Ohne Gnade

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In den US-Gefängnissen werden diese Versöhnungs- und Besänftigungsrituale noch heute praktiziert. „Der Weg durch die Pforte des Todes führt deshalb noch für eine kurze Zeit durchs Schlaraffenland“, wie Bernard konstatiert, um jenen „seelischen Zustand herzustellen, den der arme Sünder in die Geisterwelt mitnehmen soll“ (von Hentig).

Und so finden sich in den sogenannten Todestrakten besonders wohnlich ausgestattete Räume, die mit gewöhnlichen Zellen nur wenig gemein haben. Es gibt pastellfarbene Wände, bessere Bettwäsche, mitunter TV-Geräte, gepflegtere Kleidung – und eben auch eine letzte individuelle Mahlzeit. Ein Refugium zwischen Leben und Tod – ein Ort der Entspannung. „Schmeicheln will man mit diesen Vorzügen nicht mehr dem lebendigen Körper des Delinquenten sondern schon seiner unsterblichen Seele. Die Henkersmahlzeit ist eine zu Lebzeiten verabreichte Grabbeigabe“, so Bernard.

Deutlich wird: Das Ritual der Henkersmahlzeit ist auch heute noch kein finaler Akt der Humanität auf dem Weg in den Tod, sondern Teil eines möglichst reibungslosen Ablaufs. Mit der Bestellung und dem Verzehr seiner Lieblingsspeise gibt der Todeskandidat gewissermaßen sein Einverständnis zur vorgegebenen Dramaturgie und autorisiert seine bevorstehende Hinrichtung. Was aber geschieht, wenn der Delinquent die letzte Mahlzeit ablehnt, wenn er das vorgesehene Protokoll verweigert, wenn sich ein „Missklang in die Erbaulichkeit der Prozedur“ mischt, wie Hans von Hentig es nennt? Die Verweigerung der Henkersmahlzeit ist für das Gefängnissystem mehr als eine störende, stille Rebellion. Eine solche Entscheidung bringt nicht nur den stringenten Ablauf in Gefahr, sondern ist geeignet, innerhalb der Organisation für Unruhe zu sorgen. Der Delinquent signalisiert: Er will keinen Frieden mit seinen Richtern schließen. Er verweigert die symbolische Unterzeichnung seines Todesurteils. Die Gefängisdirektoren atmen also auf, wenn aus der Todeszelle eine Bestellliste kommt, sei sie auch noch so exotisch.

Bernard hat für das Texas Department of Criminal Justice eine Liste erstellt, auf der alle „letzten Gerichte“ der in Texas hingerichteten Delinquenten aufgeführt wurden. Die Liste, die im Internet eingesehen werden kann, umfasst die Zeit vom 7. Dezember 1982 bis zum 12. Juli 2000, insgesamt 224 Personen, die in diesem Zeitraum durch eine Giftspritze in der Strafanstalt Huntsville hingerichtet wurden. Die Frage nach dem Lieblingsgericht, von Boulevardblättern ansonsten gerne Prominenten gestellt, wurde der Öffentlichkeit nun in neuer Lesart serviert. Von den Eigenheiten des Geschmackssinns erhofft man sich Auskünfte über die Identität des Menschen. In diesem Fall über die texanischen Todeskandidaten.

In einem Interview sagte der Gefängniskoch von Huntsville, der vermutlich die meisten der auf dieser Liste aufgeführten Gerichte zubereitet hatte: „Ich glaube, das sind Speisen, mit denen die Verurteilten schöne Erinnerungen aus ihrer Jugend verbinden.“ Gab es Besonderheiten, die auf dieser Liste zu erkennen waren? Zunächst die unerwartete Gleichförmigkeit der Menüs. Burger, Steak oder Chicken – diese drei Gerichte machten weit mehr als die Hälfte aller Bestellungen aus. Dass sich die Delinquenten noch einmal eine der typischen amerikanischen Mahlzeiten wünschten, weist vermutlich tatsächlich auf jene frühen Erinnerungen hin, die sie mit diesem Essen verbanden, genauso wie die Todeskandidaten südamerikanischer Herkunft fast ausnahmslos Speisen wie Tacos, Enchiladas oder Fajitas bestellten.

Das überraschend schmale Spektrum der Henkersmahlzeiten hatte aber auch einen verwaltungstechnischen Grund, wie Bernard mutmaßte. In den letzten Jahren hatten die amerikanischen Gefängnisse nach und nach die freie Wahl der Speisen eingeschränkt. Machten sich um 1900 die Delinquenten noch einen letzten Spaß daraus, möglichst Außergewöhnliches und Luxuriöses in Auftrag zu geben, um die Gefängnisverwaltung gewissermaßen zum irdischen Finale noch einmal herauszufordern, gab es in Huntsville dagegen nur das, was in der Küche zur Verfügung stand. Sogar eine Bestellung wie „Shrimps mit Salat“ (Pedro Muniz, hingerichtet am 19.5.1998) wurde zurückgewiesen, weil keine Meeresfrüchte vorrätig waren. Die Henkersmahlzeit als unreglementierter Ausbruch aus der Ordnung der Gefängniskost gibt es nicht mehr. Alkoholische Getränke sind ohnehin seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1976 verboten. Der Todeskandidat soll in vollem Bewusstsein seinem Schicksal entgegengeführt werden, ungetrübt von den beruhigenden Wirkungen des Alkohols. Selbst der traditionelle Wunsch nach einer „letzten Zigarette“, jahrhundertelang Sinnbild für die ablaufende Lebenszeit des Delinquenten, wird mittlerweile verwehrt.

Dennoch, Delinquenten nehmen es sehr genau mit der Bestellung ihrer letzten Lieblingsspeisen. Menge und Zubereitungsart werden mitunter akribisch beschrieben, Sonderwünsche sorgsam formuliert, so, als wäre es eine letzte Möglichkeit, noch einmal etwas Persönliches, eine besondere Eigenart oder Vorliebe herauszustreichen:

„Vier bis fünf Spiegeleier“ (Noble Mays, hingerichtet am 6.4.1995), „Pepperoni-Pizza, mittelgroß“ (Richard Brimage, Jr., 12.3.1997), „gebratenes Huhn, nur weißes Fleisch“ (Richard Foster, 24.5.2000), „zehn Quesadillas, fünf gefüllt mit Mozzarella, fünf gefüllt mit Cheddar“ (Jessy San Migule, 29.6.2000).

Und es gibt Bestellungen, bei denen der Delinquent eine genaue Anordnung der Speisen auf dem Teller vorgibt, ganz so, als würde er jener Klarheit und Ordnung noch einmal Rechnung tragen, die seinen Alltag in den langen Gefängnisjahren bestimmten.

„Das Dressing zum Salat soll separat serviert werden” (James Clayton, 24.5.2000), „die geschmolzene Butter zu den Honigsemmeln nicht auf dem Gebäck, sondern daneben“ (Orien Joyner, 12. 2000).

Es gibt Wünsche, bei denen die Todeskandidaten am Vorabend ihrer Hinrichtung noch auf ihren Körper und auf Gesundheit und Fitness achten: Ronald O’Bryan etwa, hingerichtet am 31.3.1984, verlangt „Süßstoff statt Zucker zu seinem Tee“, Kenneth Dunn (10.8.1999) ein „Diet Cream Soda“, und Cornelius Goss (23.2.2000) möchte sogar nichts weiter als „einen Apfel, eine Orange, eine Banane, eine Kokusnuss und Pfirsiche“.

Schließlich jene Menü-Wünsche, die opulent und maßlos erscheinen, so, als wolle der Delinquent Vorsorge treffen, noch einmal das Privileg der Ausschweifung wahrnehmen, etwa die

„zwei Dutzend Rühreier“ von Robert Streetman (7.1.1988), die „zwölf Stücke gebratenes Huhn“ von Domingu Cantu, Jr. (28.10.1999) oder die Bestellung von David Castillo (23.8.1998): „24 Soft-Shell-Tacos, sechs Enchiladas, sechs Tostados, zwei ganze Zwiebeln, fünf Jalapenos, zwei Cheeseburger, ein Schokoladen-Milchshake, eine Packung Milch“.

Nur knapp ein Zehntel der auf Bernards Liste aufgeführten 224 Todeskandidaten verweigerte die Bestellung einer Henkersmahlzeit und ließ sich nüchtern auf die Pritsche im Injektionsraum führen. Das letzte Mahl wird so neben dem Zellenwechsel sowie der großzügigen Gewährung von Besuchen der Angehörigen, Verwandten und Freunde als letztes Friedensangebot und Besänftigungsritual gewährt. Der Delinquent darf sich noch einmal zu essen wünschen, was immer er mag, so viel er will. „Ein paradoxes Privileg“, nennt das der Philosoph Wolfram Eilenberger. „Noch bevor die Nahrung verdaut ist, wird das Leben ausgelöscht sein. Um den Erhalt der Körperfunktionen kann es bei diesem Ritual also nicht gehen, viel eher um eine karnevaleske Distanzierung von der erahnten Unwürdigkeit des Geschehens. Ein gefangener Mensch ohne Recht auf die nackte Existenz wird in den letzten Stunden seines Lebens in den Stand königlicher Wahlfreiheit gehoben. Was soll das?“

Eilenberger misstraut dem finalen Gunsterweis: „Ist es die schlichte Endgültigkeit der Handlung, die nach einer Geste der Versöhnung verlangt? Soll selbst der aus der Gemeinschaft der Lebenden bereits Ausgeschlossene einen letzten Moment sinnlicher Befriedigung erfahren?“ Würde freilich das letzte Mahl entfallen, bliebe nur noch das letzte Wort. Davon wird am Ende dieses Buches noch einmal die Rede sein, von den letzten Worten, gedacht als finale Botschaft an die Angehörigen der Opfer, den Richter, die Geschworenen, die Zeugen, die eigene Familie – oder doch vor allem an sich selbst?

Was die letzten Worte des Nicolas Jacques Pelletier waren, der am 25. April 1792 gegen 15.30 Uhr in Paris vor den Augen Tausender Neugieriger zum Schafott geführt wurde, ist nicht überliefert. Aber dass dieser Tag ein großer Tag für die „humanen“ Reformer war, ist dokumentiert. Eine neue Technik des Tötens feierte ihre blutige Premiere: die Guillotine. Davon soll auf den nächsten Seiten berichtet werden.

Alle Macht der Maschine – Die Guillotine

Heute soll die Maschine in Gebrauch genommen werden, die erfunden wurde, um den zum Tode verurteilten Verbrechern den Kopf abzuschlagen. Die Enthauptung mittels dieser Maschine wird gegenüber den bisherigen Hinrichtungsarten mehrere Vorteile aufweisen: Der Anblick wird weniger schockierend sein, denn keines Menschen Körper wird mehr mit Blut seines Nächsten befleckt; und der Verurteilte wird nur noch die Marter der Todesangst ertragen müssen, die schlimmer sein wird, als der Schlag selbst, durch den er aus dem Leben scheidet.

Der Verbrecher, welcher heute als erster die Wirkung der neuen Maschine erfahren wird, ist Nicolas Jacques Pelletier, der bereits vorbestraft ist und in letzter Instanz am 24. Januar 1792 vom dritten provisorischen Kriminalgerichtshof für schuldig befunden wurde, in Komplizenschaft mit einem Unbekannten am 24. Oktober 1791, gegen Mitternacht, in der Rue Bourbon-Villeneuve einen Privatmann überfallen und ihm nach mehreren Stockschlägen seine Brieftasche geraubt zu haben, in der sich 800 Livres befanden.

 

Zur Wiedergutmachung dieser Schuld hat ihn das Gericht dazu verurteilt, in einem roten Hemd auf den Greve-Platz geführt zu werden, wo ihm gemäß den Bestimmungen des Strafgesetzbuches der Kopf abgeschlagen werden soll.“

Paris, 25. April 1792, gegen 15.30 Uhr. Nicolas Jacques Pelletier, ein justizbekannter Gewohnheitskrimineller, angeklagt wegen Straßenräuberei, wird vor den Augen einer gewaltigen Menschenmenge zum Schafott geführt. Zum ersten Mal darf Charles-Henri Sanson, der Henker von Paris, im Namen des Gesetzes das Beil der neuen Guillotine in Bewegung setzen. Pelletiers Kopf ist binnen Sekunden vom Körper getrennt, die Premiere gelungen.

Die „Revolution“ hat begonnen! Mit der Hinrichtung beweist die Nationalversammlung ihre Entschlossenheit, dem „Alten Regime“ ein Ende zu setzen. Noch vor wenigen Jahren waren Menschen öffentlich gerädert und verbrannt worden: 1783 ein Homosexueller, 1785 ein Brandstifter, 1787 ein Vatermörder. Nein, die Zeit ist reif für eine neue Maschine, deren Devise lautet: Gleichheit, Vernünftigkeit, und vor allem – Menschlichkeit. Menschlichkeit gegenüber dem Opfer, dessen Schmerz die Guillotine verringert. Menschlichkeit gegenüber den Zuschauern, denen die Maschine den grauenerregenden Anblick der alten Hinrichtungsrituale erspart, weil sie aus dem unmenschlichen Schauspiel des öffentlichen Sterbens ein kurzes Blutvergießen macht. Und Menschlichkeit gegenüber dem Henker, der nur mehr Auslöser eines mechanischen Tötungsprozesses ist, weil zwischen ihm und dem Körper des Delinquenten eine neutrale Maschine steht. Kurzum: Mechanische und schmerzlose Schnelligkeit als menschenfreundlicher Fortschritt – und dieser Fortschritt wird vor den Augen des Volkes, dem bevorzugten Zeugen für die neuen Errungenschaften, vollzogen.

Als sichtbares Schwert steht die Guillotine für eine Gerechtigkeit, die für alle Menschen gleich ist. In den Berichten von der Einweihung der Maschine wird die Person des Verurteilten und die des Henkers mit keinem Wort erwähnt. Der Akzent hat sich – ganz im Sinne der neuen Zeit – von den Beteiligten auf die Maschine verlagert. Der Scharfrichter ist allenfalls noch ausführendes Organ, ein „Vertreter der Exekutivgewalt“. Es lebe der Fortschritt, es lebe die Revolution!

Eines fasziniert von Anfang an alle Beteiligten: die Effizienz der Maschine. Sie funktioniert perfekt. Aber die Wirkung? Konnte man in dieser so sekundenschnellen Exekution, in diesem Todesaugenblick überhaupt für seine Verfehlung Buße tun, so dass sie als ein Flehen um göttliche Barmherzigkeit auch für die Zuschauer sichtbar wurde? Bislang war die Hinrichtung eines Delinquenten so etwas wie eine sakrale Inszenierung, eine Versöhnung zwischen dem Sterbenden und seiner Seele und Gott. Wenn die Schnelligkeit des Hinrichtungsrituals diesen „geheiligten Moment“ geradezu auflöst, bestünde da nicht die Gefahr, dass der Sterbende sein Heil gar nicht mehr erlangen könnte? Der Begriff des Sterbens verliert seinen Sinn, wenn der Lebende mit einem Mal tot ist – monierten Kritiker, die schon zuvor vor einem „Mangel an Sichtbarem“ gewarnt hatten.

Sicher, die Guillotine war ein Produkt der Französischen Revolution, aber die Premiere der Guillotine 1792 geriet ohne Zweifel für viele auch zur Enttäuschung; sie irriterte sogar jene, die die Zeremonie erdacht hatten. Sollte die neue Maschine nicht ein Fanal sein, ganz im Sinne der Gleichheit und Menschlichkeit? Ging das nicht alles verloren unter dem sekundenschnellen Herabfallen des Beils?

Kaum drei Jahre zuvor, am 26. August 1789, gehörte es zu den ersten Maßnahmen der jungen Nationalversammlung, dass die Abgeordneten eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedeten. Hierin war auch von einem neuen Strafrecht die Rede, das die Bürger zukünftig vor der Willkür der Justiz schützen sollte, sowie von einem „humaneren“ Vollzug der Todesstrafe.

Joseph-Ignace Guillotin, ein zu Ruhm, Ehren und Wohlstand gekommener Pariser Arzt, Reformer, Freimaurer und zeitweise Parlamentarier, Mitglied der besten, einflussreichen Gesellschaft, der sich als Aufklärer sah, brachte Anfang Oktober 1789 einen sechs Artikel umfassenden Reformvorschlag in die Nationalversammlung ein. Dessen Hauptforderung war, die Enthauptung zur einzigen Hinrichtungsart zu machen und auf vorherige Folter des Verurteilten zu verzichten.

1.Vergehen der gleichen Art werden durch die gleiche Strafe geahndet, welchem Rang und Stand die Schuldigen auch immer angehören mögen.

2.In allen Fällen, in denen das Gesetz die Todesstrafe für eine angeklagte Person vorsieht, soll die Strafart die gleiche sein, welcher Art Verbrechen sie sich auch immer schuldig gemacht hat; der Verbrecher soll enthauptet werden; das wird ausschließlich vermittels einer mechanischen Vorrichtung durchgeführt.

3.Im Hinblick auf den individuellen Charakter eines Verbrechens soll die Bestrafung des Schuldigen jeden Nachteil für seine Familie ausschließen. Die Ehre seiner Sippe soll in keiner Weise befleckt werden, und jeder Angehörige des Verbrechers darf unbeschränkt jeden Beruf, jede Beschäftigung und jedes öffentliche Amt ausüben.

4.Niemand darf gegenüber einem Bürger abfällige Äußerungen tun, weil einer seiner Sippe bestraft worden ist. Wer es trotzdem unternimmt, der soll vor Gericht öffentlich verwarnt werden. Diese Verwarnung ist an der Haustür des Schuldigen anzuschlagen. Weiterhin ist die Verwarnung am Pranger auszuhängen, wo sie drei Monate zu verbleiben hat.

5.Das Vermögen eines Verurteilten ist in keinem Fall einzuziehen.

6.Die Leiche des Hingerichteten ist seiner Familie auf deren Verlangen zu übergeben. In jedem Fall ist dem Toten ein normales Begräbnis gestattet, und im Register ist kein Vermerk über die Art seines Todes zu machen.

Guillotin ging es darum, alle Verurteilten, unabhängig von Rang und Stand, derselben Hinrichtungsart zu unterwerfen. Die Gleichheit vor dem Gesetz, ein wesentliches Prinzip der Aufklärung, sollte auch dann garantiert werden, wenn es galt, den Tod zu vollstrecken.

Und noch eines war ihm ein Anliegen: Die Leiden des zum Tod Verurteilten sollten auf ein Mindestmaß verringert werden. „Sie spüren nicht den leisesten Schmerz, höchstens den kurzen Hauch über dem Nacken“, mit diesen Worten hatte er in einer zweiten Parlamentsrede die Weiterentwicklung seines Fallbeils vorgestellt und dafür von einem Teil der Abgeordneten abschätziges Gelächter geerntet. Der einflussreiche Pariser Henker Charles-Henri Sanson meldete sich danach mit einer Denkschrift an den Justizminister zu Wort und wies auf Schwierigkeiten hin, mit denen Scharfrichter und Opfer durch die neuartige Erfindung zu kämpfen hätten:

„Nach jeder Exekution ist das Schwert unbrauchbar für eine weitere Hinrichtung; es ist absolut notwendig, das schartig gewordene Schwert erneut zu schärfen und zu schleifen, wenn mehrere Personen hinzurichten sind; daraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen ausreichenden Vorrat an einsatzbereiten Schwertern zur Verfügung zu haben. Das bereitet sehr große und nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten …

Aufmerksamkeit sollte auch der Möglichkeit geschenkt werden, dass bei der aufeinanderfolgenden Hinrichtung mehrerer Personen der durch die Exekution hervorgerufene Schrecken – im Hinblick auf die ungeheure Menge des verspritzenden Blutes – Furcht und Schwäche selbst in den Unerschrockensten der noch auf die Hinrichtung Wartenden hervorrufen muss. Solche Schwäche wird ein kritisches Hindernis für die Abwicklung der Exekution bilden … Die Exekution wird zum Kampf und zum Massaker.“

Es sollte noch mehr als zwei Jahre dauern, bis sich die Nationalversammlung dazu entschließen konnte, die von Guillotin vorgeschlagene Enthauptungsmaschine trotz zahlloser Einwände herstellen zu lassen. Am 3. Juni 1791 stimmten die Abgeordneten einem Gesetzentwurf zu, aufgrund dessen „jedem zum Tode Verurteilten der Kopf abzutrennen ist“. Aber nicht Guillotin, sondern sein Kollege der Chirurgischen Akademie, Antoine Louis, wurde mit der eigentlichen Konstruktion beauftragt, da sich herausgestellt hatte, dass Dr. Guillotin theoretisch zwar versiert, in der praktischen Umsetzung aber doch überfordert schien. Die eigentliche handwerkliche Ausführung erledigte schließlich der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt. Er hatte das günstigste Angebot gemacht und am 10. April 1792 den Auftrag erhalten. Für einen Stückpreis von 960 Livres sollte er den Bau der ersten Guillotine bewerkstelligen.

Die neue Köpfmaschine war ein Instrument, das im Wesentlichen aus zwei Teilen bestand: einem Kippbrett, auf dem der Verurteilte festgeschnallt wurde, und einem etwa fünf Meter hohen Gerüst, von dem das scharf geschliffene Fallbeil – von zwei seitlichen Schienen geführt – in den Nacken des Verurteilten mit verlässlicher Genauigkeit traf. Der Delinquent wurde in der Regel aufrecht stehend an das bewegliche Kippbrett gegurtet und anschließend in waagrechte Position genau unter das Fallbeil geschwenkt. Danach wurde der Kopf noch mit einer Art Halsgeige festgehalten. So jedenfalls sah es die Konstruktion vor – jetzt aber musste der praktische Vollzug erprobt werden. Das geschah wenige Wochen später im Gefängniskrankenhaus von Bicetre, denn an Leichen zum Üben herrschte dort kein Mangel, wie der Chefarzt der Anstalt seinem Kollegen Louis versicherte:

„Sie werden in Bicetre alles finden, was Ihnen zur Erprobung einer Maschine wesentlich erscheint, die die Menschheit nur mit Schauder betrachten kann, die aber für die Gerechtigkeit und das Wohlergehen der Gesellschaft notwendig ist. Ich werde für Sie die Leichen jener Unglücklichen, die zwischen heute und Montag sterben, zur Verfügung halten.“

Die Generalprobe vor einem 40-köpfigen Publikum verlief jedenfalls zufriedenstellend. Beilhöhe und Schneideform waren kurz zuvor noch einmal verändert worden, nachdem bei Versuchen mit lebenden Kälbern und Schafen deren Köpfe vom herabfallenden Beil zwar glatt abgehackt worden waren, jedoch die Hälse dreier männlicher Leichen dem ersten Versuch der Schneide trotzten. Nun aber erfüllte der Prototyp der neuen Enthauptungsmaschine die Erwartungen. Antoine Louis konnte dem Generalstaatsanwalt berichten, Schmidts Köpfmaschine habe so sauber enthauptet, „dass man von der Gewalt und Schnelligkeit überwältigt war“.

Am Nachmittag des 25. April 1792, nachdem Nicolas Jacques Pelletiers Kopf gefallen war, konnte die neue Technik des Tötens im Namen des Gesetzes ihren zweifelhaften Siegeszug antreten. Und sie sollte mit einer im wahrsten Sinne des Wortes tödlichen Sicherheit funktionieren. „Es begann die industrielle Revolution auf dem Gebiet der Todesstrafen“, wird der deutsche Kriminologe Hans von Hentig später feststellen.

Eine wirkliche Neuigkeit freilich war die Guillotine nicht. Sie hatte zwar mit dem mittelalterlich-qualvollen Hinrichtungszeremoniell, den blutrünstigen Zurschaustellungen Schluss gemacht – obschon beispielsweise noch 1785 in Paris ein Brandstifter und ein Ehebrecher öffentlich gerädert wurden –, aber bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte man etwa in Italien die Mannaia in ähnlicher Bauart wie beim französischen Modell eingesetzt. In Schottland endeten über 120 Delinquenten unter einem Fallbeil namens Maiden, auch als „Schottische Jungfrau“ tituliert; angeblich, weil die Maschine lange Zeit auf ihren ersten Einsatz am 2. Juni 1581 in Edinburgh warten musste. Beide gerieten nach und nach in Vergessenheit, wobei die Maiden noch bis zum 18. Jahrhundert in Gebrauch war. Abgelöst wurden sie nun von der Idee des Joseph-Ignace Guillotin. Doch die tatsächlichen Ideengeber sieht der englische Kulturhistoriker Alister Kershaw in den Protagonisten, die sich der Aufklärung verpflichtet sahen:

„Der Arzt Dr. Guillotin schlug sie vor, Dr. Louis entwarf sie, der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt konstruierte sie – aber keiner von ihnen ist der wahre Vater. Die Guillotine hat eine erheblich erlauchtere Abstammung: Montesquieu, Rousseau, Voltaire, die Enzyklopädisten, keine Geringeren waren die Geister, die die ‚machine à décoller‘ zeugten“.

Doch im April 1792 lässt sich nicht vorhersehen, dass die Maschine, die aus Grundsätzen der Menschlichkeit und der Vernunft nun endlich auch in Frankreich eingeführt wird, innerhalb von nur wenigen Monaten zur „schrecklichen Guillotine“ werden sollte. Anfänglich ist die Guillotine bei weitem nicht ausgelastet. Für den Henker und seine Gehilfen gibt es nicht sonderlich viel zu tun, nur hin und wieder fällt das Haupt eines Kriminellen oder Royalisten. Nach der Pelletier-Premiere wird die Maschine zur Place du Carrousel gebracht, danach steht das Schafott auf der Place de la Revolution. Und allein dort sollten – einem zynischen Wort jener Zeit zufolge – mehr als 1100 Franzosen „ihren Kopf in den Korb spucken“. Danach verfiel die Justiz der Revolution in eine barbarische Tötungsraserei. Allein Charles-Henri Sanson, der wohl bekannteste Scharfrichter aus der über sechs Generationen reichenden Henkerdynastie Sanson, wird während der Schreckensherrschaft in 500 Tagen rund 2600 Menschen exekutieren! Im übrigen Frankreich werden es mehr als 20 000 sein.

 

In der Nationalversammlung nennt man die täglichen Hinrichtungen rote Messen und das Schafott den Altar des Vaterlandes. Geopfert werden alle, die der neuen Zeit ablehnend gegenüberstehen und diese bekämpfen – vor allem aber jene, die die Revolutionselite und ihre Protagonisten nicht zu brauchen glauben, darunter: am 21. Januar 1793 der gestürzte König Ludwig XVI.; am 16. Oktober 1793 seine Frau Marie Antoinette; am 24. März 1794 Jacques-René Hébert, ein Führer der linken Jakobiner; am 5. April des gleichen Jahres Georges-Jacques Danton und mit ihm 14 Gleichgesinnte; am 28. Juli Maximilien de Robespierre, Führer der Jakobiner, vormals entschiedener Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe, später einer der großen Impresarios der Schreckensherrschaft; und mit ihm Louis-Antoine de Saint-Just, sein engster Mitarbeiter, der einst verfügt hatte: „Die Friedhöfe haben überfüllt zu sein, nicht die Gefängnisse.“ Nun war er selbst Opfer des rauschhaften Terrors geworden.

Zwei Jahre lang macht die Revolution einen im wahrsten Sinne des Wortes rasenden Gebrauch von der Guillotine und nützt sie für politische Zwecke. Sie wird zum alltäglichen Instrument eines Revolutionstribunals, das sich als alleiniger Vertreter einer wahren revolutionären Rechtsprechung stilisiert. Die Guillotine wird eine einzige blutige Regierungsmaschine. Akribisch notiert der Scharfrichter Charles-Henri Sanson die Namen der Hingerichteten in seinem Tagebuch und schildert seine Eindrücke und Beobachtungen. Ein Dokument des Wahnsinns in einer Zeit des Schreckens, in der er als Henker von Paris selbst eine der zentralen Schreckensgestalten ist.

Am 17. Juni 1794 notiert Sanson:

„Ein schrecklicher Tag! Die Guillotine hat vierundfünfzig vernichtet. Ich bin mit meinen Kräften am Ende und wäre beinahe ohnmächtig geworden. Man zeigte mir eine Karikatur, die in der Stadt kursiert und auf der ich dargestellt bin, wie ich mich inmitten einer Ebene selbst guillotiniere, die, so weit das Auge reicht, mit Leichen ohne Köpfe und mit Köpfen ohne Körper bedeckt ist. Wenn nur mein Hals nötig wäre, um die Guillotine zu beseitigen, ich bin bereit, und der Zeichner soll nicht gelogen haben. Ich rühme mich nicht einer Sensibilität, die ich nicht besitzen kann: Ich sah zu oft und aus zu großer Nähe die Leiden und den Tod meiner Mitmenschen mit an, als dass ich leicht zu beeindrucken wäre. Wenn mein Gefühl aber nicht Mitleid ist, dann muss es das Ergebnis einer Nervenkrankheit sein; vielleicht straft mich die Hand Gottes für meinen feigen Gehorsam gegen etwas, das so wenig der Gerechtigkeit ähnelt, der zu dienen ich geboren war? Ich weiß es nicht; aber seit einiger Zeit werde ich jeden Tag, wenn die Stunde naht, von einem Schwindel befallen, der mich beherrscht und grausam quält. Sobald ich die Conciergerie betrete, steigt das Fieber sprunghaft an, das mich Tag und Nacht verzehrt; es ist, als ob Feuer unter meiner Haut loderte.

Obwohl ich nüchtern bin, kommt es mir vor, als wäre ich betrunken; die Leute um mich herum, die Möbel, die Mauern, alles tanzt und dreht sich, und in meinen Ohren dröhnen dumpfe Geräusche wie Klagen. Vergeblich kämpfe ich dagegen an, es gelingt mir nicht, meine gewohnten Kräfte wiederzufinden oder mich auch nur zu erholen. Meine Hand zittert, und zwar so sehr, dass ich es aufgeben musste, den Verurteilten die Haare abzuschneiden und sie zu fesseln. Da stehen sie; einige weinen, andere beten, alle begreifen, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat, und ich allein zweifle an der Wirklichkeit dessen, was geschieht. Ich führe sie in den Tod und kann nicht glauben, dass sie sterben werden. Es ist wie ein Traum, dem ich vergebens zu entrinnen suche. Ich nehme an den Vorbereitungen zur Hinrichtung teil, ohne mir des Kommenden bewusst zu sein, ich verrichte meinen Dienst mit der mechanischen Regelmäßigkeit eines Automaten, ohne dass das Gehirn denkt und gebietet. Dann kommt das Geräusch des Messers, das mich wieder zu Bewusstsein bringt. Ich kann es nicht mehr hören, ohne zusammenzufahren, ohne dass kalter Schweiß meinen ganzen Körper bedeckt. Dann befällt mich eine Art Wut; ohne zu überlegen, dass ich mich als ersten verfluchen müsste, richte ich tausend unausgesprochene Verwünschungen gegen die Gendarmen, die mit gezogenem Säbel jene Unglücklichen, deren Hände gefesselt sind, hergeführt haben; gegen das Volk, welches ihnen stumpfsinnig beim Sterben zusieht, ohne eine Bewegung, eine Geste zu ihrer Rettung zu wagen; und gegen die Sonne, die das alles erleuchtet. Endlich verlasse ich den Platz, erdrückt, gebrochen von innerer Unruhe, mit einem Gefühl, als ob ich weinen wollte, aber ohne Tränen zu haben.

Noch nie waren diese Empfindungen so stark wie heute. Man hatte Ladmiral und Cécile Renault ein großes Gefolge von Statisten beigegeben, die man wie üblich ihre Komplizen nannte, obwohl mehrere von ihnen hinter Schloss und Riegel saßen, als die beiden angeblichen Mörder ihre Taten verübten.

Seit dem 23. erstellt der Sicherheitsausschuss auf die Berichte einer Kommission hin, die im Louvre tagt, Todeslisten und schickt sie ans Tribunal.

Die Verhaftung von Naudin und Antonnelle, zwei Geschworenen, die nicht einsehen wollten, dass das Recht der Revolution dem Recht auf Gerechtigkeit vorgeht, hat bewiesen, dass dieses Tribunal nur ein eitles Trugbild ist, das die Proskription verhüllen soll; deshalb zögert niemand, den Ausschuss für unsere täglichen Schlächtereien verantwortlich zu machen. Robespierre predigt zwar bei den Jakobinern gegen die Nachsicht, hütet sich aber trotzdem, an einer der Sitzungen teilzunehmen, in denen das künftige Kontingent für die Guillotine festgelegt wird; mit anderen Worten, er überlässt seinen Kollegen die verhasste Proskriptorenrolle und hat vor, eines Tages seine unbefleckten Hände vorzuweisen, trotz all des vergossenen Blutes. Die anderen haben diese Taktik durchschaut; zuerst erschraken sie, dann suchten sie die Waffe, die er ihnen überlassen hatte, um sie zu vernichten, gegen ihn zu wenden. Sie machten viel Aufhebens um den Prozess, der der Prozess gegen die Mörder Robespierres genannt wird, als ob nicht auch Collot betroffen wäre; und während sie ihn durch den Pomp und das Aufsehen, mit dem sie seine Mörder hinrichten, als einen hinstellen, der nach der Alleinherrschaft strebt, haben sie gleichzeitig versucht, sein Ansehen zu untergraben, das die Stärke des ‚Unbestechlichen‘ ausmacht.

Sie zogen in den Fall zwei Frauen namens Saint-Amaranthe mit hinein, zu denen der jüngere Bruder Robespierres Beziehungen unterhielt, und brachten verschiedene Gerüchte in Umlauf: Eine dieser Frauen wäre die Maîtresse von Maximilien gewesen, und er hätte ihren Kopf gefordert, weil sie bei einer Orgie sein geheimes Verlangen nach der Krone erkannt hätte; die andere, ihre Tochter, dagegen würde auf die Guillotine geschickt, weil sie die Anträge von Saint-Just zurückgewiesen hätte.

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