geführt, kein Grund also, sie über den Umweg „öffentliche Ordnung“ wieder zum Gegenstand polizeilichen Handelns zu machen. Straflos ist z. B. die einfache Homosexualität, die bloße Ausübung der Prostitution, der Betrieb eines Bordells, eines sogenannten Massagesalons oder eines Swinger-Clubs (vgl. BVerwG, DVBl. 2003, 741, 742; VGH BW, DÖV 2007, 348), sofern nicht besondere Umstände hinzukommen, wie z. B. die Ausübung der Prostitution in Gemeinden bis 35000 Einwohnern oder in Sperrbezirken der übrigen Gemeinden, §§ 1, 2 ProstitutionVO v. 3.3.1976 (GBl. S. 290), Art. 297 EGStGB, § 120 OWiG, § 184 d StGB (VGH BW, BWVBl. 1972, 138; NVwZ-RR 1990, 413) oder in jugendgefährdender Weise, § 184 e StGB. Nur in diesen Fällen kann zur Gefahrenabwehr gehandelt werden – allerdings zum Schutz der öffentlichen Sicherheit. Im gewerblichen Bereich können sexualbezogene Handlungen (z. B. Bedienung durch völlig nackte Barfrauen – VGH BW, GewArch 1976, 200 f.; Peep-Show – BVerwG, NVwZ 1990, 668; Geschlechtsverkehr vor Publikum – BVerwG, NJW 1982, 665) mit dem dort bestehenden spezialgesetzlichen Instrumentarium bekämpft werden (z. B. § 5 Abs. 1 GastG, § 33 a Abs. 2 Nr. 2 GewO). Nacktheit in der Öffentlichkeit kann unter Umständen einen Straftatbestand (z. B. §§ 183, 183 a StGB) erfüllen, wird in Schwimmbädern oder Parks teilweise gestattet oder doch toleriert und kann ansonsten eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 118, 119 OWiG sein, deren Verhütung dem Schutz der öffentlichen Sicherheit dient (unzutreffend OVG Münster, NJW 1997, 1180).

36

§ 118 OWiG ist auch einschlägig für Handlungen, die gemeinhin als grober Unfug bezeichnet werden (z. B. das Versetzen von Parkbänken, Verrichten der Notdurft in der Öffentlichkeit). Ihre Unterbindung bezweckt den Schutz der Rechtsordnung und ist somit für die „öffentliche Ordnung“ ohne Belang.

Der Betrieb eines Laserdromes „ist wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt und wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der Gesellschaft mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde unvereinbar“ (BVerwG, NVwZ 2002, 598). Folgt man dieser Auffassung, so wäre allein die öffentliche Sicherheit tangiert (vgl. auch EuGH, NVwZ 2004, 1471).

37

Äußerst problematisch ist das generelle Verbot der Bettelei. Diese ist in ihrer „stillen Form“ i. d. R. weder Straftat (Bettelbetrug ist meist nicht gegeben, weil den üblichen Behauptungen der Bettler zumeist Skepsis entgegengebracht wird) noch Ordnungswidrigkeit nach § 118 OWiG, da der Gesetzgeber den früheren Straftatbestand Bettelei (§ 361 Nr. 4 StGB) ersatzlos gestrichen hat. Und dass nur durch ein Bettelverbot ein gedeihliches Zusammenleben möglich ist, wird niemand behaupten können. Ebenso wenig kann das Betteln als straßenrechtliche Sondernutzung angesehen werden. Ein Betteln in „aggressiver Form“, d. h. unter gleichzeitiger Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten (z. B. Beleidigung, Nötigung) kann jedoch polizeirechtlich relevant sein – dann aber unter dem Merkmal „öffentliche Sicherheit“ (VGH BW, VBlBW 1998, 428). In der Praxis teilweise anzutreffende Formulierungen, mit denen „das die körperliche Nähe suchende oder sonst besonders aufdringliche Betteln“ untersagt wird, sind nicht hinreichend bestimmt. Im Übrigen ist ein solches Verhalten allenfalls lästig (s. u. RN 41).

38

Die Beseitigung unfreiwilliger Obdachlosigkeit ist in erster Linie eine Aufgabe der Sozialbehörden (vgl. §§ 27, 68 SGB XII). Nach polizeirechtlichem Verständnis ist derjenige obdachlos, der nicht Tag und Nacht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt und insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft entspricht. Das Vorliegen einer Obdachlosigkeit ist ausschließlich anhand objektiver Kriterien festzustellen. Damit ist nicht zu berücksichtigen, aus welchen Gründen eine Obdachlosigkeit eingetreten ist und ob der Betroffene den Eintritt (mit-)verschuldet hat (VGH BW, Beschl. v. 23.9.2019 – 1 S 1698/19). Polizeiliche Maßnahmen, wie z. B. die Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft oder die Beschlagnahme einer Wohnung, können allenfalls Notbehelfe sein. Sie dienen dem Schutz von Leben und Gesundheit des Obdachlosen und damit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit (VGH BW, VBlBW 1993, 304; 1996, 233; NVwZ-RR 1995, 326). Die freiwillige Obdachlosigkeit der Nichtsesshaften tangiert weder die öffentliche Sicherheit noch die öffentliche Ordnung (VGH BW, VBlBW 1983, 302, 304). Niemand ist verpflichtet, ein „Dach über dem Kopf“ zu besitzen. Die Entscheidung, ob die Obdachlosigkeit freiwillig oder unfreiwillig ist, wird nach subjektiven Gesichtspunkten getroffen, hängt also vom Willensentschluss des Betroffenen ab (VGH BW, Beschl. v. 27.11.2019 – 1 S 2192/19). Auch kann das Sich-Niederlassen auf Wegen zum Zwecke des Alkoholgenusses nicht generell als nichterlaubnisfähige Sondernutzung qualifiziert werden. Ebenso wenig ist ein polizeiliches Einschreiten erforderlich, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen. Das Auftreten von Gruppen, die in der Öffentlichkeit Alkohol zu sich nehmen (z. B. auch Punker oder Skinheads) mag zwar für manchen ein Ärgernis sein, der „gute Eindruck“ oder das „Erscheinungsbild einer Kommune“ sind jedoch keine polizeilichen Schutzgüter (VGH BW, BWGZ 1999, 115). Etwas anderes gilt natürlich hinsichtlich tatsächlich polizeiwidriger Handlungen, die im Zusammenhang mit der Obdachlosigkeit stehen, wie z. B. Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle, wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass diese Delikte nicht obdachlosenspezifisch sind.

 

39

Keine Ordnungsverstöße sind im Zusammenhang mit der Haltung von Hunden oder anderen Tieren erkennbar. Maßnahmen, die sich gegen bissige oder kotabsetzende Hunde richten, ergehen zum Schutz der Gesundheit (VGH BW, NVwZ 1992, 1105; VBlBW 1990, 29) oder zum Schutz verwaltungsrechtlicher Normen (Hundekot als Abfall i. S v. § 3 Abs. 1 KrWG). Gegen den Halter eines ständig bellenden Hundes kann zur Verhinderung der weiteren Begehung einer Ordnungswidrigkeit (§ 117 OWiG) und damit zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden. Streunende Hunde oder andere Tiere können Verkehrsunfälle verursachen. Maßnahmen dagegen ergehen also zum Schutz von Leben, Gesundheit und Vermögen. Das Halten gefährlicher Tiere kann u. U. eine Ordnungswidrigkeit nach § 121 OWiG sein, unsachgemäßes Halten kann gegen das Tierschutzgesetz verstoßen. Maßnahmen gegen sog. Kampfhunde (z. B. Leinenzwang, Maulkorbpflicht) sind rechtlich problematisch, weil es einen verlässlichen Rechtsbegriff „Kampfhund“ nicht gibt (vgl. VGH BW, NVwZ 1992, 1105; 1999, 1016; BVerfGE 110, 141; Orlikowski-Wolf, VR 2002, 369). Zur neuen „Kampfhundeverordnung“ s. u. § 17, RN 15. Die Zulässigkeit von Anlagen, die der Tierhaltung dienen, bestimmt sich nach Baurecht und/oder Bundes-Immissionsschutzrecht.

39a

Im Juni 2021 einigten sich die Innenminister der Länder auf einen Erlass, in dem die Reichskriegsflagge als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, wenn sie eingesetzt wird, um bewusst an die Fahnenaufmärsche der Nationalsozialisten zu erinnern, bei ihrem Hissen ausländerfeindliche Lieder gesungen werden oder sie bei paramilitärisch anmutenden Versammlungen verwendet wird. Hintergrund der Entscheidung ist, dass die Reichskriegsflagge in der jüngsten Vergangenheit von rechtsextremistischen Gruppen bei Versammlungen immer öfter als Symbol und Ersatz für die verbotene Hakenkreuzfahne verwendet wurde. Zur Frage, ob die öffentliche Sicherheit tangiert ist s. o. RN 25.

39b

Dass „wildes Plakatieren“, das Bemalen von Flächen oder das Anbringen von Graffiti die öffentliche Ordnung tangiert, ist nicht ersichtlich (a. A. OLG Stuttgart, NVwZ 1987, 171). Fraglich erscheint auch die Annahme einer Sondernutzung (§ 16 StrG), da hier kaum der Gemeingebrauch anderer beeinträchtigt wird. Richtig ist Folgendes: Wird durch derartige Handlungen rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört (§ 303 Abs. StGB) oder das Erscheinungsbild der Sache maßgeblich verändert (§ 303 Abs. 2 StGB), kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden. Sind diese Tatbestände nicht erfüllt, erscheint ein Ordnungsverstoß kaum vorstellbar.

39c

Der in der Praxis häufig verwendete Begriff „Ordnungsstörungen“ trägt wenig zur Lösung polizeirechtlicher Probleme bei. Soweit damit Verhalten oder Zustände beschrieben werden, die die „öffentliche Ordnung“ tangieren, ist er überflüssig. Wenn man aber den Begriff „Ordnungsstörung“ für Erscheinungen verwendet, die allein das gewünschte positive Erscheinungsbild einer Kommune trüben (z. B. das Herumlungern Jugendlicher oder Stadtstreicher), ohne dass die Gefahrenschwelle überschritten wird, erweckt man den Eindruck, als sei polizeiliches Einschreiten bereits zulässig, was aber nicht der Fall ist. Im Übrigen ist das (häufig mit der objektiven Situation nicht übereinstimmende) Sicherheitsgefühl der Bürger kein polizeiliches Schutzgut und ebenso wenig dürfen Personen, deren soziale Situation Maßnahmen des Sozialstaates herausfordert, zusätzlich mit den Mitteln des Polizeirechts ausgegrenzt werden.

Unter diesem Blickwinkel ist der in den letzten Jahren wiederholt vorgenommene Versuch mancher Kommunen, gestützt auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“, unerwünschten Verhaltensweisen „im Kampf gegen die urbane Unordnung“ im Wege einer entsprechenden Polizeiverordnung entgegenzutreten, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten.