Das Pulver

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Gerüchte
1

Die Marquise von Brinvilliers wusste sehr wohl, was auf dem Spiel stand. Da sie endlich einsehen musste, dass man ihr die Kassette nicht aushändigen werde, traf sie schon die ersten Vorkehrungen zur Abreise. Wie überstürzt sie dabei vorging, davon konnte sich ihr Sachwalter Delamarre selbst ein Bild machen, als er gegen zehn Uhr abends nach Picpus kam und den größten Teil des Mobiliars mitnahm, von dem man in aller Eile einige Teile einfach zum Fenster hinauswarf: Der Boden brannte der Marquise unter den Füßen.

Dennoch berief sie noch die beiden Gerichtsdiener Cluet und Creuillebois zu sich nach Picpus, schlug aber jetzt einen anderen Ton an. Statt erneut auf der Herausgabe der Kassette zu beharren, ein aussichtsloses Unterfangen, änderte sie ihre Taktik. Sainte-Croix sei durchaus fähig gewesen, Briefe zu fälschen, zum Schaden anderer wie zu ihrem, versuchte sie ihnen einzureden. Aber sie werde nicht alles tatenlos hinnehmen, sie habe gute Freunde.

Auch die Witwe von Sainte-Croix, die sie in Picpus aufsuchte, überraschte sie mit ihrer neuen Sicht der Lage. Eigentlich habe sie ja mit dieser so streng geheim gehaltenen Kassette nichts zu schaffen, meinte sie leichthin, sie könne ohnehin nur wertlosen Kram enthalten. Schon lange habe sie nämlich ihre Beziehungen zu Sainte-Croix abgebrochen, was sicherlich auch ihr, der Ehefrau, längst zu Ohren gekommen sei. Allerdings, die Marquise hob ihre Stimme, allerdings gebe es da einige gefälschte Briefe, womit man sie womöglich in Schwierigkeiten bringen könne, doch sie werde sich schon zu rechtfertigen wissen.

Um die von ihr in die Welt gesetzte Ansicht zu verbreiten, ihre Angelegenheit sei eng mit jener des Obersteuereinnehmers Pennautier verknüpft, fuhr sie fort: „Wenn auf mich schließlich doch einige Tropfen herabfallen sollten, dann wird es auf Pennautier in Strömen regnen.“

Die Witwe Sainte-Croix wusste sich keinen Reim darauf zu machen. Fast wortlos hatte sie die Ausführungen zur Kenntnis genommen und stellte der einstigen Geliebten ihres verstorbenen Mannes auch keine weiteren Fragen. Die Sache lag jetzt in den Händen der Justiz.

Auf die Verwicklung Pennautiers in die noch undurchsichtige Sachlage kam die Marquise von Brinvilliers auch zu sprechen, als eine Frau Fausset, die Gattin eines Kanzlisten, ihr über laut gewordene Gerüchte von Giftmorden berichtete, mit denen die Frau Marquise in Zusammenhang gebracht wurde.

„Das kommt alles schon wieder in Ordnung“, erwiderte die Verdächtigte scheinbar ungerührt, „ich kenne nämlich da jemanden, der gleichzeitig mit mir angeklagt ist und gern seine vier- bis sechstausend Livre opfern wird, um sich aus der Affäre zu ziehen. Er ist zwar nicht von Adel, aber sehr reich.“

Die Ereignisse überschlugen sich. Bereits am elften August entfernte der Zivilrichter die Siegel von der Kassette. Frau von Brinvilliers, die nicht erschienen war, ließ sich von ihrem Anwalt vertreten, der in ihrem Namen folgende Erklärung abgab:

„Dass, im Falle sich ein Schuldschein über den Betrag von dreißigtausend Livre von Madame de Brinvilliers vorfinden sollte, dies ein ihr abgelistetes Schriftstück sei; sollte die Unterschrift sich als gültig erweisen, habe sie im Sinne, einen Prozess anzustrengen, damit diese für null und nicht erklärt werde.“

Über die Fläschchen und Beutelchen mit verschiedenen Flüssigkeiten und Pulvern, die man in der Kassette vorgefunden hatte, verlor er kein Wort. Dafür befasste sich die Justiz desto eingehender damit; harmlos, so argwöhnte man, dürften sie wohl kaum sein, und beauftragte mehrere Ärzte mit der Analyse. Das von Sainte-Croix entwickelte Gift, so hieß es im Abschlussbericht, hätte sich trotz aller Versuche, die man damit unternommen hatte, nicht eindeutig bestimmen lassen. Es war so versteckt, dass man es nicht erkennen konnte, so fein, dass es sich aller ärztlichen Kunst entzog. Die gewöhnlichen Experimente mit Giften wurden üblicherweise entweder mit den Elementen oder mit Tieren angestellt. Im Wasser, so hatte man herausgefunden, fällt das Gift infolge seiner Schwere zu Boden; es präzipitiert sich, das heißt, es schlägt sich nieder und sinkt unter. Im Feuer wird alles Fremdartige und Unschädliche davon abgesondert und verzehrt, es bleibt nur eine scharfe, bittere Materie zurück. An den Tieren bemerkt man seine Spuren durch den ganzen Körper; es verbreitet sich durch alle Teile, durchdringt alle Gefäße, verbrennt und zernagt alle Eingeweide.

Bei den Giften von Sainte-Croix wurden die Erfahrungen nichtig, die Regeln ungewiss und die Lehrsätze lächerlich. Sie schwammen auf dem Wasser; ließen in der Feuerprobe bloß eine süße, unschädliche Materie zurück und lagen in den tierischen Körpern so künstlich versteckt, dass man sie unmöglich erkennen konnte. Man hatte alle Arten von Versuchen damit angestellt. Zuerst goss man aus einer der Flaschen einige Tropfen in Weinsteinöl und in Seewasser; allein es fällte sich chemisch gar nichts aus und schlug sich auf den Boden des Gefäßes nieder, worin man den Versuch machte.

Einen anderen Versuch machte man damit, dass man dasselbe Wasser in ein Gefäß voll heißen Sandes goss; doch es blieb keine scharfschmeckende Materie auf dem Sand zurück.

Der dritte Versuch wurde mit einem jungen indischen Huhn, einer Taube und einem Hund durchgeführt. Diese Tiere starben gleich darauf. Als man sie aber am folgenden Tag öffnete, fand sich weiter nichts als ein wenig geronnenes Blut in der Herzkammer.

Noch ein Experiment machte man mit einem der weißen Pulver an einer Katze, der man etwas davon in Schafdärmen beibrachte. Sie spie eine halbe Stunde lang, und am anderen Tag fand man sie tot. Man sah aber bei ihrer Öffnung kein einziges Organ vom Gift angegriffen.

Ein zweiter Versuch mit demselben Pulver wurde an einer Taube vorgenommen, die auch kurze Zeit darauf starb. Bei der Öffnung fand man nichts weiter als etwas rötliches Wasser im Magen.

Zwar hatte man die Substanzen nicht wissenschaftlich einwandfrei analysieren können, aber die verendeten Tiere belegten eindeutig: Es war Gift, wie die Experten einhellig feststellten, doch genauere Angaben konnten sie nicht machen.

Chemikalien im Laboratorium eines Alchimisten waren nichts Ungewöhnliches, Gift dagegen nicht gerade alltäglich, erst recht nicht in einer verschlossenen Kassette, versteckt in einem Geheimfach.

Doch was hatten in diesem Zusammenhang die von Pennautier, dem ehrbaren Obersteuereinnehmer des Klerus, ausgestellten Schuldscheine, unterschrieben von der Marquise, darin zu suchen?

Und noch merkwürdiger: Warum hatte der Erblasser ausdrücklich verfügt, die Kassette samt Inhalt „persönlich der Frau Marquise von Brinvilliers“ zu übergeben, „in Anbetracht dessen, dass alles, was sie enthält, nur diese allein angeht und ihr allein gehört und überdies niemandem von Nutzen wäre, ihr eigenes Interesse ausgenommen“?

Was hatte es mit dem einen Brief unter den vielen anderen auf sich, den die Marquise ihrem einstigen Geliebten geschrieben hatte: „Entschlossen, meinem Leben ein Ende zu machen, habe ich diesen Abend etwas von dem genommen, was mir Ihre freundschaftliche Hand mitgeteilt hat. Es ist ein Rezept von dem Apotheker Glaser. Sie sehen, dass ich für Sie mein Leben opfern kann. Aber ich gebe den Wunsch nicht auf, Sie vielleicht noch einmal an einem bestimmten Ort zu sprechen, um Ihnen das letzte Lebewohl zu sagen.“ Trotz dieser Ankündigung hatte sie damals ihrem Leben kein Ende gesetzt - warum nicht? Warum hatte sie die Drohung überhaupt ausgesprochen? War es vielleicht nur einer der üblichen Erpressungsversuche unter aufgebrachten Liebenden, ein Signal zur Versöhnung an den Partner? Wenn sie Verbündete gewesen waren, und dafür sprach so manches, nicht zuletzt das Wissen der Marquise über Sainte-Croix’ Giftexperimente, musste es dann nicht auch Zeiten gegeben haben, in denen nicht das innigste Einverständnis zwischen ihnen geherrscht hatte, sondern Abneigung oder gar Hass? Doch warum?

Fragen über Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gab, und so schossen die Spekulationen wild ins Kraut. Was man sich anfangs über die Marquise de Brinvilliers und Pennautier nur unter vorgehaltener Hand zuraunte, wurde bald ganz offen das Thema aller Unterhaltungen in Paris. Über die Gifte kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte, eines ausschweifender und ungeheuerlicher als das andere.

Die Marquise sah die Stunde gekommen, dem Obersteuereinnehmer einen Besuch abzustatten. Sie fuhr jedoch zur falschen Zeit bei ihm vor: Er war nicht zu Hause. Zwar hatte sie sich energisch Einlass verschafft, aber schon nach den ersten Worten schob Frau Pennautier den ungebetenen Gast an den Schultern zur Tür hinaus, eine Giftmörderin duldete sie nicht unter ihrem Dach.

Der Obersteuereinnehmer machte später seiner Frau Vorhaltungen über ihr unhöfliches und völlig unangebrachtes Benehmen. Was sind schon Gerüchte, meinte er, nichts als dummes Geschwätz. Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist, und am meisten über Dinge, von denen sie im Grunde nichts wissen.

Er kannte die Marquise de Brinvilliers, eine ungewöhnlich kleine und zartgebaute Person mit vollem, kastanienbraunem Haar und großen, sprechenden Augen, deren Blau von der auffallend weißen Haut ihres runden Gesichts vorteilhaft abstach. Kein einziger unangenehmer Zug war darin zu erkennen. Sie schien ihm eine durchaus ehrenhafte Natur zu sein, nicht leicht erregbar, ein lebhafter, durchdringender Geist, der alles rasch erfasste und richtig, mit wenigen Worten, aber genau zutreffend auszudrücken wusste. Nie und nimmer konnte er sich vorstellen, dass eine so entzückende, hübsche Dame eines solchen Verbrechens fähig sei.

Mit dem guten Vorsatz, das Unrecht, das ihr seiner Meinung nach geschehen war, wieder gutzumachen, ging er nach Picpus, um, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, der Marquise seine Aufwartung zu machen. Er dachte dabei auch an die Zeit, als er vorübergehend selbst in Schwierigkeiten gewesen war und Herr und Frau von Brinvilliers ihm durch eine Anleihe von dreißigtausend Livre einen Dienst erwiesen hatten. Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, der Marquise zu beweisen, dass er jene Gefälligkeit nicht vergessen hatte.

 

Pennautier hatte, kaum fünfunddreißigjährig, schon ein riesiges Vermögen gemacht, dank seiner beiden Ämter als Obersteuereinnehmer der Geistlichkeit und als Schatzmeister der Börse von Languedoc, die ihm jährlich Hunderttausende eintrugen. Vom einfachen Kassierer hatte er sich zum enorm reichen Mann emporgearbeitet und galt trotz seines noch jugendlichen Alters als einer der intelligentesten Beamten des Finanzministers Colbert. Ob es sich um die Wiedereinführung der Fabrikation französischer Tuche handelte oder um den Kanal von Languedoc, ob um den Ankauf griechischer Schriften im Orient oder um die Trockenlegung der Sümpfe von Aigues-Mortes - bei allen nützlichen Unternehmungen war der Name Pennautier mit jenem des französischen Finanzministers verknüpft. P. L. Reich von Pennautier - Pennautier, so hieß ein Besitztum bei Carcassonne - war von kleiner, schmächtiger Statur, sehr galant und freigebig, immer wohlerzogen und gefällig, hatte viel Verstand und spielte eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft.

Den Eindruck eines galanten Ritters hinterließ er auch bei der Marquise von Brinvilliers, die mit seinem Besuch hochzufrieden sein konnte.

2

Zu einem Besuch ganz anderer Art lud der Zivilrichter die beiden am zweiundzwanzigsten August zu seinem Amtssitz ein, um mit ihnen gemeinsam die Papiere zu prüfen, die man in der Kassette gefunden hatte. Doch Pennautier konnte der Vorladung nicht folgen, er hielt sich zu der Zeit auf dem Land auf; und die Marquise von Brinvilliers wollte ihr nicht folgen, sie ließ sich wieder durch ihren Sachwalter vertreten, der ihre Forderung auf Herausgabe des Kästchens samt Inhalt wiederholte.

Zur allgemeinen Überraschung meldete sich aber bei der Justizbehörde ein ihr bis dahin unbekannter Mann, der sich als langjähriger Diener des verstorbenen Sainte-Croix ausgab: La Chaussée. Frechheit siegt, sagte er sich. Gewohnt, krumme Wege zu gehen, steuerte er diesmal geradewegs aufs Ziel los. Mit der Dreistigkeit des abgebrühten Spitzbuben glaubte er, in der noch reichlich verworrenen Sachlage leichtes Spiel zu haben, und erhob Einspruch gegen die Beschlagnahme der Habseligkeiten seines ehemaligen Herrn. Sieben Jahre habe er in dessen Dienst gestanden, betonte er und behauptete, noch viel Geld von ihm zu bekommen,

Außerdem habe er ihm zur Aufbewahrung zweihundert Pistolen und hundert Silbertaler gegeben, die hinter dem Fenster des Kabinetts liegen müssten, und zwar in einem Leinenbeutel mit der schriftlichen Versicherung von Sainte-Croix, dass dieser Betrag tatsächlich ihm gehöre. Ferner werde man an derselben Stelle eine Abtretung von dreihundert Livre, ausgestellt auf einen gewissen La Serre, vorfinden, die er von dem verstorbenen Rat d’Aubray erhalten habe, sowie drei Quittungen von seinem Herrn, jede über hundert Livre. Sämtliche Papiere und Geldbeträge verlange er zurück.

Alles in allem nicht gerade unerhebliche Ansprüche, die er als Diener da geltend macht, dachte der Kommissar, der keinen Augenblick lang daran zweifelte, dass er einen Gauner vor sich hatte, der sich das alles nur aus den Fingern sog. Wofür sollte sein Dienstherr ihn so fürstlich entlohnt haben mit Münzen aus Gold und Silber? Weil er zu viel wusste und darüber unbedingt den Mund halten sollte? Oder war es Geld, mit dem andere, in dunkle Machenschaften verstrickte Mitwisser, sein Schweigen erkauft hatten? Auf all diese Fragen blieb La Chaussée eine überzeugende Erklärung schuldig, allein schon sein wenig vertrauenerweckendes Gesicht, der unruhige, gierige Blick seiner Habichtsaugen machten den Kommissar stutzig. In seiner langjährigen Berufserfahrung roch er geradezu einen Verbrecher schon von weitem. Nein, das Ganze kam ihn nicht geheuer vor.

In seiner Einschätzung fand sich Picard bestätigt, als er mit La Chaussée das Laboratorium von Sainte-Croix betrat, um nach dem Leinenbeutel mit den Gold- und Silbermünzen zu suchen. Die genaue Ortskenntnis, die der Diener bei der Besichtigung bewies, erregte den Verdacht des Kommissars. Wer sich hier so gut auskennt, mutmaßte er, der weiß auch sicherlich mehr, was hier möglicherweise alles geschehen und bis heute geheim gehalten worden ist. Denn es war anzunehmen, dass nur vertrauteste Freunde Zutritt zu diesem Kabinett hatten, und man konnte nicht der Vertraute eines solchen Menschen sein, ohne an dessen Verbrechen Anteil zu haben. Darin fühlte er sich noch bestärkt, als der ehemalige Diener des Alchimisten wieder auf verschiedene Papiere zu sprechen kam, die in einem roten Kästchen lägen und ihm zuständen. Doch kaum hatte Picard ihm mitgeteilt, dass die Kassette vor dem Versiegeln geöffnet worden sei und man über den Inhalt genau Bescheid wisse, verlor La Chaussée für einen Augenblick die Fassung, um dann, zur Verwunderung des Kommissars schleunigst das Weite zu suchen. Noch am gleichen Tag verließ er seinen neuen Arbeitgeber, einen Bader, in dessen Dienst er getreten war, und irrte, das Tageslicht scheuend, nachts in Paris umher, bis er am vierten September 1672 morgens um sechs Uhr von dem Polizeioffizier Thomas Régnier erkannt und verhaftet wurde. Bei seiner Festnahme fand man Gift bei ihm.

Nach dem Verhör des Verhafteten erhärteten sich die bisher noch ungesicherten Verdachtsgründe gegen die Marquise von Brinvilliers, doch zögerte man aus Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Stellung, sie gleichfalls festzunehmen. Um ihr auf den Zahn zu fühlen und dadurch mehr Gewissheit zu erlangen, suchte Régnier sie in Picpus auf und berichtete ihr ohne Umschweife, dass er La Chaussée hinter Schloss und Riegel gesetzt habe.

„Er hat gesungen, wie es in Ganovenkreisen heißt“, erklärte er, „und von Kommissar Picard habe ich zudem so mancherlei erfahren.“

Dem Polizeioffizier entging nicht, dass Frau von Brinvilliers errötete, sich aber schon im nächsten Augenblick wieder fing.

„Nun, Frau Marquise, was sagen Sie dazu?“

„Was interessiert mich das Geschwätz von diesem Individuum, diesem..., wie heißt er auch noch? Haben Sie deswegen den weiten Weg zu mir gemacht, um mir das mitzuteilen, Monsieur? Gibt es nichts Wichtigeres auf der Welt? Lassen Sie uns von was anderem reden“, schlug sie vor und wusste gleich selbst das Gespräch auf andere Dinge zu bringen und ihn zu ersuchen, sie in die Messe zu begleiten.

Auf dem Weg dorthin und in der Kirche hielt sich Régnier mit weiteren Fragen zurück. Nach Hause zurückgekehrt, war es die Marquise selbst, die wieder anfing, als sie auf die Kassette zu sprechen kam und auf die Willkür der Justiz, ihr nicht das zu geben, was ihr gehöre.

Der Polizeioffizier, der ihre Unruhe bemerkte, sagte wie leichthin: „Aber, Frau Marquise, die Sache mit der Kassette ist doch, wie Sie wissen, längst erledigt.“

„Für mich nicht!“

„Warum machen Sie sich darüber so viele Gedanken? Sind Sie denn in irgendeiner Weise an der Sache beteiligt?“

„Beteiligt - ich? Woran und weshalb?“

„Weil dieser Spitzbube, dieser La Chaussée, sich dem Kommissar Picard gegenüber um ein Haar verraten hätte“, erklärte Régnier und sah sie dabei scharf an. „Er schien nämlich etwas über Sie sagen zu wollen und wird es wohl auch noch sagen, spätestens wenn er erst mal vor Gericht steht und sich reinzuwaschen versucht.“

„Man müsste den Kerl auf die Galeere schicken“, meinte die Marquise erregt, wobei sich ihre Züge einen Wimpernschlag lang krampfhaft verzerrten, und führte dann das Gespräch wieder auf die Kassette zurück. „Wenn Sie wüssten, wie oft ich Sainte-Croix gebeten habe, sie mir zu geben. Hätte er es getan, dann wäre jetzt jede Diskussion darüber überflüssig. Übrigens hat auch Herr Pennautier etwas damit zu tun, die Sache geht also uns beide an.“

Wieso, sagte sie nicht, und Régnier fragte auch nicht weiter danach, die Untersuchungen standen erst am Anfang und darüber würde der Kommissar den Obersteuereinnehmer wohl noch vernehmen. Er selbst machte sich auf den Weg nach Aubervilliers, um Briancourt aufzusuchen. Es wäre sicherlich aufschlussreich zu beobachten, malte er sich aus, wie der ehemalige Lehrer im Haus der Marquise und ihr enger Vertrauter, für den er sich bei der vergeblichen Herausgabe der Kassette ausgegeben hatte, auf die Nachricht von der Verhaftung La Chaussées reagieren würde. Das Ergebnis war noch überraschender, als er sich das in seinen kühnsten Erwartungen hätte vorstellen können: Denn kaum hatte Régnier ihm ohne lange Vorrede die Festnahme berichtet, als Briancourt auch schon den Schreckensschrei ausstieß: „Nun ist sie verloren!“ Jetzt gab es kein Halten mehr, der Damm des Schweigens war gebrochen. Was ihn all die Jahre seelisch gequält und sein Gewissen belastet hatte, schüttete er nun alles vor dem Polizeioffizier aus. Er erzählte ihm von den verschiedenen Giften, die Madame de Brinvilliers im Hause verwahre und über die sie sich oft mit ihm unterhalten habe.

Unterdessen hatte die Witwe des einstigen Oberrichters Antoine d’Aubray und Schwägerin der Marquise erfahren, dass ihr Gatte wirklich an einer Vergiftung gestorben war, so wie die Ärzte es bereits seinerzeit vermutet hatten. Niedergeschmettert über diese Bestätigung eilte sie nach Paris und erwirkte auf ihr am zehnten September eingereichtes Gesuch die Genehmigung, als Privatklägerin gegen La Chaussée und Frau von Brinvilliers aufzutreten. Der niederträchtige Mord an ihrem Mann sollte nicht ungesühnt bleiben.

Wer bisher noch an die Unschuld der Marquise von Brinvilliers geglaubt hatte, wurde spätestens jetzt eines Besseren belehrt: Hals über Kopf hatte sie Frankreich verlassen und sich nach England geflüchtet, ohne Begleitung ihrer Dienstboten außer einem Küchenmädchen. Diese überstürzte Flucht bei Nacht und Nebel bestätigte jeden Verdacht.

Somit stand La Chaussée allein vor Gericht - zunächst jedenfalls.