Publizistik- und Kommunikationswissenschaft

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Der Nationalökonom und Begründer der Zeitungskunde, Karl Bücher, war sowohl Zeitungsstatistiker wie auch Zeitungshistoriker. Von ihm stammt eine Fülle zeitungskundlicher und zeitungswirtschaftlicher Veröffentlichungen (vgl. Bücher 1926; Groth 1948, S. 354f). Die Bedeutung der Zeitung sieht er in ihrer Leistung als Vermittler »zwischen dem Volk und seinen führenden Geistern«, als »Stützorgan der Volkswirtschaft« sowie als »Organ der öffentlichen Meinung«. Der kulturelle Nutzen der Tagespresse ist für ihn unbestritten, ihren Schaden sieht er in ihrer Eigenschaft als »kapitalistische Unternehmung«. Insgesamt betrachtete Bücher die Geschichte des Zeitungswesens als einen Teil der Kulturgeschichte (vgl. Groth 1948, S. 282–296). Zu den Soziologen, die sich der Presse widmeten, gehört auch Max Weber. Er selbst hat zwar kein Werk über die Presse geschrieben; von ihm stammt allerdings ein 1910 erarbeiteter Grundriss zu einer »Soziologie des Zeitungswesens« (Weber 1911, S. 39–62; vgl. Kutsch 1988a, S. 5–31; Meyen/Löblich 2006, S. 145ff), der nie realisiert wurde, sondern einem Professorenstreit zum Opfer fiel (vgl. Obst 1986, S. 45–62). Eine angemessene Würdigung dieses Grundrisses stammt von Siegfried Weischenberg (2012).

Speziell dem Nachrichtenwesen widmete sich Wolfgang Riepl in seinem 1913 publizierten Buch »Das Nachrichtenwesen des Altertums« (Riepl 1913). Riepl erarbeitete allgemeine Prinzipien und Gesetze des Nachrichtenverkehrs; von ihm stammt das Gesetz, wonach neu aufkommende Medien die alten nie gänzlich verdrängt, sondern diese gezwungen haben, »andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen« (Riepl 1913, S. 5). Riepl erkannte, wie wir heute sagen würden, den Zusammenhang von Kommunikation und gesellschaftlichem Wandel (vgl. Lerg 1977, S. 9–24; und 1986, S. 134).

Als Zwischenfazit der Fachgeschichte lässt sich festhalten: Das Erkenntnisinteresse an publizistischen Phänomenen, vorwiegend an der Presse, ist bis zum 20. Jahrhundert »eng verbunden mit den kulturellen und politischen Energien der jeweiligen Zeiten« und es »kumuliert in den Namen nicht weniger weltaufgeschlossener, universaler Gelehrter«; jedoch »führten diese […] von einem persönlichen Engagement durchpulsten Untersuchungen […] nicht dazu, eine selbständige Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft an den deutschen Universitäten durchzusetzen« (Kieslich 1972, S. 71f). Man [36]muss aber einräumen, dass insbesondere in Löffler, Schäffle und Bücher Wegbereiter für die Etablierung der wissenschaftlichen Zeitungskunde zu sehen sind.

2.5 Wissenschaftliche Zeitungskunde – Zeitungswissenschaft

Lehraufträge und Seminare für Zeitungskunde gab es an Universitäten und Hochschulen des deutschen Sprachraumes bereits vor der und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie gingen im Wesentlichen auf persönliche Initiativen von Hochschullehrern verschiedener Fachgebiete zurück (vgl. Wagner 1997, S. 133). Auch sind bereits vor der Jahrhundertwende Promotionen über zeitungskundliche bzw. zeitungswissenschaftliche Themen aus verschiedenen Fachgebieten wie Jurisprudenz, Nationalökonomie, Geschichte etc. bekannt (vgl. Jaeger 1926, S. 17ff). Der in Deutschland früheste Versuch, das Fach zu institutionalisieren, geht auf ein »Journalistisches Seminar« an der Universität Heidelberg zurück. Es wurde 1897 von Adolf Koch eingerichtet und bestand bis 1912 (vgl. Jaeger 1926, S. 12; Obst 1986, S. 45ff).

Die endgültige Etablierung der Zeitungskunde ist Karl Bücher (vgl. u. a. Bücher 1926) zu verdanken. Er hielt bereits ab 1884 Vorlesungen über das Pressewesen, zunächst in Basel (Schweiz), ab 1892 in Leipzig. Weitere zeitungskundliche Kollegs, Vorlesungen und Seminare von Dozenten unterschiedlicher Herkunft folgten in Heidelberg, Greifswald, Danzig, Darmstadt, Berlin, Köln und München. Die wissenschaftliche Zeitungskunde begann allmählich Fuß zu fassen. Die Etablierung der Zeitungskunde erhielt des Weiteren wichtige Impulse 1) durch den von Max Weber erarbeiteten und vom Deutschen Soziologentag verabschiedeten Plan »Zu einer Soziologie des Zeitungswesens« (vgl. Meyen/Löblich 2006, S. 145ff; vgl. Weischenberg 2012); 2) durch eine Ausbildungsresolution des Reichsverbandes der Deutschen Presse, die vorsah, dass die Vorbildung von Journalisten durch die Zeitungskunde zu pflegen sei und dass bei der Errichtung von Lehrstühlen für Zeitungskunde Medienpraktiker berücksichtigt werden sollen; 3) durch engagierte Verleger, die ebenfalls Interesse an einer praxisnahen, zeitungskundlichen Vorbildung für Journalisten hatten; nicht zuletzt aber 4) auch durch den Ersten Weltkrieg mit seiner auf die Zeitungen durchschlagenden Propagandamaschinerie. Es wuchs die Erkenntnis, dass es an der Zeit war, sich der Zeitungen und des Journalismus konsequent anzunehmen und für einen »systemreformierenden Journalismus« zu sorgen (Kutsch 1996, S. 8).

Karl Bücher verfolgte genau dieses Ziel. Er verfügte aus seiner früheren Tätigkeit bei der Frankfurter Zeitung über Praxiserfahrung und nutzte als Wissenschaftler die Presse als Quelle für seine Forschungen. 1915 warf er der deutschen Presse vor, sie habe sich den Anforderungen des (Ersten Welt-) Krieges nicht gewachsen gezeigt und verfüge über ein beschämend geringes Bewusstsein von ihrer Pflicht zum Dienst an der Wahrheit. Bücher gründete 1916 in Leipzig unter Mitwirkung des Verlegers Edgar Herfurth (»Leipziger Neueste Nachrichten«) das Institut für Zeitungskunde – die erste Einrichtung dieser Art an einer deutschen Universität. Der Nationalökonom Bücher »trat von seiner Professur für Nationalökonomie zurück und widmete sich hinfort der Zeitungskunde« (Jaeger 1926, S. 14). Sein Nachfolger in Leipzig wurde 1926 der Wiener Korrespondent des liberalen Berliner Tagblattes, Erich Everth – der erste ordentliche Professor (Ordinarius) für Zeitungskunde. »Sein Ziel war es […], die Zeitungskunde als eigenständige Disziplin theoretisch zu begründen«, und zwar »als Typ einer modernen Integrationswissenschaft, die eine sozialwissenschaftliche Beziehungs- und Formenlehre umfasste« (Kutsch/Averbeck o.J.; vgl. Lacasa 2008, 2009). Nach der Leipziger Initiative kam es in relativ rascher Folge zu weiteren Institutsgründungen. Bis 1935 entstanden zehn weitere Institute für Zeitungskunde, Zeitungswissenschaft, Zeitungsforschung (oder wie auch immer sie geheißen haben) in Münster (1919), Köln (1920), Freiburg (1923), München (1924), Nürnberg [37](1924), Berlin (1925), Dortmund (1926), Halle (1926), Heidelberg (1927) sowie Königsberg (1935). Daneben gab es an weiteren deutschen Universitäten, Technischen Hochschulen und Handelshochschulen zeitungskundliche Lehrveranstaltungen in Form von Kursen, Seminaren und Vorlesungen.

Die wissenschaftliche Zeitungskunde, die Zeitungswissenschaft, hat sich im gesamten deutschen Sprachraum nicht gerade explosionsartig entwickelt: Vielmehr ließ die Ausstattung der Institute mit Personal, Räumen und Sachmitteln zahlreiche Wünsche offen. Dennoch zeigen die Veröffentlichungen der Gründerväter, ihrer Schüler und Doktoranden, dass die »Presseforschung nicht nur Hilfswissenschaft war, sondern selbständiger Forschungsgegenstand« (Kieslich 1972, S. 72). Die wissenschaftliche Zeitungskunde orientierte sich in diesem frühen Stadium vornehmlich an juristischen, nationalökonomisch-statistischen und historischen Fragen. Im Jahr 1926 weist Karl Jaeger (1926) insgesamt 221 Dissertationen nach, die zwischen 1885 und 1922 in Deutschland erarbeitet wurden und die das Zeitungswesen zum Gegenstand hatten. Davon entfielen 74 Arbeiten auf juristische Themen, 73 auf nationalökonomisch-statistische, 34 auf historische, 26 auf germanistische, sieben auf anglistische, sechs auf romanistische sowie eine auf ein philosophisches Thema. Edith S. Grün fand für den (früheren) Zeitraum von 1874 bis 1919 des Weiteren heraus, dass ein Großteil der von ihr bibliografisch ermittelten Pressedissertationen in Deutschland an philosophischen Fakultäten und in der Tradition des Historismus entstanden war. Es handelt sich dabei vorwiegend um biografische Arbeiten über Journalisten und Publizisten sowie um Monografien von Zeitungen und Zeitschriften. Daneben sind – im weitesten Sinne – soziologische Arbeiten zur öffentlichen Meinung, einige deskriptiv-statistische struktur- und inhaltsanalytische Studien sowie Arbeiten über strafrechtlich relevante Themen vorzufinden (vgl. Grün 1986, S. 31–34).

2.6 Publizistik(-wissenschaft)

Knapp zehn Jahre nach der Begründung der Zeitungswissenschaft in Deutschland kam von Karl Jaeger, einem Mitarbeiter Karl Büchers, der Vorschlag, die wissenschaftliche Zeitungskunde von ihrem Fachgegenstand her auszuweiten und in Publizistik (-wissenschaft) umzubenennen. Jaeger erkannte in Anlehnung an Walter Schöne (ebenfalls Leipzig), dass die öffentliche Meinung das Zentralproblem der Zeitungslehre darstellt. Die Urzelle der öffentlichen Meinung sah Jaeger jedoch in der Mitteilung – daher müsse jede Form der Mitteilung zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht werden. »Das Erkenntnisziel rückt damit von der Zeitung als Ausdrucksmittel des gesellschaftlichen Bewusstseins zur Mitteilung als Ausdrucksmittel des gesellschaftlichen Bewusstseins« (Jaeger 1926, S. 67; vgl. auch Jaeger 2000). Jaeger stellt folglich den Begriff Zeitungswissenschaft in Frage, zumal er das Blickfeld »doch allzu positiv auf die Zeitung allein« umgrenzt, »während all die anderen Mittel, die auf die öffentliche Meinung wirken können, unberücksichtigt bleiben« (Jaeger 1926, S. 67). Jaeger meinte also, dass neben Zeitung und Zeitschrift auch das Flugblatt, die Flugschrift, das Nachrichtenwesen, öffentliche Rede und Verkündigung sowie insbesondere auch die damals in der Anfangsphase steckenden »neuen Medien« Rundfunk (Hörfunk) und Tonfilm zum Untersuchungsgegenstand der Disziplin gehören. »Auf der Suche nach einem Begriffe«, so Jaeger, »der jegliche Möglichkeit der Mitteilung bzw. Meinungsbildung bzw. -beeinflussung in sich schließt, stößt man, als treffendsten, auf den Begriff Publizistik, der jegliche Art der Veröffentlichung, Verkündigung deckt. Für die Wissenschaft von den Formen, Trägern, dem Wesen und den Wirkungen der Mitteilungen sagt man also am besten hinfort: publizistische Wissenschaft« (Jaeger 1926, S. 67) bzw. kurz Publizistik. Die Ideen und das Werk Karl Jaegers haben Arnulf Kutsch und Stefanie Averbeck ausführlich gewürdigt (vgl. Kutsch/Averbeck 2000; Jaeger 2000; siehe auch Meyen/Löblich 2006, S. 161ff). Innovatives Ideengut [38]zur Entwicklung des Faches jenseits der Begrenzung auf Zeitungswissenschaft hat auch Hans Traub in die aufkommende Disziplin eingebracht (vgl. Beck 2009).

 

Mit dem Vorstoß Jaegers war die Ausweitung des Materialobjektes des Faches über die gedruckten Medien hinaus in die Wege geleitet. Nur ein Teil der Fachvertreter folgte jedoch dieser neuen Terminologie. Die Zeitungswissenschaftler Karl d’Ester (München) und Walther Heide (Berlin) sowie der Privatdozent Otto Groth (Frankfurt, später München) haben sich der Programmatik und Terminologie der Publizistikwissenschaft nicht angeschlossen. Für sie hatte der Begriff ›Zeitung‹ nämlich eine andere Bedeutung: Er stand nicht (nur) für das materialisierte Objekt Tages- oder Wochenzeitung, sondern ›Zeitung‹ wurde im Sinne der alten Bedeutung von ›Nachricht‹ aufgefasst – eine Bedeutung, die der Begriff bis in die Zeit Schillers hatte (vgl. Koszyk/Pruys 1976, S. 12; Starkulla 1963, S. 160; Wagner 1997, S. 39).

Das aufstrebende Fach befasste sich mit Fragen der Terminologie und Systematik. Als Forum dazu diente die 1926 von Karl d’Ester (München) und Walther Heide (Berlin) gegründete Fachzeitschrift »Zeitungswissenschaft«. Auch entstanden zeitungskundliche Publikationen, die bis in die 50er- und 60er-Jahre zu Standardwerken des Faches zählten und die heute mitunter noch als wertvolle Quellen zu verwenden sind. Zu erwähnen sind insbesondere:


1)Emil Dovifats 1931 erstmals erschienene »Zeitungswissenschaft«; deren erster Band stellte eine Allgemeine Zeitungslehre, der zweite Band eine Praktische Zeitungslehre dar (Dovifat 1931). Die nachfolgenden Auflagen von 1937, 1955, 1962 sowie 1976 (letztgenannte unter Bearbeitung von Jürgen Wilke) wurden daher richtigerweise als »Zeitungslehre« publiziert.
2)Otto Groths vierbändige Enzyklopädie »Die Zeitung« (Groth 1928); ihr Autor bezeichnet sie zwar als »System der Zeitungskunde (Journalistik)«, sie stellt aber eher eine Strukturbeschreibung denn einen systematischen Aufriss dar (vgl. Koszyk/Pruys 1976, S. 12). Groth, ein erfahrener Journalist und Gelehrter, hatte – von zahlreichen Lehraufträgen abgesehen – nie eine feste Stelle als Hochschullehrer inne. Von ihm stammt auch die dreißig Jahre später teils posthum veröffentlichte Periodik »Die unerkannte Kulturmacht« (Groth 1960ff). Dieses in sieben Bänden zwischen 1960 und 1972 herausgebrachte Mammut-Werk sollte, wie ihr Untertitel versprach, eine »Grundlegung der Zeitungswissenschaft« sein, war allerdings zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wissenschaftsgeschichtlich über weite Strecken überholt (vgl. Lerg 1977, S. 10).

Hinzuweisen ist auch darauf, dass die Zeitungswissenschaft eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung der Internationalen Presseausstellung »Pressa« 1928 in Köln einnahm. Mehrere zeitungswissenschaftliche Institute (wie Berlin, Freiburg, Halle, München, Münster) haben dabei mitgewirkt (vgl. Klose 1986). Wissenschaftsgeschichtlich ist schließlich zu vermerken, dass die Zeitungs- bzw. frühe Publizistikwissenschaft zur Soziologie sowohl Berührungspunkte suchte wie auch Abgrenzungstendenzen erkennen ließ (vgl. Averbeck 1999). Auch das Verhältnis des Faches zur Praxis blieb ungeklärt. Die Folge war, dass – zur Unzufriedenheit beider Seiten, also der Wissenschaftler wie der Praktiker – »das Fach stets zwischen der jeweils geforderten Praxisbezogenheit einerseits und der eingemahnten Wissenschaftlichkeit andererseits lavierte« (Koszyk/Pruys 1976, S. 12; vgl. Neff 1986, S. 63–74).

2.7 Das Fach im Nationalsozialismus

Von der Gleichschaltung des kulturellen Lebens durch den Nationalsozialismus blieb auch die Zeitungswissenschaft nicht verschont, die schrittweise in die Schulung des Pressenachwuchses einbezogen wurde. Dabei haben viele mitgemacht, viele andere sich aber auch verweigert. Von jenen Fachvertretern [39]und Funktionären, die die Entwicklung des Faches in dieser Zeit wesentlich beeinflussten, seien drei Personen hervorgehoben: Walther Heide, Karl Oswin Kurth und Hans Amandus Münster.

Eine wichtige, in zahlreichen Details aber bis heute nicht vollständig geklärte Rolle als Verbindungsglied zwischen Zeitungswissenschaft und nationalsozialistischem Regime spielte Walther Heide. Er kam aus der Deutschen Volkspartei (DVP), war promovierter (Sozial-)Historiker und hatte vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten Aufgaben zunächst in der Presseabteilung der Reichsregierung im Auswärtigen Amt inne, später im innenpolitischen Referat der Reichspressestelle. Für kurze Zeit war er – bereits unter dem NS-Regime – stellvertretender Pressechef der Reichsregierung, wurde jedoch Mitte 1933 zur Disposition gestellt und übernahm Aufgaben auf dem Gebiet der Presse der Auslandsdeutschen und der offiziösen Pressekorrespondenzen. Im Frühjahr 1933 erhielt Heide eine Honorarprofessur für Zeitungswissenschaft an der Technischen Hochschule Berlin, im Sommer 1933 gründete er den »Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verband« (DZV). Es war dies ein privater Verein, der die lokalen zeitungswissenschaftlichen Vereinigungen auf Reichsebene zusammenführte und dessen Präsident Heide wurde (vgl. Bohrmann/Kutsch 1975, S. 806). Aufgrund Heides politischer Kontakte auf vielen Ebenen war es ihm möglich, die Entwicklung des Faches im Dritten Reich stark zu beeinflussen. Straetz sieht in ihm jene Person, die die Zeitungswissenschaft »in den Dienst der nationalsozialistischen Sache« stellte (Straetz 1986, S. 91). Mit Karl Oswin Kurth und anderen gehörte er auch zu jenen Repräsentanten, die das Fach auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zeitung eingeschränkt wissen wollten (vgl. Benedikt 1986, S. 125–129).

Das NSDAP-Mitglied Karl O. Kurth absolvierte das Studium der Zeitungswissenschaft und entfaltete in der nationalsozialistischen Studentenschaft zahlreiche Aktivitäten. Er war u. a. Begründer der ersten »Zeitungswissenschaftlichen Fachschaft« (Leipzig) im Deutschen Reich. Deren wesentliche Aufgaben sah er in der Festlegung des Gegenstandes der Zeitungswissenschaft auf die Presse, in der Ausbildung des journalistischen Nachwuchses sowie in der Ausrichtung der Disziplin nach den Wünschen und Forderungen der nationalsozialistischen Presseführung. 1935 ernannte ihn Walther Heide zum Geschäftsführer des »Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verbandes« (DZV), im gleichen Jahr erhielt er von Heide die Stelle des Hauptschriftleiters des Fachorgans »Zeitungswissenschaft«. Den Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere erreichte er 1942, als ihm für seine loyalen wissenschaftspolitischen Dienste die Leitung des (1939 von Walther Heide gegründeten) Wiener Instituts für Zeitungswissenschaft und die mit ihr verbundene Professorenstelle übertragen wurde (vgl. Kutsch 1981, S. 407).

Heide, der »Treuhänder des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda« (Benedikt 1986, S. 120f) an der Spitze des DZV, nutzte diesen Verband in zweifacher Hinsicht: Einerseits sah er in ihm eine Schaltstelle für den Ausbau des Faches; andererseits betrieb er gemeinsam mit Karl O. Kurth die Einbindung der Zeitungswissenschaft in nationalsozialistische Zielsetzungen. Es gelang ihm »die Anrechnung eines sechssemestrigen Studiums der Zeitungswissenschaft auf das Pressevolontariat« (Koszyk 1997, S. 30), und auch die einheitliche Umbenennung sämtlicher damals bestehender Institute in »Institut für Zeitungswissenschaft« sowie die Einführung eines einheitlichen Lehrplanes ab dem WS 1935/36 geht schlussendlich auf Heide zurück (vgl. Straetz 1986, S. 71). Darin wird den »Publizistischen Führungsmitteln« besondere Bedeutung eingeräumt. Heide, ebenso wie Kurth, ein vehementer Warner vor »einer Überfremdung der Disziplin durch Film und Rundfunk« (Straetz 1986, S. 91), erreichte auch, dass alle ab Ende der 1920er-Jahre geschaffenen Rundfunk- und Filmabteilungen an den zeitungswissenschaftlichen Instituten abgebaut werden mussten; Ausnahmen bildeten lediglich Leipzig und Berlin. Die rundfunkwissenschaftliche Arbeit wurde in der Folge 1939 dem in Freiburg i. B. errichteten und 1940 offiziell eröffneten Institut für Rundfunkwissenschaft überantwortet (vgl. Kutsch 1985). Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, [40]stand der Zeitungswissenschaft skeptisch gegenüber und war auch für eine Trennung zeitungswissenschaftlicher und rundfunkkundlicher Arbeit (vgl. Kieslich 1972, S. 73).

Zu den Protagonisten der Zeitungswissenschaft im Dritten Reich gehörten primär Fachvertreter der zweiten Generation, unter ihnen auch Hans Amandus Münster, zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter (und empirischer Kommunikationsforscher, wie wir heute sagen würden – vgl. Kap. 2.9) bei Emil Dovifat am Deutschen Institut für Zeitungskunde (DIZ) in Berlin. Münster trat 1933 der NSDAP bei und wurde 1934 auf den Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft der Universität Leipzig berufen (er war dort nach Karl Bücher und Erich Everth also der dritte Lehrstuhlinhaber). Münster lieferte sich mit seinen fachlichen Widersachern Heide und Kurth über Jahre hinweg Positionskämpfe über den Gegenstand der Zeitungswissenschaft. Heide und Kurth waren energische Befürworter der Eingrenzung des Faches auf das Materialobjekt Zeitung. Münster hingegen wollte die Disziplin unbedingt auch auf die Medien Rundfunk und Film ausgeweitet wissen. Unter Publizistik verstand er jene Art der Verständigung, Beeinflussung, Aussprache und Mitteilung von Mensch zu Mensch, »die im Dienst eines politischen Beeinflussungswillens wirksam ist« (Kutsch 1981, S. 402). So ist in Münster der engagierteste Verfechter einer Wissenschaft von den politischen Führungsmitteln zu sehen – Publizistik als geistige Gestaltung von einem zentralen Willen her (vgl. Münster 1934). So wurde »die ›Wissenschaft von der Publizistik‹ […] zu einer ›Wissenschaft von der politischen Publizistik‹, deren maßgeblicher Wegbereiter Münster war« (Straetz 1984, S. 79). Trotz aller Unterschiede über die Fachbezeichnung (Zeitungs- oder Publizistikwissenschaft) stimmten Münster und Kurth aber darin überein, dass die Nachricht (Mitteilung) »vornehmlich aus der Perspektive der politischen Beeinflussung« (Kutsch 1981, S. 405) zu sehen ist und dass das Wirkungsziel der Nachricht die »Willensbildung und Willensbeeinflussung«, die »politische Beeinflussung« ist (Kutsch 1981, S. 405). Nachrichtendarbietung im nationalsozialistischen Sinne hatte der politischen Führung zu dienen, dem Einsatz im geistigen Kampf der Nation. Diesem Ziel verschrieb sich die nationalsozialistische Zeitungs- und Publizistikwissenschaft.

Bei weitem nicht alle Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaftler schlossen sich dem Regime an. Es gab Fachvertreter, die nicht bereit waren, sich an die Lehrinhalte und die Methodologie einer nationalsozialistisch ausgerichteten Disziplin anzupassen. Sie wurden entweder zwangsbeurlaubt oder in den Ruhestand versetzt (wie Erich Everth, der sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung als Einziger »öffentlich gegen die Presseverbote der neuen Machthaber aussprach« – Kutsch/Averbeck o.J.), entlassen oder wegen ihrer jüdischen Abstammung aus dem Fach entfernt. Mancher wählte den Weg in die Emigration. Einige Fachvertreter entzogen sich der nationalsozialistischen Verfolgung, indem sie sich auf Arbeitsgebiete – z. B. historische Themen – zurückzogen, die unverdächtig waren (vgl. Kutsch 1984 und 1988b). Mit der Emigration deutscher Zeitungswissenschaftler nach 1933 war zugleich ein Verlust sozialwissenschaftlicher Perspektiven verbunden, wie sie ansatzweise in Deutschland im Entstehen begriffen waren (vgl. Averbeck 2001).

Man kann allerdings auch nicht übersehen, dass infolge von Kompetenzüberschneidungen verschiedener Ressorts und Einrichtungen (z. B. Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Deutscher Zeitungswissenschaftlicher Verband, Reichspresseamt, Reichsrundfunkkammer u. a. m.) und daraus resultierender Machtkämpfe die offizielle Linie der nationalsozialistischen (Medien-)Funktionäre gegenüber einer Zeitungswissenschaft bzw. einer Wissenschaft von den publizistischen Führungsmitteln wenig einhellig war (vgl. Straetz 1984, S. 71). Die Medienverantwortlichen des Dritten Reiches hatten ein zumindest ambivalentes Verhältnis zur Zeitungswissenschaft. Sie wollten einerseits durchaus wissen, wie Propaganda und politische Publizistik auf das Publikum bzw. die Öffentlichkeit wirken. Zugleich hegten sie Befürchtungen, die durch die Zeitungs- (und Rundfunk-)Wissenschaft ermittelten Erkenntnisse über Technik, Funktion und Wirkung der Propaganda in öffentlicher Rede sowie [41]mittels Presse, Rundfunk und Film könnten durchschaut und einer größeren Öffentlichkeit bekannt und transparent gemacht werden und sich in der Folge gegen den nationalsozialistischen Staat selbst richten (vgl. Kieslich 1972, S. 73).

 

2.8 Der Neubeginn nach 1945

Verständlicherweise sollte die Zeitungswissenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht dort fortsetzen, wo sie 1945 endete bzw. stand (sofern sie noch bestand). Ihre Inhalte waren weitgehend nicht Wissenschaft, sondern vorwiegend verbrämte Ideologie. Das galt auch für andere Fächer. So erscheint es selbstverständlich, dass die »langsam wieder öffnenden Hochschulen unter der Aufsicht der Besatzungsmächte […] angehalten [wurden], sich alle erneut zugelassenen Institute und deren Personal genau anzusehen. […] Die Hochschulen wollten sich zudem von belasteten Fächern und Hochschullehrern trennen. Außerdem waren viele Institute erheblich oder ganz kriegszerstört« (Bohrmann 2002, S. 16). Zahlreiche zeitungswissenschaftliche Professuren, Seminare und Dozenturen wurden geschlossen oder nicht wiedererrichtet, so z. B. Einrichtungen in Halle/Saale, Greifswald, Hamburg, Berlin (Ost), Heidelberg, Freiburg/Br., Köln, Aachen, Prag, Wien und Königsberg (Bohrmann 2002, S. 17ff). Zu Wiederbelebungen des Faches kam es dagegen (zunächst) in München (1946), Münster (1946), Leipzig (1946), Heidelberg (1946) und Berlin (1948, Freie Universität Berlin). Als Zentren bildeten sich in Westdeutschland – dies sei hier vorweggenommen – Berlin (Emil Dovifat), München (Karl d’Ester) und Münster (Walter Hagemann) heraus. In der Bundesrepublik wurden die Institute ab 1948 in »Institute für Publizistik« umbenannt; lediglich München hielt – bis 1974 – an der Bezeichnung »Zeitungswissenschaft« fest. (»Zeitung« stand in München als Begriff nicht für das Materialobjekt bzw. Medium Tages- oder Wochenzeitung, sondern in seiner ursprünglichen historischen Bedeutung für Nachricht und »Zeitgespräch der Gesellschaft«. Mit dem Begriff ist der zeitungswissenschaftliche Ansatz der Münchner Schule untrennbar verbunden (Wagner 1965, 1979, 1993, 2007; Aswerus 1993; Eichhorn 2004). In Ostdeutschland bzw. der späteren DDR nahm Leipzig die führende Rolle ein. Das Fach ging dort jedoch seinen eigenen Weg: Es wurde, wie noch ausgeführt werden wird (vgl. w. u.), ab Mitte der 1950er-Jahre erneut in den Dienst einer Ideologie gestellt, und zwar der Journalistenausbildung im Sinne der herrschenden Lehre des Marxismus-Leninismus (Blaum 1979, 1980).

Mit der Neu- oder Wiedererrichtung zeitungswissenschaftlicher Institute nach 1945 stellte sich auch die Frage, mit welchen Personen die Professuren besetzt werden sollten. Wie erwähnt, verließen viele das nationalsozialistische Deutschland, wurden vom NS-Regime abgesetzt oder verschrieben sich der NS-Ideologie. Da Vertreter der zweiten Generation von Zeitungswissenschaftlern vergleichsweise stärker mit dem NS-Regime verstrickt waren und daher – sofern sie noch lebten – ihre Karriere nicht fortsetzen konnten, kamen mit Emil Dovifat in Berlin und Karl d’Ester in München Personen der ersten Generation ins Spiel, die weniger belastet schienen. In Münster wurde Walter Hagemann installiert. Das Verhalten bzw. wissenschaftliche Wirken der drei Genannten während des Dritten Reiches wird in der dazu vorliegenden Literatur unterschiedlich bewertet. Der Fach- und Medienhistoriker Rudolf Stöber nimmt eine vermittelnde Position ein. Er meint, der Neuanfang nach 1945 habe mit drei Wissenschaftlern begonnen, »die sich 1933 – 1945 als mehr oder minder ›angepasste Außenseiter‹ durchgeschlagen hatten. Dabei mussten Emil Dovifat und Karl d’Ester um ihre politische Rehabilitation kämpfen. Walter Hagemann hingegen konnte, da er 1933 – 1945 kaum wissenschaftlich tätig war, rasch Karriere machen. […]. Doch knapp 15 Jahre später verlor er aufgrund einer Verknüpfung politischer, wissenschaftspolitischer und privater Umstände seine Professur [42]und floh später in die DDR. Die wechselnden Koalitionen zwischen den drei Protagonisten zeigen ein zutiefst zerrissenes, kleines Fach, das sich zunächst nur mühsam im akademischen Betrieb behaupten konnte« (Stöber 2002, S. 84; vgl. auch Wiedemann 2012). Hans Bohrmann merkt kritisch an, dass Karl d’Ester, Emil Dovifat, Walter Hagemann und (der habilitierte Zeitungswissenschaftler) Wilmont Haacke (vgl. w. u.) »auch die wissenschaftliche Erneuerung des Faches versäumt [haben]« (Bohrmann 2002, S. 31). Insbesondere hätten sie sich (bereits in der Weimarer Zeit) neuen Fragestellungen und Methoden verschlossen, wie sie in anderen philosophischen, wirtschafts- sowie sozialwissenschaftlichen Fächern dringlich gefordert wurden. Dadurch sei auch der Aufbruch des Faches »um mehr als anderthalb Jahrzehnte verzögert [worden]« (Bohrmann 2002, S. 32). Umgekehrt räumt Bohrmann ein, dass Hagemanns Beitrag zur Neukonzeption der Publizistik(-wissenschaft) »nach 1945 gar nicht unterschätzt werden [kann]« (Bohrmann 2002, S. 26; vgl. Hagemann 1947; vgl. Wiedemann 2012). Hagemann habe »die erste wissenschaftliche Studie zur Analyse des NS-Mediensystems und dessen politischer Anleitung [veröffentlicht]« und sich in seinen Lehrveranstaltungen auch für elektronische Medien (v. a. das Radio) und den Film interessiert (Bohrmann 2002, S. 26; vgl. Hagemann 1948, 1954; Wiedemann 2012).

1956 wurde das wissenschaftliche Fachorgan Publizistik gegründet. Sein Name sollte insofern Programm signalisieren, als bewusst nicht an die Tradition der 1944 eingestellten Zeitschrift »Zeitungswissenschaft« angeschlossen werden sollte. Die Publizistik entfaltete sich u. a. zu jenem Organ, in welchem auch über das wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches reflektiert wurde. Dieses war bis in die beginnenden 1960er-Jahre noch ein weitgehend geisteswissenschaftlich geprägtes Fach, es »überwogen medien- und kommunikatorzentrierte Perspektiven, historische und philologische Methoden sowie ein normatives Fachverständnis« (Löblich 2010a, S. 12). Das Fach stand weiterhin unter Legitimationsdruck. 1960 »empfahl der Wissenschaftsrat [sogar – Ergänzung H. P.], dieses ›Sondergebiet‹ lediglich an den Universitäten Berlin und München zu pflegen« (Huber 2010, S. 27 mit Bezugnahme auf Kutsch/Pöttker 1997, S. 7). Dazu kam es erfreulicher Weise nicht.

2.9 Von der Publizistik- zur Kommunikationswissenschaft

Ein Wandel im Selbstverständnis der Publizistikwissenschaft beginnt sich ab Anfang der 1960er-Jahre zu entfalten. Für diesen Wandel steht die Bezeichnung »empirisch-sozialwissenschaftliche Wende« (Löblich 2010a und 2010b). Drei Faktoren – Löblich (2010b, S. 549) sieht in ihnen »Veränderungsdruck aus der Umwelt« – haben dabei im Wesentlichen zusammengewirkt (hier in der Reihung durch H. P.): 1) markante Einflüsse, die von der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft ausgingen; 2) das soziopolitische und -ökonomische Umfeld mit seinen damaligen medialen Veränderungen in Deutschland; sowie schließlich 3) der Generationenwechsel im Fach Publizistikwissenschaft. Dazu im Einzelnen: