Polizeigesetz für Baden-Württemberg

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Literatur

Weitere Literaturhinweise sind jeweils den Erläuterungen des einzelnen Paragrafen vorangestellt.

I. Literatur zum Polizeirecht von Baden-Württemberg


DittmannPolizeirecht, in: Maurer/Hendler, Baden-württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1990.
Hemmer u. a.Polizeirecht Baden-Württemberg, 5. Aufl., 2019.
Huttner/StreckerHandbuch für die Ortspolizeibehörden Baden-Württemberg, 4. Aufl., 2014.
IblerAllgemeines Polizeirecht, in: Ennschat/Ibler/Remmert, Öffentliches Recht in Baden-Württemberg, 3. Aufl., 2020.
Möstl/TrurnitPolizeirecht Baden-Württemberg, München 2020.
MußmannAllgemeines Polizeirecht in Baden-Württemberg, 4. Aufl., 1994.
PautschPolizeirecht Baden-Württemberg, 2021
RuderPolizeirecht Baden-Württemberg, 8. Aufl., 2015.
Stephan/DegerPolizeigesetz für Baden-Württemberg, Kommentar, 7. Aufl., 2014.
TrurnitEingriffsrecht – Maßnahmen der Polizei nach der Strafprozessordnung und dem Polizeigesetz Baden-Württemberg, 4. Aufl., 2017.
Würtenberger/Heckmann/TannebergerPolizeirecht in Baden-Württemberg, 7. Aufl., 2017.
WürzPolizeiaufgaben und Datenschutz in Baden-Württemberg, 1993.
Zeitler/TrurnitPolizeirecht für Baden-Württemberg, 3. Aufl., 2014.

II. Allgemeine polizeirechtliche Literatur


BastenRecht der Polizei, 2016.
Drews/Wacke/Vogel/MartensGefahrenabwehr, Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl., 1986.
Götz/GeisAllgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 16. Aufl., 2017.
GusyPolizeirecht, 10. Aufl., 2017.
Kingreen/PoscherPolizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, 11. Aufl., 2020.
KnemeyerPolizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl., 2007.
Kniesel/Braun/KellerBesonderes Polizei- und Ordnungrecht, 2018.
KugelmannPolizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl., 2011.
Lisken/Denninger (Hrsg.)Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl., 2021.
MannPolizei- und Ordnungsrecht, in: Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2019.
MohlerPolizeiberuf und Polizeirecht im Rechtsstaat, 2020.
Müller/WargAllgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., 2011.
Pewestorf/Söllner/TöllePraxishandbuch Polizei- und Ordnungsrecht, 2012.
SchenkePolizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl., 2018.
SchenkePolizei- und Odnungsrecht, in: Steiner/Brinktrine, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl., 2018.
SchochPolizei- und Ordnungsrecht, in: Schoch (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht, 2018.
ThielPolizei- und Ordnungrecht, 4. Aufl., 2019.

Erläuterungen zum Polizeigesetz für Baden-Württemberg

In der Fassung vom 6. Oktober 2020 (GBl. S. 735, ber. 1092)

ERSTER TEIL Das Recht der Polizei
ERSTER ABSCHNITT Aufgaben der Polizei
§ 1 Allgemeines

(1) 1Die Polizei hat die Aufgabe, von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, und Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. 2Sie hat insbesondere die verfassungsmäßige Ordnung und die ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zu gewährleisten.

(2) Außerdem hat die Polizei die ihr durch andere Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben wahrzunehmen.

Literatur: Arzt, Gefahrenverdacht und Gefahrerforschungseingriff im allgemeinen Polizeirecht, Die Polizei 2003, 100, 129; ders., Rechtliche Grundlagen und Grenzen polizeilicher Maßnahmen bei Staatsbesuchen, Die Polizei 2003, 242; Beaucamp, Das ordnungsbehördliche Verbot von Laserdromen DVBl. 2005, 1174; Enzensperger, Zulässigkeit und Grenzen behördlicher Bettelverbote im öffentlichen Raum, NJW 2018, 3550; Erbel, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, DVBl. 2001, 1714; Gängel/Gansel, Die rechtlichen Regelungen zum Schutz vor gefährlichen Hunden, NVwZ 2001, 1208; German, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet, 2000; Gusy, Polizei und private Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum, VerwArch Bd. 92 (2001), 344; Guckelberger/Kollmann/Schmidt, Polizeiliche Unterbringung von Flüchtlingen in privaten Immobilien, DVBl. 2016, 1088; Gusy, Gefahraufklärung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, JA 2011, 641; Hufnagel, Mobile Navigationsgeräte als verbotene „Radarwarner“?, NJW 2008, 621; Kahl, Die Konkretisierung verwaltungsrechtlicher Sittlichkeitsklauseln, VerwArch. 2008, 451, Kappeler, Öffentliche Sicherheit durch Ordnung, 2001; Knape, Rechtliche und taktische Probleme bei Fußballspielen der 1. und 2. Bundesliga – ein Event oder Krisenherd?, Die Polizei 2018, 143; Krahm, Polizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung von Hooligangewalt, 2008; Krüger, Der Gefahrbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2013, 985; Leisner-Egensperger, Polizeirecht im Umbruch: Die drohende Gefahr, DÖV 2018, 677; Leppert/Kretschmann, „Reichsbürger“ – Rechtliche Bewertung des polizeilichen Einschreitens, Die Polizei 2017, 286; Möstl, Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts, DVBl. 2007, 581; Ruder, Die polizeirechtliche Unterbringung von Obdachlosen unter besonderer Berücksichtigung der Anschlussunterbringung von Flüchtlingen, VBlBW 2017, 1; Rux, Ausforschung privater Rechner durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden, JZ 2007, 285; Schenke, Polizeiliches Handeln bei Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht, JuS 2018, 505; Volkmann, „Broken Windows“, Zero Tolerance und das deutsche Ordnungsrecht, NVwZ 1999, 225; ders., Die Rückeroberung der Allmende, NVwZ 2000, 361; Wapler, Alles geklärt? Überlegungen zum polizeilichen Gefahrenerforschungseingriff, DVBl. 2012, 86.

Inhaltsübersicht

1. § 1 Abs. 1 als Aufgabenzuweisungsnorm

2. Der Begriff „Polizei“

3. Die Schutzgüter der Gefahrenabwehr

4. Das Schutzgut „öffentliche Sicherheit“

a) Schutzgut: Bestand des Staates, die Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen, Schutz kollektiver Rechtsgüter

aa) Schutz des Bestandes des Staates

bb) Schutz der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen

cc) Schutz kollektiver Rechtsgüter

b) Schutzgut: Individualgüter

c) Schutzgut: Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind

5. Das Schutzgut „öffentliche Ordnung“

a) Erläuterung des Begriffs

b) (Nicht-)Anwendungsfälle

6. Gefahr

a) Begriffsbestimmung

b) Arten von Gefahren

7. Störung

8. Öffentliches Interesse

9. Sonstige Aufgaben der Polizei (Abs. 2)

a) Übertragung durch Gesetz oder Rechtsverordnung

b) Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten

c) Andere sonstige Aufgaben

1. § 1 Abs. 1 als Aufgabenzuweisungsnorm

1

 

Nach § 1 Abs. 1 hat die Polizei die Aufgabe, (allgemeine) Gefahren abzuwehren. Es handelt sich um eine sogenannte Aufgabenzuweisungsnorm. Diese bestimmt den polizeilichen Handlungsraum in doppelter Hinsicht: positiv umschreibt sie das zulässige Betätigungsfeld (Gefahrenabwehr), negativ begrenzt sie es, indem sie der Polizei – vorbehaltlich gesetzlich geregelter Ausnahmen – ein Tätigwerden zu anderen Zwecken, gleich in welcher Handlungsform, verbietet. Insofern kommt der Auslegung des Begriffs „Gefahrenabwehr“ besondere Bedeutung zu: Je weiter man diesen Begriff fasst, umso größer wird der polizeiliche Handlungsraum. In diesen Kontext gehört die Diskussion um die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ und die „Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr“ (s. u. RN 46).

2

Die Aufgabenzuweisungsnorm des § 1 Abs. 1 ermächtigt nicht ohne Weiteres zu konkreten Maßnahmen zur Erfüllung dieser Aufgabe. Ist mit der Maßnahme ein Eingriff in die Rechte des Bürgers verbunden, bedarf es – aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgebotes aus dem Rechtsstaatsprinzip – zusätzlich einer Befugnisnorm, die Inhalt, Zweck und Ausmaß des Eingriffs festlegt. Das Polizeigesetz verfügt mit § 3 über eine allgemeine und z. B. mit §§ 17, 18, §§ 27–41, §§ 42–61 und §§ 63–68 über spezielle Befugnisnormen. Für nichteingreifende Maßnahmen (z. B. Streifenfahrt, Beseitigung eines Hindernisses auf der Straße, Rettung eines Tieres in Not, Beratungstätigkeiten) bedarf es einer Befugnisnorm nicht. Hier wird allgemein die Aufgabenzuweisung als ausreichende Legitimation angesehen (VGH BW, NVwZ 1989, 279, 280).

2. Der Begriff „Polizei“

3

Die Aufgabe der Gefahrenabwehr obliegt „der Polizei“, das heißt Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst in gleicher Weise (vgl. §§ 104 ff.). Aus dieser gemeinsamen Aufgabenzuständigkeit kann aber nicht auf eine gemeinsame Ermächtigung geschlossen werden. Letztere ist vielmehr den jeweiligen Befugnisnormen selbst zu entnehmen. Diese ermächtigen zum Teil ausschließlich die (allgemeinen) Polizeibehörden (z. B. §§ 17, 39), zum Teil ausschließlich den Polizeivollzugsdienst (z. B. §§ 41, 43 Abs. 3, 44, 45, 47–56, 65–69) und häufig beide (z. B. §§ 3, 43 Abs. 1, 2 und 4, 27–30, 33–38, 59 Abs. 1, 63), wobei in diesen Fällen die Zuständigkeitsabgrenzung nach § 105 vorzunehmen ist.

3a

Der Begriff „Polizei“ ist inhaltlich mehrdimensional: Als Polizei im institutionellen (organisatorischen) Sinne sieht man die Stellen an, die zur Institution (Organisation) der Polizei gehören. Das sind in BW gem. §§ 104 ff. die Polizeibehörden und der Polizeivollzugsdienst mit seinen Beamten. Beide sind gemeint, immer wenn das Polizeigesetz die Polizei anspricht. Auf andere Bundesländer lassen sich die vorstehenden Ausführungen nicht ohne Weiteres übertragen, weil das dortige Recht zum Teil andere Organisationsmodelle kennt.

3b

Polizei im formellen Sinne bezeichnet die Summe aller Tätigkeiten, die in den Aufgabenkreis der Polizei fallen. Neben der Gefahrenabwehr gehören dazu die anderen Zwecken dienenden Aufgaben, wie z. B. die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Einen Hinweis auf den formellen Polizeibegriff gibt § 1 Abs. 2.

4

Unter Polizei im materiellen Sinne (hier geht es um den spezifischen Inhalt polizeilichen Handelns) versteht man die Tätigkeit, die auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gerichtet ist. Diese Aufgabe wird der Polizei allgemein durch § 1 Abs. 1 zugewiesen, d. h., Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst haben prinzipiell dieselbe Aufgabe. Wie sich aus § 2 Abs. 2 ergibt, können allerdings auch andere, nichtpolizeiliche Stellen mit der Aufgabe der Gefahrenabwehr betraut sein.

Zur Gefahrenabwehr durch andere, nichtpolizeiliche Stellen, vgl. die Erläuterungen zu § 2 Abs. 1.

4a

Ausgangspunkt für den Begriff „Polizeirecht“ ist der materielle Polizeibegriff: Polizeirecht ist das Recht der Gefahrenabwehr. Als allgemeines Polizeirecht bezeichnet man die Normen und Grundsätze, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung den alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet. Es hat in Baden- Württemberg seinen Niederschlag im Polizeigesetz gefunden. Das besondere Polizeirecht regelt dagegen Gefahrenabwehr in speziellen Lebensbereichen, wobei die entsprechenden Gesetze häufig auch andere Zwecke verfolgen. Zum besonderen Polizeirecht zählt man z. B. Abfallrecht, Aufenthaltsrecht, Bauordnungsrecht, Bodenschutzrecht, Gewerbe- und Gaststättenrecht, Immissionsschutzrecht, Katastrophenschutzrecht, Seuchenrecht, Straßenverkehrsrecht, Versammlungsrecht und das Wasserrecht. In der Praxis hat das besondere das allgemeine Polizeirecht in vielen Bereichen verdrängt. Letzterem kommt heute nur noch eine Reservefunktion zu.

3. Die Schutzgüter der Gefahrenabwehr

5

Schutzgüter der Gefahrenabwehr sind – wie in fast allen anderen Bundesländern auch – die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“. Bei diesen Begriffen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die vor der Subsumtion einer Auslegung bedürfen. Ein Beurteilungsspielraum steht der Polizei hierbei nicht zu, d. h., Auslegung und Subsumtion unterliegen voll der gerichtlichen Kontrolle. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung sind alternative Schutzgüter (§ 1 Abs. 1: „oder“). Zunächst ist das Merkmal „öffentliche Sicherheit“ zu prüfen. Wird dieses bejaht, erübrigt sich ein Eingehen auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“. Nur wenn ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit nicht vorliegt, bleibt Raum zur Prüfung des Merkmals „öffentliche Ordnung“. Die häufig anzutreffende Praxis, Maßnahmen undifferenziert auf beide Merkmale zu stützen, ist nicht nur dogmatisch zweifelhaft, sie führt häufig auch zu falschen Ergebnissen.

6

Trotz der außerordentlichen Weite des Inhalts der Begriffe „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ wird ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot und damit mit dem Rechtsstaatsprinzip angenommen, weil sie seit langer Zeit durch Lehre und Rechtsprechung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert seien (BVerfGE 54, 143, 144; BVerwG, NVwZ 2002, 598; 2007, 1439, 1440) – eine Auffassung, die hinsichtlich des Begriffs „öffentliche Ordnung“ jedoch nicht uneingeschränkt geteilt wird (s. u. RN 32, 33).

4. Das Schutzgut „öffentliche Sicherheit“

7

Die heute gängige Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ geht auf die amtliche Begründung zu § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes zurück. Schutz der öffentlichen Sicherheit bedeutet danach Schutz der durch die Rechtsordnung geschützten Güter, wie z. B. den:

– Schutz des Bestandes des Staates, der Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen und Schutz kollektiver Rechtsgüter,

– Schutz von Individualgütern,

– Schutz der Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind.

Beim Einschreiten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit kann es immer nur darum gehen, eine drohende Verletzung von Rechtsnormen abzuwehren. Rechtmäßige Handlungen und Zustände können also die öffentliche Sicherheit nicht tangieren. Gegen den, der von seinen Grundrechten, gesetzlich eingeräumten Befugnissen oder von einer behördlichen Erlaubnis Gebrauch macht, darf die Polizei nicht einschreiten. Die Verletzung von nicht durch die Rechtsordnung erfassten Gütern kann allenfalls für das Tatbestandsmerkmal „öffentliche Ordnung“ bedeutsam sein.

8

Die herkömmliche Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ umfasst auch die in § 1 Abs. 1 Satz 2 besonders genannten Schutzgüter „verfassungsmäßige Ordnung“ und „ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte“, sodass ihre Erwähnung eigentlich überflüssig ist. Ebenso wenig kann daraus eine Rangfolge der Schutzgüter als Maßstab für polizeiliches Handeln abgelesen werden, denn welches Schutzgut im Kollisionsfall „vor Ort“ Vorrang genießt, kann nicht abstrakt festgelegt werden.

9

Ein Blick auf die einzelnen Schutzgüter zeigt, dass die Schutzrichtung sowohl individual- als auch gemeinschaftsbezogen ist. Diesen Aspekt spricht § 1 Abs. 1 Satz 1 noch einmal ausdrücklich an: „… von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren …“. Um zusätzlich zu prüfende Tatbestandsmerkmale handelt es sich hierbei nicht.

a) Schutzgut: Bestand des Staates, die Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen, Schutz kollektiver Rechtsgüter
aa) Schutz des Bestandes des Staates

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Schutz des Bestandes des Staates bedeutet Schutz vor Angriffen gegen die „Grundfesten“ unseres Staates und damit Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz ihre Verankerung gefunden hat. Nichts anderes meint der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ in § 1 Abs. 1 Satz 2. Diese Grundordnung ist umfassend durch die Bestimmungen des Staatsschutzstrafrechts, §§ 80 a ff., 105 ff., 109 ff., 111 ff. StGB geschützt. Eine präventive polizeiliche Tätigkeit in diesem Bereich ist also in der Regel eine solche zur vorbeugenden Verhütung dieser Straftaten (s. u. RN 24).

Beispiel: Auf einem Flohmarkt werden T-Shirts, die mit dem Konterfei Adolf Hitlers versehen sind, nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 beschlagnahmt. Über das Internet wird rassistische Propaganda verbreitet – es ergeht eine Löschungsverfügung. Beides sind Maßnahmen zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung wie auch zur Verhütung der weiteren Begehung einer Straftat nach § 86 a StGB bzw. § 130 StGB.

11

Auch wenn zum Schutz des Bestandes des Staates präventive Maßnahmen aufgrund der Normen des Polizeigesetzes möglich sind, wird die Polizei hier in erster Linie strafverfolgend tätig (s. u. RN 27 und 53 ff.).

Beispiel: Im vorhergehenden ersten Beispiel wird die Polizei nach § 163 StPO ihre Ermittlungen aufnehmen und die T-Shirts nach § 94 StPO beschlagnahmen.

12

Zum „Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder“ ist auch der Verfassungsschutz berufen (§ 1 LVSG). Dieser, d. h. das Landesamt für Verfassungsschutz, gehört jedoch nicht zur Polizei (§ 2 Abs. 3 LVSG), ferner stehen ihm keine polizeilichen Befugnisse zu (§ 5 Abs. 3 LVSG).

bb) Schutz der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen

13

Schutz der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen bedeutet hier Schutz vor Gefahren, die von außen an diese Einrichtungen herangetragen werden.

Beispiele: Behinderung des Zugangs von Parlamenten, Universitäten, Blockaden von Bussen und Bahnen, Sperrung eines öffentlichen Weges (VGH BW, VBlBW 2005, 478).

Polizeiliches Handeln in diesem Bereich setzt immer ein normwidriges, nicht unbedingt strafbares oder ordnungswidriges Verhalten voraus (str.), wenngleich viele gegen die Funktionsfähigkeit gerichteten Handlungen zugleich einen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllen (z. B. §§ 105 ff., 109 ff., 113 ff., § 240 StGB). Die z. T. vertretene Auffassung, staatliche Einrichtungen seien auch dort geschützt, wo Normverstöße nicht in Betracht kommen, verschafft der Polizei Befugnisse, die eigentlich dem Gesetzgeber zustehen. Darüber hinaus wird die klare Grenze zwischen dem Begriff „öffentliche Sicherheit“ und dem Begriff „öffentliche Ordnung“ verwässert (s. u. RN 31).

 

14

Gegenstand des Schutzes sind Einrichtungen des Staates und sonstiger Hoheitsträger, wie z. B. Parlaments- und Regierungsgebäude, Gerichte, Verwaltungsbehörden, Universitäten, Schulen, Museen, öffentliche Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, gemeindliche Asylbewerber- oder Obdachlosenwohnheime. Auch Einrichtungen fremder Staaten (z. B. Konsulate, Botschaften) und solche der Stationierungsstreitkräfte wird man dazu zählen müssen. Die Verpflichtung zum Schutz Ersterer ergibt sich aus Art. 22 und 29 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Vertretungen (WÜD) bzw. aus Art. 31 Abs. 3 und 40 des Wiener Abkommens über konsularische Beziehungen (WÜK), vgl. auch §§ 102 ff. StGB.

15

Geschützt ist nicht nur der räumlich-gegenständliche Bereich, sondern auch das – nicht unbedingt hoheitliche – Handeln der Hoheitsträger, wie z. B. die Durchführung eines Staatsbesuches oder einer Gedenkfeier. Eine polizeirechtlich relevante Beeinträchtigung wird jedoch i. d. R. die Qualität einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit aufweisen müssen, denn die Äußerung von Unmut und Kritik über den Staat und seine Organe bewegt sich ohne Weiteres im Rahmen der Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit), Art. 5 Abs. 3 (Kunstfreiheit) und Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit).

Beispiel: Das Aussprechen einer Platzverweisung oder gar eine Ingewahrsamnahme von Personen, die anlässlich eines „Gipfeltreffens“ ihren Unmut über die Veranstaltung und deren Teilnehmer äußern, ist unzulässig, wenn hierdurch nur das „harmonische äußere Erscheinungsbild“ beeinträchtigt oder die obligatorische Blasmusik übertönt wird.

16

Auch die Behinderung polizeilicher oder sonstiger verwaltungsbehördlicher Tätigkeit kann die öffentliche Sicherheit tangieren. So rechtfertigt z. B. die Behinderung des Einsatzes von Polizei und Feuerwehr durch sogenannte Gaffer einen Platzverweis nach § 30 Abs. 1 (für das Strafverfahren vgl. § 164 StPO), vor allem unter dem Aspekt des Schutzes von Leben und Gesundheit der Unfallopfer und der beteiligten Helfer. Ein Vorgehen gegen derartige Behinderungen im Straßenverkehr kann auf die Bestimmungen des Straßenverkehrsrechts gestützt werden (§§ 44 Abs. 2, 36 StVO), denn zumindest liegt ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vor. Umstritten ist dagegen, ob die Polizei gegen Personen vorgehen darf, die vor Geschwindigkeitsmessungen warnen. Das dürfte – sofern damit nicht tatsächliche Verkehrsverstöße, wie eine Verkehrsbeeinträchtigung (§ 1 Abs. 2 StVO) oder der unzulässige Gebrauch der Lichthupe (§ 16 Abs. 1 StVO) verbunden sind – aufgrund allgemeinen Polizeirechts zu verneinen sein (a. A. OVG Münster, NJW 1997, 1596). Zum einen hat die Warnung den gleichen Effekt wie die Kontrolle selbst, nämlich die Herabsetzung der Geschwindigkeit, zum anderen ist es weder strafbar noch ordnungswidrig, wenn die Verfolgung einer bereits begangenen Ordnungswidrigkeit vereitelt wird (zur Strafvereitelung, die auch die Verfolgungsvereitelung einschließt, vgl. § 258 StGB). Aus dem Recht des Staates, derartige Kontrollen vorzunehmen, fließt nicht automatisch die Befugnis, gegen derartige Warnungen einzuschreiten; das ergibt sich bereits aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Denkbar sind allerdings Maßnahmen bis hin zu einer Festnahme nach § 164 StPO als Ultima Ratio, der auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren entsprechend anwendbar ist (§ 46 Abs. 1, § 53 Abs. 1 OWiG).

Für Warnungen vor anderen Kontrollstellen gelten die vorstehenden Ausführungen grundsätzlich entsprechend. Ebenso wenig ist die „Leistungsfähigkeit der Verkehrspolizei bzw. der Verkehrsüberwachungsbehörden“ Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Eine derartige Auslegung macht den Begriff „öffentliche Sicherheit“ völlig konturenlos.

Ein Einschreiten (z. B. Beschlagnahme) gegen das Mitführen von Radarwarngeräten oder Laserstörgeräten ist möglich, weil ein derartiges Handeln nach § 23 Abs. 1 c StVO untersagt ist und nach § 49 Abs. 1 Nr. 22 StVO als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann (vgl. BayVGH, DÖV 2008, 426).

Weil es auch keine Rechtsnorm gibt und geben kann, welche die bewusste Wahrnehmung öffentlicher polizeilicher Tätigkeit verbietet, kann in einem Ausspähen des polizeilichen Einsatzverhaltens kein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit liegen (so aber OVG Münster, NJW 1980, 138, 139), es sei denn, dass darin eine Strafvereitelung (§ 258 StGB) liegt.

Handlungen, die allein das Ansehen der Polizei schmälern, können polizeirechtlich nicht unterbunden werden, da ein derartiges Schutzgut rechtlich nicht existiert (a. A. VGH BW, VBlBW 1996, 373, 374). Anders liegt es jedoch dann, wenn eine Beleidigung oder eine Kollektivbeleidigung im Raum stehen.

17

Keine polizeilichen Maßnahmen sind grundsätzlich solche, mit denen Störungen innerhalb staatlicher Einrichtungen abgewehrt werden sollen. Diese können entweder aufgrund einer gesetzlich eingeräumten Ordnungsgewalt getroffen werden (z. B. die Ordnungsgewalt des Ausschussvorsitzenden (§ 89 LVwVfG), des Bürgermeisters als Vorsitzender des Gemeinderats (§ 36 GemO) oder des Gerichts als „Sitzungspolizei“ (§ 172 GVG), aufgrund bestehender Anstaltsgewalt, sofern sie, z. B. in einer Anstalts- und Benutzungsordnung, eine hinreichend konkrete Grundlage gefunden haben (VGH BW, VBlBW 1993, 227 f.), oder sie können aufgrund des gewohnheitsrechtlich bestehenden öffentlich-rechtlichen Hausrechts durch Verwaltungsakt ergehen (VGH BW, JW 1994, 2500, 2501). Zu ihrer Durchsetzung ist die Hinzuziehung des Polizeivollzugsdienstes unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 5 möglich.

Beispiel: Ein Schüler weigert sich, einem Schulverweis nachzukommen. Der vom Schulleiter herbeigerufene Polizeivollzugsdienst „geleitet“ den Schüler vom Schulgelände.

Dagegen ist die Ordnungsgewalt des Landtagspräsidenten gem. Art. 32 Abs. 2 VerfBW mit der Befugnis verbunden, selbst polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen (BWStGH, NJW 1988, 3199, 3200).