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Was eine Mutter leiden kann

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Anna, die sehr liebreich war und darum auch noch besser als ihre Freundin die armen Leute verstand, sagte hastig zu dem Manne, der schon im Begriffe war sich zu entfernen:

»Nach der Winkelstraße wollen wir hin.«

»Dann kann ich es tun, Fräulein; denn gerade dahin gehe ich auch.«

Er faßte den Schubkarren, zog ihn zwischen den umherliegenden Verkaufsgegenständen hervor und folgte den zwei Fräulein, die sich mit schnellen Schritten entfernten. Ein bitteres Gefühl beklemmte seine Brust, da er bedachte, daß er nun seinen eigenen Karren für andere fortschaffen mußte. Allein die Gewißheit, jetzt mit dem erhaltenen Gelde die Tränen seines braven Weibes trocknen zu können, mischte süßen Trost in sein Leid. Ungern empfing er von den Fräulein den Befehl, vor einem Laden anzuhalten. Er durfte jedoch nicht lange warten, denn die Damen hatten nur einen Augenblick in dem Laden verweilt, und man lud nun aus demselben auf seinen Karren einen Sack Erdäpfel, mehrere große Brote, einige Bündel Holz, und Anna selbst stellte mit Sorgfalt einen irdenen Topf gegen den Sack.



In der Winkelstraße angelangt, fragte der Mann, wohin die Damen den Karren gebracht haben wollten. Anna antwortete bedachtsam:

»Nur vorwärts; es ist noch weiter.« Ungeachtet dieses Befehls hielt der Mann vor einer kleinen Türe an, welche Anna als dieselbe erkannte, die sie am Morgen hatte betreten wollen. Der Mann nahm seine Mütze ab und bat höflich: »Erlaubt mir gütigst, Fräulein, hier einen Augenblick einzukehren!« Als sie's ihm bewilligt, öffnete er die Türe und ging eilig hinein; aber die Damen folgten ihm auf der Ferse und drangen mit ihm in die Kammer.

Eiskalter Schauder befiel Anna und ihre Freundin. Das Schauspiel, das sich hier vor ihren Blicken auftat, war gräßlich zum Erstarren. Die junge Frau, die neben dem Bette gesessen war, lag bewußtlos auf dem Steine, ihre Wangen bleich, ihre Augen geschlossen, ihre Lippen blau und ihr Kopf rückwärts auf die Ecke des Bettes gesenkt, wie eine gefühllose Leiche. Das Knäbchen hatte den schlaffen Arm seiner Mutter gefaßt und rief in dem Augenblicke, als die zwei Fräulein mit dem Vater eintraten:

»Mütterchen lieb, ich habe Hunger, – ein Stückchen Brot!«

Der Mann, ohne Adelens und ihrer Freundin Gegenwart zu beachten, sprang voraus auf seine Frau zu, rief sie bei ihrem Namen, raufte sich die Haare aus und brachte nur abgebrochene Worte hervor.

»Theres,« schrie er heulend, »ach liebe Theres . . . unglückliches Weib!



Gott im Himmel ist's möglich? Tot . . . tot vor Hunger und Kälte! – Haben wir das verdient auf der Welt!«



Bei diesen Ausrufungen schlug er seine Hand auf den Tisch und ergriff ein Messer. Doch Anna, die diese Bewegung mit einem Angstschrei bemerkt hatte, sprang auf ihn zu und nahm ihm das tödliche Werkzeug aus der Hand.

»Eure gute Frau ist nicht tot,« rief sie. »Hier nehmt und lauft nur schnell um etwas Wein in die nächste Schenke.«

Sie gab ihm ein Stück Geld und zeigte ihm die Türe. Er flog aus der Kammer und verschwand wie ein Pfeil.

Anna nahm die unglückliche Frau in ihren Arm. Ihr Seidenmantel und ihr Samthut zerdrückten sich an den schlechten Kleidern der Unglücklichen; aber darauf achtete die Edle nicht, sondern sie tat, als ob sie eine Schwester pflege. Und in der Tat betrachtete sie, gemäß Christi göttlichem Gebote, diese vor Elend sterbende Frau als eine wahre Schwester. Sie nahm aus der Tasche eine Pomeranze und drückte den Saft zwischen die blauen Lippen der Frau und rieb sorgfältig deren Hände in den ihrigen. Einen Freudenschrei stieß sie aus, als sie endlich die Augen der Mutter sich öffnen sah.



Währenddessen hatte Adele sich nicht darauf beschränkt, dieses Bild von Hunger und Armut anzustarren, sie hatte, sobald sie des kleinen Knaben Ausruf gehört, von dem Schubkarren den irdenen Topf und ein Brot hereingeholt und durch den Kleinen einige Holz auf das Feuer legen lassen.

Kaum hatte Hänschen das Brot gesehen, als seine Augen sich nicht mehr davon wegwandten; und er hatte nun wieder um ein Butterbrot gebeten. Adele, die am Morgen noch so viel Abscheu vor armen Leuten gezeigt hatte, fühlte sich angesichts so bitterer Not dermaßen gerührt, daß sie selbst das Brot vom Tische nahm und es gegen ihre Brust und ihre schönen Kleider setzte, um dem Kleinen das ersehnte Butterbrot zu schneiden.

»Da, mein Kind,« sprach sie, »iß du nur; du sollst keinen Hunger mehr leiden.«

Hänschen faßte das Butterbrot mit Freude, küßte ihre Hand zum Zeichen des Dankes und betrachtete Adele mit so süßen Blicken, daß diese sich umwenden mußte, um ihre Rührung zu verbergen.

Zu gleicher Zeit hatte die Mutter ihre Augen aufgeschlagen und sie mit seliger Freude auf ihr essendes Kind geheftet. Schon wollte sie dem Danke gegen ihre Wohltäterinnen Worte geben, als die Rückkehr des Mannes sie unterbrach. Er, gegen alle Erwartung seine Frau lebendig wiederfindend, stellte hastig eine Flasche auf den Tisch und flog an seines Weibes Hals, unter einer Flut von Tränen sie mit Küssen bedeckend; er hielt sie in seinen Armen geschlossen, als fürchtete er, sie nochmals zu verlieren und rief wie außer sich:

»Theres, liebes Weib! Lebst du denn noch? O dann ist's nichts! Ich habe Geld von unserm Karren; jetzt können wir essen; sei nur ruhig. Ach Gott, sieh, in all meinem Unglück bin ich noch so froh wie ein Engel . . . Ja, liebe Theres, denn ich dachte sicher, daß ich dich niemals lebend wiedersehen würde!«



Anna kam herzu mit einer Tasse Wein und hielt sie an die Lippen der schwachen Frau. Während diese den stärkenden Trunk schlürfte, warf der Mann verwunderte Blicke auf Anna und ihre Freundin, die etwas weiter mit Hänschen beim Herde stand und des Kindes zwei Händchen gegen das Feuer hielt, indem sie sprach:



»Wärme deine Pfötchen nur, mein Männchen, und iß dein Butterbrot geschwind, ich will dir noch eines geben.«



Der Mann schien aus einem Traume zu erwachen; es war, als wenn er die Gegenwart der zwei Damen erst jetzt bemerkte.

»Fräulein,« sprach er stammelnd, »vergebt, daß ich euch noch nicht gedankt habe für die Hilfe, die ihr meiner armen Frau leistetet. Es ist gewiß viel Güte von euch, so in ein armes Leutehaus zu kommen, und ich danke euch viel tausendmal.«