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Die beiden Freunde

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Der Doktor raffte den unglückseligen Zettel von der Erde auf und begann ihn zu lesen; er enthielt einen Befehl von der Militair-Commission, wodurch Bernhard aufgefordert wurde, am nächsten Donnerstag, also über drei Tage, des Morgens um neun Uhr vor dem Revisionsrath zu erscheinen, um, falls er geeignet befunden würde, sofort nach dem Standort des ihm zugewiesenen Regiments abzureisen. Man benachrichtigte ihn gleichzeitig, daß unter keinem Vorwande welcher Art auch immer ein Aufschub gewährt werden könne und daß Säumige zu gewärtigen hätten, durch Gensdarmen gefaßt und mit aller Strenge bestraft zu werden.

Starkmüthig wie der Doktor sich sonst stets bewiesen hatte, unter diesem furchtbaren Schlag brach auch er zusammen und sank stöhnend auf einen Stuhl.

Das Zimmer ward mit Wehklagen erfüllt, Mutter und Kinder, Bruder und Schwester fielen sich weinend in die Arme; es war als stände der Tod schon zwischen ihnen, um ihnen den herzgeliebten Sohn, Bruder und Bräutigam zu rauben.

»O Veronika!« rief der junge Mann, sich die Haare raufend, »welch’ glänzende Zukunft bot sich uns dar, ein Paradies der Liebe und des Friedens lachte uns entgegen . . . und da kommt rauh und kalt dass Schicksal und zerstört,vernichtet für immer unsere schönen Träume. Ich muß in den Krieg, muß mein Blut vergießen für den Feind meines Vaterlandes! In dem wüsten, kalten Rußland werde ich einsam und verlassen sterben, Deinen theuren Namen auf den Lippen!«

Neues bitteres Schluchzen war die einzige Antwort auf des Jünglings Klage, bis endlich der Weinhändler sich faßte.

»Es ist freilich eine arge Geschichte,« sagte er, »aber sie darf uns doch nicht mutlos machen; gibt es doch noch ein Mittel, Bernhard zu retten.«

»Ein Mittel? Sie wissen ein Mittel?« fragte Christians erfreut.

»Suchen Sie doch einen Stellvertreter für Ihren Sohn.«

»Ach Herr Walter, das ist eine trügerische Hoffnung! Die letzte Aushebung hat alle tauglichen jungen Leute fortgenommen. Ich kenne hunderte von Söhnen reicher Bürger, welche eintreten mußten, wiewohl ihre Eltern sich zu den größten Opfern bereit erklärten. Stellvertreter sind längst nicht mehr zu finden.«

»Daß sie selten sind, weiß ich wohl,« versetzte Herr Walter, »aber es gibt deren noch immer; erst vor acht Tagen hat der Baron von Cranings einen Ersatzmann für seinen Sohn gestellt.«

Alle waren näher getreten und lauschten dieser Versicherung, welche einen schwachen Hoffnungsschimmer verbreitete.

»Und was mehr ist,« fuhr der Weinhändler fort, »ich habe vergangene Woche sagen hören, daß der Seelenverkäufer Steins, der bei der Kapellenkirche wohnt, noch zwei Stellvertreter auf Lager hat. Die Zeit, welche uns zur Verfügung steht, ist zu kurz, um sie mit Aechzen zu verbringen. Wir thun am besten, wenn wir uns, jeder auf seine Hand, auf den Weg machen und suchen, bis wir einen gefunden haben.«

»Sie glauben also wirklich, dass es nicht unmöglich wäre?« fragte der Doktor.

»Ich bin fest davon überzeugt; nur kostet die Sache Geld, viel Geld. Der Baron von Cranings gab fünfzehntausend Franken, vielleicht ist Ihnen das zu viel. In dem Falle . . . «

»Zu viel, um meinen Sohn, meinen guten Bernhard vor einem sichern Tode zu bewahren?« rief der Doktor lebhaft, »um mein Kind den Händen des Menschenschlächters zu entreißen? Alles sind wir bereit dafür hinzugeben, nicht wahr Mutter, nicht wahr Catharina?«

»Ja ja, selbst die Betten, die letzten Kleider!« tönte es als Antwort zurück.

»Wohlan, Bernhard, so wollen wir den guten Rath des Herrn Walter befolgen. Komm mit mir, laß uns suchen ohne Ruhe und Rast. Finden wir einen Stellvertreter, so mag er fordern was er will, kein Opfer soll mir zu groß sein und ich will Gott noch aus den Knieen dafür danken.«

Von dem Weinhändler und seinem Sohne gefolgt verließ der Doktor das Haus, Furcht und Hoffnung im Herzen.

V

Den ganzen Tag hindurch, bis es Nacht wurde und auch den folgenden Tag durchliefen die Drei ganz Brüssel und seine Vorstädte mit stets steigender Angst und schwächer werdendem Vertrauen.

Mitunter fiel ein Hoffnungsstrahl in ihr bekümmertes Herz, wenn sie vernahmen, bei diesem oder jenem Makler in Kanonenfutter, in dieser oder jener Straße sei ein junger Mann, der Lust verspüre, sich selbst zu verkaufen, aber jedesmal folgte alsbald die schmerzliche Enttäuschung, denn alle diese Leute, der Ausschuß früherer Aushebungen, hatten Körpergebrechen, welche sie zum Kriegsdienste unbrauchbar machten, fast Alle waren von der Revisions-Commission bereits zurückgewiesen worden.

Um seinen Sohn zu retten bot der Doktor fünfzehntausend Franken, ja er würde zur Noth noch viel mehr gegeben haben, aber die von dem Weinhändler mit so großer Zuversicht in Vorschlag gebrachte Hilfsquelle war gänzlich versiegt. Da das Fortziehen in den Krieg dem Tode völlig gleich geachtet wurde, so weigerten sich selbst die ärmsten Leute, ihr Leben für Geld in die Schanze zu schlagen.

Je nachdem die Zeit in fruchtlosen Bemühungen verlief und die Ueberzeugung Raum gewann, daß Bernhard selbst würde abreisen müssen, steigerte sich der Schrecken und die Verzweiflung im Hause des Doktors, Frau Christians und Catharina weinten den ganzen Tag und flehten unablässig zu Gott um Rettung. Veronika, von ihrer jüngeren Schwester begleitet, kam jeden Morgen und Nachmittag auf ein paar Stunden, um ihre Thränen mit denen der Andern zu vermischen, immer sehnlichst der Botschaft harrend, daß sich für Bernhard ein Ersatzmann gefunden hätte.

Aber die Botschaft kam nicht, im Gegentheil, jedesmal, wenn der Doktor und sein Sohn für einige Augenblicke nach Haus zurückkehrten lautete der traurige Bescheid:

»Nichts, ach noch immer nichts!«

Und dann sanken die armen Frauen schluchzend und klagend auf ihre Stühle nieder und erfüllten dass Zimmer mit herzzereißendem Jammern, bis der, welcher ihrer Verzweiflung neue Nahrung gegeben hatte, wieder zur Thür hinauseilte, um seine Forschungen fortzusetzen.

Im Zustande der peinlichsten Unsicherheit, unter Zagen, vorübergehendem Hoffen und nur in begründetem Fürchten war man so bis zu der Mitte des dritten Tages gekommen; am nächsten Morgen sollte Bernhard vor der Revisions-Commission erscheinen, um sein Urtheil in Empfang zu nehmen.

Der Doktor ließ jetzt alle Hoffnung auf einen Stellvertreter fahren, er wollte nur noch versuchen, einigen Aufschub zu erlangen. Jeder Lag war Gewinn und es war ja doch immer noch denkbar, dass sich, wenn ihm nur noch zwei bis drei Tage Aufschub vergönnt würden, ein Ausweg zeigte.

Von diesem Gedanken angespornt ging er zum Präfecten, zum Militärcommissar, zum General; er streute das Geld mit vollen Händen aus, um zu diesen hohen Beamten Zulaß zu gewinnen und bat dann mit Thränen in den Augen um ein mildes Verfahren.

Die Befehle des Kaisers waren äußerst streng, man mußte ohne Verzug alle Dienstpflichtigen einstellen und den Obrigkeiten war ausdrücklich verboten, auch nur einen einzigen Tag Aufschub zu bewilligen. Man sagte dem Vater, daß jetzt die Zeit gekommen sei, wo Jeder dem Vaterlande seine Schuld bezahlen müsse, und wenn auf seinen Sohn daß Loos gefallen sei, so solle er sich damit zu trösten, dass Hunderttausende mit ihm dasselbe Schicksal theilten.

Damit war der letzte Hoffnungsschimmer vernichtet; Alles war versucht worden, nichts konnte das traurige Schicksal abwenden; mit blutendem Herzen mußte man sich in dass Unvermeidliche fügen.

Nur mühsam seine Tränen zurückhaltend schlich der Doktor von dem letzten schweren Gange durch die Aremberger Straße seiner Wohnung zu; er schlug die Augen nieder, murmelte traurige Worte vor sich hin und wankte auf den auf den Füßen, als hätte er bei einem Glase Wein des Guten zu viel gethan.

Da wurde er plötzlich aus seinem trüben Sinnen aufgeschreckt durch Jemanden, der ihn auf die Schulter klopfte und ihm freudig zurief:

»Guten Tag, Christian; ich muß Ihnen rasch eine frohe Nachricht melden!«

»Eure frohe Nachricht?« wiederholte der Doktor und ein Hoffungsstrahl erhellte seine Züge, »Gott gebe, daß dem so sei! Sprechen Sie schnell, lieber Freund.«

Ganz in seine Gedankenrichtung vertieft zweifelte er nicht, daß der Viehhändler – denn dieser war es – ihm von einem Stellvertreter für Bernhard reden würde.

Der Andere aber ergriff seine Hand und sagte lebhaft:

»Sie wissen doch, dass mein Jakob, der Soldat werden mußte, mit der großen Armee nach Rußland gezogen war. Seit Monaten hatten wir keinen Brief mehr von ihm erhalten noch sonst Etwas über ihn erfahren können, ja wir hatten ihn bereits als todt beweint und viele h. Messen für ihn lesen lassen. Und nun denken Sie sich unsere unaussprechliche Freude: Jakob lebt! Vollkommen frei für immer kehrt er am nächsten Samstag nach Brüssel zurück. Wie, Sie gratulieren mir nicht?«

»Freilich, freilich, von Herzen,« antwortete der Doktor, noch schmerzlich bewegt durch die getäuschte Erwartung. »Und frei vom Dienst für immer? Wie ist denn das möglich?«

»O man sagt mit Recht, daß es glückliche Unglücksfälle gibt,« versetzte der Viehändler. »Vor ungefähr zwei Monaten wurde mein Sohn, von einer Kugel verwundet, nach einem blutigen Gefechte vom Schlachtfelde getragen. Nach langen Leiden genas er, hinkt jedoch, da das linke Bein kürzer geblieben ist als das andere. Nach und nach meint er würde sich das gänzlich verlieren, einstweilen aber kann er dem Heere nicht folgen, daher hat man ihn verabschiedet und für frei erklärt. Ich gestehe nun frei, Christians, daß Sie nicht allein ein Glücksvogel sind, sehen Sie, ich bin so von Herzen froh, dass ich allen mir Begegnenden um den Hals fallen möchte. Kommen Sie mit mir, alter Freund, machen Sie mir die Freude, ein Glas Wein auf die Rückkehr meines Jungen mit mir zu leeren: ich hole eine Flasch vom dem besten, den ich im Keller habe.«

Damit legte er seinen Arm in den des Doktor’s und ging mit ihm die Arembergerstraße hinauf.

 

»Wein trinken? Wein trinken?« seufzte der Doktor mit schmerzlichem Lächeln. »Nein, lassen Sie mich, ich muß eilig nach Haus.«

»Sie haben doch keinen Kummer?« fragte der Viehhändler erstaunt.

»Kummer? Das Herz zieht sich mir vor Leid in der Brust zusammen. O, Freund Mark, Sie sagten mir unlängst, ich sei der glücklichste Mensch von der Welt, und ich leugnete nicht, das: Gott bis dahin milde geführt. Nun aber würde ich bereitwillig alles Glück meines Lebens hingeben, wenn ich dadurch das entsetzliche Unglück, das mich bedroht, abwenden könnte.«

»Ein entsetzliches Unglück? Ihre Frau ist doch nicht . . . «

»Mein Bernhard muß Soldat werden; Sie wissen aus eigener Erfahrung, was dass sagen will.«

»Bernhard muß fort? In den Krieg?« rief der Viehhändller voll innigen Mitgefühls, »wer hätte das gedacht! Armer Freund Christians, ich verstehe Ihren Schmerz, er fällt mir wie ein Nachtfrost auf meine Freude.«

»So wechselvoll ist das Leben,« murmelte der Doktor; »ein Augenblick reicht hin, um den Glücklichsten in den Abgrund der Verzweiflung zu stürzen! Sie erhalten Ihren Sohn zurück, den Sie verloren wähnten, ich verliere den meinen, den ich sicher geborgen glaubte – und das gerade in dem Augenblick, wo die Verlobung mit Veronika Walter gefeiert werden sollte. Meine Ruhe, mein Glück ist nun auf immer dahin; und meine arme Frau! Wird sie nicht dem herben Leid erliegen?«

Schweigend setzten sie eine Weile ihren Weg fort; auch der Viehhändler war ernst und still geworden.

»Es ist entsetzlich,« sagte er, »ihr Bernhard Soldat, ich kann es kaum glauben. Wann muss er fort?«

»Morgen erscheint er vor dem Revisionsrath, und unmittelbar darauf wird er uns entrissen.«

»Schon morgen! Konnten Sie denn keinen Ersatzmann seine bekommen?«

»Ich gäbe gern zwanzigtausend Franken dafür, doch ist keiner mehr aufzutreiben.«

»Rar sind sie allerdings, aber daß gar keiner mehr zu haben sein sollte . . . «

»Wenn Sie wüsten, wie ich seit drei Tagen danach umhergelaufen bin, wie ich Himmel und Erde in Bewegung schon gesetzt habe! In Brüssel gibt es keine Straße mehr, welche ich nicht zwei- dreimal durchstöbert, kein Seelenverkäuferbüreau, wo ich nicht angeklopft hätte, aber Alles vergebens. Nun kehre ich nach Hause zurück mit der Gewißheit, daß nichts mehr zu machen ist.«

Der Viehhändler ließ wieder eine Weile vorübergehn; dann sagte er tröstend:

»Ihr Unglück ist freilich groß, Freund Christians; die Noth eines Vaters, wenn er im Geiste seinen Sohn auf die Schlachtfelder begleitet, läßt sich in Worten nicht ausdrücken. Aber alle Soldaten ohne Ausnahme müssen doch nicht sterben, Sie sehn, mein Jakob kehrt ja auch frisch und gesund zurück, warum sollte Ihrem Bernhard nicht ein gleiches Glück widerfahren? Es ist eben eine Lotterie; wer eine gute Nummer zieht . . . «

Der Doctor schüttelte traurig den Kopf.

»Das Glück hat mir den Rücken gewendet,« murmelte er.

Sie hatten inzwischen den Hügel am Thiergarten erreicht.

Des Doktors Hand zum Abschied ergreifend sagte der Viehhändler:

»Lassen Sie den Muth nicht sinken, lieber Freund, wer weiß, vielleicht finden sie in der letzten Stunde noch, was Sie suchen. Sie waren stets so glücklich, es will mir nicht in den Sinn, daß des Himmels Gunst sich so plötzlich von Ihnen sollte gewendet haben. O, wenn ich vernähme, daß es Ihnen gelungen wäre, Bernhard zu Haus zu behalten, ich glaube ich spränge vor Freuden hoch auf. – Auf Wiedersehen!

Langsam setzte Christians seinen Weg fort, die Worte seines Freundes hatten ihm weder Trost noch Ermuthigung gegeben, die nackte Wahrheit grinste ihm in all’ ihrer Furchtbarkeit entgegen.

Ein Gefühl des Neides wollte sich in ihm regen. Der Sohn des Viehhändlers kehrte am Samstag wohlbehalten und frei in die Arme seines Vaters zurück, und sein armer Bernhard befand sich an demselben Tage vielleicht schon weit von Haus, auf dem Wege zu einem bevorstehenden Blutbade.

Bald jedoch unterdrückte er die seinem edlen Herzen so fremden Regungen, er beugte das Haupt unter dem Druck seines Schmerzes und näherte sich mit unsicheren Schritten seinem Hause.

Am Namer Thor zögerte er einen Augenblick; es war ihm, als müsse er wieder umkehren. Welchen Bescheid sollte er nun seiner tiefbetrübten Familie bringen? Es war ihm, als hörte er ihre Ausrufe der Verzweiflung, als sähe er ihre Thränen fließen. Zitternde Lippen flehten um ein Wort des Trostes und er mußte den letzten Funken Hoffnung in den blutenden Herzen auslöschen.

Gleichwohl ließ sich nichts daran machen, er mußte auch diesen Leidenskelch leeren. Christians wandte sich seinem Hause zu und wollte eben den Schlüssel aus der Tasche ziehen, als die Thür schon geöffnet wurde durch die Magd, welche wahrscheinlich bereits nach ihm ausgesehen hatte.

»Herr Doktor, im Wartezimmer sitzen schon seit Stunden fünf oder sechs Kranke,« sagte sie.

»Kranke! Kranke!« murmelte der Doktor ungeduldig, »heute steht mir der Sinn nicht nach solchen Dingen, ich bin kränker als sie.

»Sie wollten durchaus nicht fortgehen,« bemerkte das Mädchen.

»So mögen sie noch etwas warten; vielleicht ist es mir über ein Kleines klarer im Kopf.

Er schritt nun durch den Gang in das Wohnzimmer, wo er seiner Frau und seine Kinder, sowie Veronika mit ihrer Schwester fand; alle saßen in stummer Trauer schweigend beisammen, sprangen jedoch gleichzeitig auf, als sie ihn eintreten sahen und eilten ihm mit fragenden Blicken entgegen.

»Nichts, nichts, Kinder, Alles ist verloren« Mehr vermochte er nicht hervorzubringen.

Unbeschreiblich war die Trauer, welche diese Worte verursachten, man hörte nur weinen und klagen, und dazwischen die Ausrufe: Soldat, Blut, Tod, Tyrann und ähnliche mehr.

Der Doktor faßte sich zuerst; er versuchte sogar seinen verzweifelnden Angehörigen eine Hoffnung einzuflößen, die er selbst nicht theilte. Zuerst erzählte er von der glücklichen Heimkehr des Sohnes seines Freundes und wies darauf hin, daß es eine Uebertriebenheit sei zu behaupten, keiner der Ausgehobenen komme in das Vaterhaus zurück. Außerdem seien noch etwa zehn bis zwölf Boten unterwegs, die nach einem Ersatzmann für Bernhard suchten, und man könne nicht wissen, ob nicht Einer von ihnen erfolgreich wäre. Schwach wie die Zuversicht sei, dürfe man doch den Muth nicht verlieren; so lange das Schicksal sich nicht erfüllt habe, müsse man auf den Beistand des Himmels bauen.

Hatten seine Worte wirklich einen beruhigenden Einfluß oder waren Alle vom Weinen und Klagen erschöpft? Allmählich wurde es wieder still im Zimmer.

Doktor Christians fühlte das dringende Bedürfnis, nach der aufreibenden und anstrengenden Thätigkeit des Tages in der Einsamkeit etwas zu ruhen.

»Einige Kranke erwarten mich,« sagte er, »ich darf ihnen meine Hilfe nicht vorenthalten. Faßt mich, so gut es eben angeht, ich bin sogleich wieder bei Euch.«

Er begab sich in sein Kabinet und wies die Magd an, die Kranken der Reihe nach einzulassen. Zerstreut hörte er ihre Klagen an, schrieb ihnen Heilmittel auf und entließ sie.

Von der unter diesen Umständen peinlichen Amtspflicht befreit setzte er sich an den Tisch, stützte den Kopf auf die Hand und versenkte sich ganz in den Gedanken an sein Unglück. Im Geiste sah er seinen Sohn mit durchbohrter Brust auf einen Leichenhaufen niedersinken, sah ihn krampfhaft die Hand gegen das Herz pressen, um das hervorquellende Blut zurückzuhalten. Er hörte seinen Hilferuf, aber in dem Donner der Kanonen, dem Gewieher der Pferde, dem Getümmel des Kampfes verhalte die ersterbende Stimme. Niemand kam . . . und der Vater, mußte fern sein, während sein einziger Sohn verlassen und sterbend auf dem Schlachtfelde lag.

Welche Gewalt er auch anwenden mochte, das entsetzliche Bild zu bannen, immer kehrte es zurück, so dass der arme-Doktor endlich blaß wie eine Leiche dasaß, die weit geöffneten Augen in die Leere gerichtet, als sähe er in Wirklichkeit, was seine erregte Phantasie ihm vorspiegelte.

»Herr Doktor,« meldete jetzt die eintretende Magd, »es ist ein Herr im Vorzimmer, der Sie durchaus sprechen will; er sagt, daß er große Eile habe.«

Christians starrte sie an, als habe er sie nicht recht verstanden. Die Magd wiederholte ihre Meldung.

»Ich wünsche jetzt Ruhe zu haben,« sagte der Doktor unwirsch, »der Herr mag zu einer andern Zeit wiederkommen, ich bin heute für Niemanden mehr zu sprechen.«

Das Mädchen ging, kehrte aber im nächsten Augenblick zurück. Schon wollte der Doktor seiner Ungeduld die Zügel schießen lassen, als sie ihm zu verstehen gab, daß der betreffende Herr ihm Etwas über einen Stellvertreter mitzutheilen wünsche.

Nicht so bald hatte Christians dies vernommen, als er ausrief:

»Schnell, schnell, Therese; laß den Herrn sogleich zu mir kommen!«

»Täuschen mich meine Augen nicht?« rief er dann, den Eintretenden verwundert betrachtend, »Sie, Wilhelm Hoofs, bringen mir eine Nachricht, nach der ich so sehr verlange?«

»Jawohl Herr Doktor,« versetzte der junge Mann; »seit ein paar Stunden erst erfuhr ich ganz zufällig in welcher traurigen Lage Sie sich befinden . . . «

»Und da sind Sie, eingedenk des Dienstes, den ihnen vor einiger Zeit erweisen konnte, ausgegangen, um einen Stellvertreter für meinen Sohn zu suchen? Das war brav! Sollte der Allgütige Sie zum Werkzeug für die Rettung meines Kindes erwählt haben? Sprechen Sie, sprechen Sie, haben Sie einen Ersatzmann gefunden?«

»Es ist wie Sie sagen. Freuen Sie sich Herr Doktor, Ihr Sohn braucht nicht in den Krieg, ein Anderer wird seine Stelle vertreten.«

»Ist es ein tauglicher junger Mensch?«

»Durchaus tauglich; er hat sich bereits von einem Militärarzt untersuchen lassen.«

»Wer ist denn dieser vom Himmel gesandte Helfer? Wo wohnt er?«

»Er steht vor Ihnen Herr Doktor.«

Christians fuhr erschreckt zurück, so groß war sein Staunen.

»Sie, Wilhelm Hoofs, Sie wollten Soldat werden statt meines- Sohnes?« rief er aus. »Unmöglich! Sie wollten eine ganze Familie von der Verzweiflung retten?«

»Warum nicht Herr Doktor?«

»Sie haben eine Mutter.«

»Allerdings, eine zärtlich geliebte Mutter.«

»Und dürfen sie nicht verlassen. Das Gesetz selbst verbietet denen, welche als einzige Kinder frei von der Dienstpflicht sind, Soldat zu werden ohne die schriftliche Einwilligung ihrer Eltern.«

»Meine Mutter hat diese Einwilligung bereits gegeben.«

»Wie kann das sein? Sie, die so an ihrem Sohne hängt!«