Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen

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Aus der Reihe: Language Development #40
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3.1.2 „Heritage Language“ im Vergleich zu anderen Bezeichnungen

Parallel zu dem Ausdruck „Heritage Language“ werden in der angloamerikanischen Forschungsliteratur mehrere andere Fachbegriffe verwendet, die sich zwar (meist) auf dieselbe Sprechergruppe beziehen, aber stets einen anderen Fokus aufweisen. Beispielsweise entwickelte sich ebenfalls in den 1970er Jahren in Australien der Fachausdruck „Community Language“. Dieser ist bis heute im australischen Kontext vorherrschend1 und bezeichnet gleichermaßen „languages other than English and Aboriginal languages“ (Clyne 1991: 3). Er unterstreicht die enorme Bedeutung der Community für die Vitalität und den Erhalt dieser Sprachen. Wie es sich zur gleichen Zeit in Kanada und in den USA zeigte, wurde die HL-Bewegung von den Sprechern, die den Erhalt ihrer Sprachen durch Lernangebote sicherstellen wollten, selbst initiiert (vgl. Fishman 2001: 87f.). Diese Verankerung der Sprache im Privaten bzw. in der Gemeinde wird durch den Ausdruck „Community Language“ aufgegriffen. Im Gegensatz hierzu bezieht sich der Begriff „Heritage Language“ ausdrücklich auf das Individuum und seine persönliche, geschichtlich hergeleitete Verbindung zu einer bestimmten Sprache.

Im Verlauf der letzten 50 Jahre war zudem ein steter Gebrauch des Terminus „Home Language“ zu verzeichnen. Dieser wurde zunächst in psychologischen, pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Studien wegen seiner Alltagsnähe und Zugänglichkeit meist ohne weitere Spezifizierung ebenfalls für allochthone wie autochthone Minderheitensprachen verwendet (vgl. bspw. Clyne & Kipp 1997; Scheele et al. 2010; Quiroz et al. 2010). In den letzten 15 Jahren findet er auch vermehrt Eingang in linguistische Studien, insbesondere wenn der Fokus dieser auf früher Mehrsprachigkeit oder familiärer Sprachpolitik liegt.2 Er soll dabei den Blick auf solche Sprachen lenken, die ausschließlich innerhalb der Familie erworben und gesprochen werden, und legt den Schwerpunkt auf die Erwerbsperiode vor dem Eintritt in eine Bildungsinstitution: „[…] we use the term home language as the language acquired by the child through immersion at home, usually the language the child knows best before going through child care or school“ (vgl. Eisenchlas et al. 2013: 2, Hervorhebung i.O.).

Zusätzlich zur Einschränkung bezüglich des betrachteten Zeitpunkts unterscheidet sich „Home Language“ von dem Begriff „Heritage Language“ durch eine ausformulierte Erwartung an die Kompetenz des Sprechers. Während der Terminus „Heritage Language“ keinerlei Aussagen über die Kenntnisse einer Sprache macht und sich sowohl auf balanciert Mehrsprachige als auch auf passive Sprecher beziehen kann, beschreibt der Ausdruck „Home Language“ eine Dominanz in der jeweiligen Minderheitensprache. Gleichzeitig betont er die entscheidende Rolle der Bildungsinstitutionen, in denen die Mehrheitssprache vermittelt wird, denn diese haben in vielerlei Fällen eine Umkehr der Sprachdominanz eines Kindes zur Folge.

Andere Begriffe, die im gleichen geographischen Raum bisher für diese Sprechergruppe verwendet wurden, sind beispielsweise „semi-speakers“ (Dorian 1981), „quasi-native speakers“ (He 2010) oder „incomplete acquirers“ (Montrul 2002). Diese Beispiele könnten mit weiteren, ähnlichen Ausdrücken fortgesetzt werden. Sie fokussieren jedoch eine Nicht-Kompetenz und formulieren eine Abgrenzung zu den Sprachkenntnissen Monolingualer, die erkennbar die Zielfolie darstellen. Hierdurch spiegeln sie die offenbar nach wie vor bestehende und bereits von Grosjean (1989) kritisierte Vorstellung von Bilingualen als der Entsprechung von zwei Monolingualen wider und sind deshalb abzulehnen.

In Deutschland wird „Heritage Language“ oftmals mit „Herkunftssprache“ übersetzt und gleichgesetzt (vgl. Brehmer & Mehlhorn 2015a: 3). Dies ist gleichwohl zu hinterfragen, da der Begriff „Herkunftssprache“ die im Herkunftsland gesprochene Varietät bezeichnet (vgl. Lüttenberg 2010: 306), und gerade diese ist es nicht, die die Sprecher im Einwanderungsland sprechen oder ungesteuert erwerben (vgl. Schroeder 2003: 32f.). So beschreibt Schroeder beispielsweise das in Deutschland gesprochene Türkisch als eine in der Diaspora neu entstandene Varietät. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Merkmale des gesprochenen Türkisch und der Kontaktsprache Deutsch grammatikalisiert werden, ein Abbau von Dialektunterschieden stattfindet, dass also Besonderheiten anatolischer Dialekte erster Einwanderer von anderen Sprechern übernommen werden, und dass sprachliche Anpassungen erfolgen, die die Integration von deutschen Lexemen in das Türkische erleichtern (vgl. ebd.). Diese Neuerungen entstehen hingegen nicht im Türkei-Türkischen, das als Standardvarietät – als Herkunftssprache – weiterhin primär im herkunftssprachlichen Unterricht vermittelt wird. Hier ist folglich ebenfalls ein deutlicher Unterschied zum Terminus „Heritage Language“ zu verzeichnen, der sich auf keine bestimmte Varietät bezieht, sondern diejenige Sprache bezeichnet, zu der der Sprecher eine persönliche, familiär bedingte Beziehung aufweist (vgl. Lo Bianco & Peyton 2013: i), sei es ein Dialekt, eine regionale Minderheitensprache oder die offizielle Amtssprache eines Landes.3

Im europäischen – und speziell im deutschen – Kontext existiert zwar bislang keine Forschung explizit unter dem Schlagwort „Heritage Languages“ (vgl. Kupisch 2013: 206), jedoch ist das Thema Erhalt von allochthonen Minderheitensprachen seit den 80er Jahren intensiv unter den Begriffen „simultane“ und „sukzessive Mehrsprachigkeit“ erforscht worden (vgl. Cantone et al. 2008; De Houwer 1990; Eichler et al. 2013; Meisel 1989; 2001; Müller et al. 2002). Die meisten dieser Studien betrachten das Aufwachsen mehrsprachiger Kinder unter der OPOL-Strategie (One Person – One Language; vgl. Romaine 1995) im Alter von ca. zwei bis fünf Jahren und beschäftigen sich mit den Aspekten Alter bei Erwerbsbeginn und Sprachdominanz. Selbstverständlich schließt der Begriff „Heritage Languages“ auch die in diesen Studien betrachteten Minderheitensprachen ein. Die Erforschung von HLs findet in Deutschland also zu einem großen Teil unter einer anderen Bezeichnung statt und ist stark auf einen bestimmten Altersausschnitt der kindlichen Mehrsprachigkeit fokussiert.

Vor allem in soziologischen und sozio-linguistischen Studien wird zur Beschreibung des HL-Kontextes der Ausdruck „Minderheitensprache“ bzw. seine englische Entsprechung „minority language“ verwendet. Dieser ist entgegen der vorgebrachten Kritik (vgl. Wiley 2001: 34) ein neutraler Begriff, der nicht die betrachteten Sprachen in Bezug auf ihren Wert einordnet (im Sinne von minderem oder höherem Wert). Er legt vielmehr den Fokus auf den Aspekt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und auf die Grenzziehung zwischen Minderheit und Mehrheit (vgl. Montrul 2013: 169). Mehrheit wird hierbei nicht durch zahlenmäßige Überlegenheit bestimmt, sondern durch politische und gesellschaftliche Dominanz einer Gruppe, durch Zugangsmöglichkeiten dieser zu Bildung und anderen sozio-kulturellen Ressourcen sowie durch die Vormachtstellung ihrer Mitglieder in höheren gesellschaftlichen Schichten (vgl. Brizić 2007: 66). In Bezug auf Sprache hieße dies, dass diejenige Sprache, die in einem Staat das größte Prestige aufweist und deren Beherrschung in ökonomisches und kulturelles Kapital übersetzt werden kann, als Mehrheitssprache definiert werden kann. Alle in Deutschland gesprochenen HLs sind demzufolge auch als Minderheitensprachen zu betrachten, da sie nicht über denselben Stellenwert wie die Mehrheitssprache Deutsch verfügen (s. Abschnitt 2.1).

3.1.3 Arbeitsdefinition des Begriffs „Heritage Language“

In der hier vorliegenden Studie wird in Ermangelung eines entsprechend etablierten deutschsprachigen Ausdrucks1 der Begriff „Heritage Language“ verwendet. Dabei werden die anfangs zitierten Definitionen jedoch nicht uneingeschränkt übernommen, sondern ausschließlich mit Blick auf allochthone Minderheitensprachen. Diese Spezifizierung erfolgt aufgrund der bereits erwähnten Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen in Bezug auf ihren rechtlichen Status, ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und das damit verbundene Sprachprestige, ihren Zugang zu Institutionen schulischer Bildung und Unterricht sowie die identitätsbezogene Selbstzuordnung ihrer Sprecher. Zur Abgrenzung des Arbeitsgegenstandes dieser Studie sei eine HL dementsprechend eine allochthone Minderheitensprache, die im Vergleich zur Mehrheitssprache im Einwanderungsland über kein bis wenig Prestige verfügt, keine bis wenig gesellschaftlich-institutionelle Unterstützung erfährt und die aufgrund einer familiären Migrationshistorie intergenerational im Sinne eines sprachlichen Erbes weitergegeben wird (vgl. Benmamoun et al. 2010: 8; Polinsky & Kagan 2007: 369). Obwohl die Begriffe „Community Language“, „Home Language“ und „Herkunftssprache“ ebenfalls auf dieselbe sprachliche Konstellation verweisen wie „Heritage Language“, erweisen sie sich als weniger geeignet, da mit ihnen das Augenmerk auf andere Aspekte gelegt wird als in der vorliegenden Studie, d.h. auf die Rolle der Gemeinde für den Erhalt der Minderheitensprache, auf die innerfamiliäre Sprachpolitik und die frühe Phase des mehrsprachigen Spracherwerbs bzw. auf die im Herkunftsland gesprochene Varietät ohne Sprachkontakteinflüsse.

3.2 Charakteristika des Heritage-Language-Sprechers

Gemäß den oben skizzierten Kriterien einer HL bezeichnet der Begriff „HL-Sprecher“ folglich Mehrsprachige, die von früher Kindheit an im Elternhaus simultan zur Mehrheitssprache oder sukzessiv vor der Mehrheitssprache eine HL erwarben. Diese mehrsprachige Konstellation ist von einigen spezifischen Merkmalen gekennzeichnet, die sich als typische Charakteristika des HL-Erwerbs aus den bisherigen Forschungsergebnissen extrahieren lassen und ihn sowohl von monolingualem Erwerb als auch von anderen Typen der Mehrsprachigkeit unterscheiden. Sie werden zur Bestimmung der Stichprobe in dieser Arbeit herangezogen (vgl. Polinsky 2015a: 9).

 

3.2.1 Spezifische Bedingungen des Heritage-Language-Erwerbs

(1) Der Erwerb findet unter anderen Bedingungen statt als bei einem monolingualen Kind. Im Elternhaus ist der HL-Sprecher mit einer allochthonen Minderheitensprache in Kontakt gekommen, die im Einwanderungsland nicht von der Mehrheitsgesellschaft gesprochen, für gewöhnlich nicht in Bildungsinstitutionen gelehrt wird und nur über wenig gesellschaftliches Prestige verfügt. Der Spracherwerb geschieht also von Anfang an in einer Sprachkontaktsituation als Aushandlung zwischen Mehrheits- und Minderheitensprache (vgl. Pauwels 2004: 719f.). Der Input in der HL erfolgt dabei durch bilinguale Personen, die zwar in der Minderheitensprache stark dominant sein können, aber auch zumindest über geringe Kenntnisse in der Mehrheitssprache verfügen, sodass sich bei HL-Sprechern vom Erwerb einer Kontaktvarietät sprechen lässt (vgl. ebd.; Montrul 2016: 24; Schroeder 2003: 33). Dieser Aspekt wird bei frühem Einreisealter und mit zunehmender Aufenthaltsdauer der Eltern von HL-Sprechern im Einwanderungsland prominenter.

(2) Der Spracherwerb wie der Sprachgebrauch des HL-Sprechers sind affektiven Einflüssen unterworfen. Da die Familie die vorrangige Domäne der HL bildet, ist sie nicht nur der Ort des Spracherwerbs, sondern hier werden für den HL-Sprecher gleichsam emotionale Bezüge zu der Sprache als familiär „ererbte“ Sprache hergestellt. Polinsky (2015a: 7) spricht gar davon, dass der HL-Sprecher sich in erster Linie über eine affektive oder kulturelle Verbindung zu der Minderheitensprache auszeichnet, seine Sprachkompetenz indes stärker in der Mehrheitssprache ausgeprägt ist. Spätestens ab dem Schuleintritt findet eine erste emotionale Auseinandersetzung mit der HL statt, da hier dem HL-Sprecher bewusst wird, dass er sich von der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf seine HL-Kenntnisse unterscheidet und zu einer sprachlichen Minderheit gehört (vgl. Polinsky 2015a: 9). Eine vertiefte Verarbeitung dieses „sprachlichen Erbes“ erfolgt häufig in der Pubertät, da zu diesem Zeitpunkt ohnehin identitätsbezogene Aspekte hinterfragt werden (vgl. Tse 2000: 188f.). Sie kann sowohl in eine verstärkte Beschäftigung mit der HL-Kultur und -Sprache als Erwachsener münden, als auch in einer kompletten Ablehnung dieser resultieren (vgl. Montrul 2016: 121). Negative Gefühle in Verbindung mit der HL erfahren HL-Sprecher ferner, wenn sie von anderen, kompetenteren Sprechern für ihre Kenntnisse verurteilt werden, falls sie nicht der im Herkunftsland gesprochenen Norm entsprechen und als defizitär angesehen werden. Dieses Phänomen wird in der HL-Forschung unter der Bezeichnung „Sprachscham“ (vgl. ebd.) untersucht.

(3) Die Sprachdominanz eines HL-Sprechers kann sich im Laufe seines Lebens ändern. Während der Kindheit ist die HL häufig seine dominante, also die weiter entwickelte Sprache (vgl. Müller et al. 2011: 65), was sich hingegen mit dem Eintritt in die Schule ändert. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird die Umgebungssprache stark dominant, da in ihr die gesamte institutionelle Kommunikation verläuft (vgl. Montrul 2016: 42). Die Alphabetisierung eines HL-Sprechers erfolgt ebenfalls ausschließlich oder vorwiegend in der Mehrheitssprache, was diese zusätzlich relativ zur Minderheitensprache stärkt (vgl. Polinsky 2015a: 12). Als Jugendliche oder Erwachsene wenden sich HL-Sprecher nicht selten wieder der HL zu und verspüren den Wunsch, ihre Kenntnisse weiter auszubauen und zu verfestigen.

(4) Der Gebrauch einer HL ist nicht in allen Domänen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zulässig, sodass die Familie nicht nur die primäre sprachliche Sozialisationsinstanz, sondern auch den vorwiegenden Kontext des HL-Gebrauchs darstellt. Dies hat zur Folge, dass der HL-Sprecher in erster Linie orate Strukturen, die für dieses intime Register1 bezeichnend sind, erwirbt (vgl. Maas 2008: 111; 2009: 146). Für das formelle Register sind sie nicht lizensiert. Soll ein Ausbau literater Strukturen stattfinden, so kann dieser nur durch Kontakt mit Sprechern außerhalb des intimen Registers oder in Bildungsinstitutionen geschehen (vgl. Schroeder & Şimşek 2010: 57). Wie bereits erwähnt, finden HLs jedoch nur ansatzweise Eingang in schulische Curricula. Das Ausmaß des Kontaktes zur HL außerhalb der Familie kann zudem von Sprecher zu Sprecher variieren und bedingt durch äußere Kontextmerkmale einer bestimmten Einwanderergruppe stark eingeschränkt sein, sodass die Familie oftmals die einzige Inputquelle und die alleinige Möglichkeit zum Sprachgebrauch bietet. Diese Tatsache fällt umso mehr ins Gewicht, je kleiner die betreffende Sprachcommunity ist, sowie bei Sprachen ohne schriftsprachlichen Ausbau. Für die Letztgenannten existiert meist keine angemessene Möglichkeit, andere Register zu erwerben, da sie an streng ritualisierte Handlungen und Sprachmuster geknüpft sind (vgl. Palmer 1997), die in der Migration nicht ohne Weiteres hergestellt werden können.

(5) Zusätzlich zu den oben angeführten Merkmalen des Spracherwerbs und Sprachgebrauchs von HL-Sprechern wird in der HL-Literatur als weiteres für diese Studie zentrales Unterscheidungsmerkmal das Kriterium der Generation zu seiner Abgrenzung von anderen Typen des mehrsprachigen Erwerbs hinzugezogen. So bezieht sich der Begriff „HL-Sprecher“ vorwiegend auf Personen der zweiten Einwanderergeneration. Ein Grund hierfür ist in den typischen Sprachdominanzverläufen in der Minderheiten- und Mehrheitssprache entlang den Generationenlinien zu finden und wurde bereits vor 50 Jahren in der Soziolinguistik als Drei-Generationen-Modell der Sprachaufgabe beschrieben (vgl. Fishman 1991: 88ff.). Für die HL-Forschung erlangt es jedoch mit der Betrachtung der zweiten Generation eine neue Bedeutung und unterstreicht abermals ihre Relevanz für den Prozess des Spracherhalts im Migrationskontext, da hier entscheidende Weichen gestellt werden, die die Weitergabe einer HL an die nachfolgende Generation entweder ermöglichen oder aber versperren (vgl. ebd.):


Generation Kenntnisse in der Mehrheitssprache Kenntnisse in der Minderheitensprache
erste eingeschränkt dominant
zweite dominant eingeschränkt
dritte monolingual nicht vorhanden

Tab. 3:

Formen der Sprachdominanz in der Mehrheits- und Minderheitensprache nach Generationenzugehörigkeit (Darstellung nach Montrul 2016: 24)

Die einzelnen Generationen können wie folgt beschrieben werden: Die erste Generation ist selbst zugewandert. Häufig wurden diese Sprecher in der Minderheitensprache vollständig sozialisiert und beschult, insbesondere wenn die Einwanderung im Erwachsenenalter erfolgte. Die Kenntnisse in der Mehrheitssprache des Einwanderungslandes sind bei dieser Generation nur eingeschränkt vorhanden und richten sich stark nach den alltäglichen und beruflichen Bedürfnissen der Sprecher. Dieses Dominanzverhältnis kehrt sich in der zweiten Generation, also bei den HL-Sprechern in der vorliegenden Studie, um. Ihre dominante Sprache ist die Mehrheitssprache. Die Minderheitensprache bzw. eine gewisse Kompetenz in dieser bleibt als HL erhalten, obwohl meist nicht derselbe Grad an Flüssigkeit wie bei den Eltern erreicht wird (vgl. Polinsky 2015a: 7).

Der Kompetenzaspekt ist an dieser Stelle insofern von kritischer Bedeutung, als er über die (Nicht-) Weitergabe der HL an die dritte Generation entscheidet, die infolgedessen monolingual in der Mehrheitssprache sozialisiert wird: „[…] heritage languages often do not survive intergenerational transmission“ (Montrul 2011a: 158). Hierbei spielt nicht primär der erreichte und messbare Kompetenzgrad im Vergleich zur monolingualen Norm eine Rolle, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung des Sprechers selbst. Sie bestimmt darüber, ob ein Sprecher sich in seiner HL kompetent genug fühlt, um sie an seine Kinder weiterzugeben.

Der auch in der vorliegenden Studie vorgenommene Rückgriff auf die zweite Einwanderergeneration eines Sprechers umschreibt demzufolge nicht ausschließlich familiär bedingte sprachbiographische Gegebenheiten, sondern reflektiert ebenso relative Spracherwerbs- und -dominanzverhältnisse und ist für die definitorische Abgrenzung eines HL-Sprechers unerlässlich: „[…] second generation bilinguals, who were born to families speaking a language different from that of the environment, are heritage speakers“ (Schmid 2011: 73f.; Hervorhebung i.O.). Der Terminus „HL-Sprecher“ lässt sich bei entsprechender Spracherwerbsbiographie und bei ähnlich gelagerten Sprachdominanzrelationen auch auf die dritte oder weitere Generation ausweiten, was insbesondere für die größeren Einwanderersprachgruppen nicht unwahrscheinlich ist. Er kann sich wiederum nur dann auf die erste Generation beziehen, wenn die Einwanderung in einem frühen Alter erfolgte. In diesem Fall zählen Benmamoun und Kollegen zusätzlich diejenigen Personen zur Gruppe der HL-Sprecher, die vor dem Alter von 8 Jahren eingewandert sind (vgl. Benmamoun et al. 2012: 9).

Diese willkürlich gesetzte Grenze wird in der hier durchgeführten Studie jedoch nicht übernommen (s. Abschnitt 6.3). Stattdessen soll in dieser Arbeit die Zuwanderung vor Schuleintritt über die Eingruppierung als HL-Sprecher entscheiden, denn durch den Eintritt in eine Bildungsinstitution erfolgt ein entscheidender Wendepunkt im HL-Erwerb, der sich stark auf die Sprachkompetenz der Sprecher auswirkt. Der typische HL-Sprecher ist demzufolge entweder selbst vor dem Schuleintritt mit seiner Familie eingewandert oder er ist im Einwanderungsland geboren und das Kind von Migranten. Entsprechend werden in der vorliegenden Arbeit die Teilnehmer primär durch ihre generationale Zuordnung nach diesem Kriterium eingegrenzt, aus dem sich anschließend die in (1) bis (4) diskutierten Merkmale des HL-Erwerbs ergeben.