Aufstand in Berlin

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frühmorgens allein durch die Stadt hastet, um die Zeitungen zu verteilen, oder was jemandem widerfährt, der gestern noch im tiefsten Anatolien durch den Basar lief. Das würde mir Spaß machen und meinen Zuhörern auch.“

Singer glaubte ihm dies aufs Wort. Es war nur schade, dass es Träume waren, unrealistischer noch als die des Thomas Morus.

„Dann musst du ihnen auch vom heiligen Franz von Assisi erzählen, ja?“, forderte ihn Luischen enthusiastisch auf.

Singer fand auf einmal, dass ihr Gesicht nicht mehr gewöhnlich, sondern vom Inneren beseelt und sogar schön zu nennen war.

„Du musst erzählen, wie er alles hingab, alle seine Reichtümer verschenkte und Mönch wurde und wie die Menschen und Tiere zu ihm kamen und wie er Wunder vollbrachte“, fuhr sie begeistert fort.

„Sie ist ein großer Anhänger von Franz von Assisi“, erklärte Jonas mit verständnisvollem Lächeln.

„Aber Kirchen würden nicht mehr gebaut werden, denn alle wollen sich es ja gut sein lassen!“, sagte Singer provozierend und kam sich dabei ein wenig schurkisch vor.

„Und was für Kirchen gebaut werden würden!“, widersprach Jonas unwillig. „Kirchen wie die Sagrada Familia in Barcelona mit vielen Türmen und Bogen und großen Hallen, die andächtiges Staunen auslösen und an Gottes Allmacht denken lassen. Was man heute baut, zeigt doch nur, wie sehr man die Menschen verachtet. Es wird nicht gebaut, um sie zueinander zu bringen, sondern sie werden in Wohnsilos weg gesperrt. Nein, ich würde so bauen lassen wie die alten Sumerer. Türme mit breiten Treppen, auf denen man dem Licht entgegen steigen kann. Mit großen Terrassen der Begegnung, auf denen wir in wolkenlosen Nächten den Sternen nahe sind. Ein Feuer würde auf der Plattform brennen, so wie in dem alten Tempel zu Jerusalem. Auch ein Altar würde da sein und jeder könnte hingehen und dort beten. Egal, wie er seinen Gott nennt, Christus, Allah, Buddha, Shiva, Kali oder Ahura Mazda.“

„Aber wer würde die Mühe auf sich nehmen und die Steine schleppen, in deinem Arkadien?“, gab Singer zu bedenken. Es tat ihm leid, dem Alten in die Parade zu fahren.

Jonas stutzte und starrte einen Moment vor sich hin und warf Singer einen vorwurfsvollen Blick zu, um dann triumphierend zu rufen:

„Maschinen. Ich habe vor kurzem in einer Zeitung gelesen, dass es bald Roboter gibt, die die Hausarbeit übernehmen. Es gibt doch Roboter, die Autos bauen und selbst in den Häfen gibt es kaum noch Menschen, die die Arbeit verrichten, sondern computergesteuerte Lastenschlepper. Es sind doch auch Roboter denkbar, die für uns Steine behauen und aufeinander schichten. Unsere Türme würden ohne Schweiß und Tränen gebaut werden.“

„Und ich würde die Menschen auf den Terrassen herumführen und ihnen erzählen, wieviel tausend Steine aufeinander getürmt wurden“, erklärte Fränzchen eifrig.

„Du würdest ihnen die Wunder unseres Königreiches zeigen“, stimmte Jonas zu und schilderte weiter, wie paradiesisch es in dem Land zugehen würde, das nach den Wünschen der Berber entstand. Singer hörte von riesigen Palästen der Glückseligkeit, wo kostenlos Wein und Haschisch verteilt würde, von Straßen, die von Platanen gesäumt zu Plätzen führten, die der Begegnung dienten und wo Jonas Geschichten erzählte. Und Singer sah nun nicht mehr, wie schäbig Jonas‘ Mantel aussah, wie billig das Kleid wirkte, das Luise trug, sah nicht mehr die ausgebeulten Hosen und fleckigen Jacken der anderen. Er sah nun, was sie sahen. Sie waren Fürsten in ihrem Königreich und ihre Mäntel waren aus rotem Samt und goldbestickt. Sie waren die Edlen eines neuen Geschlechts, und die einzige Währung, die in ihrem Land zählte, war die Phantasie.

Es war bereits sieben Uhr, als Singer seine Verabredung mit Helen bei Preminger einfiel. Preminger war die größte Kunsthandlung der Stadt. Helen hatte sich seit einiger Zeit darauf verlegt Kunst zu sammeln, und die Wände ihres Hauses legten Zeugnis von ihrer neuen Leidenschaft ab. Furchtbare Bilder, wie Singer fand, aber Helen sagte, dass es geniale Bilder wären. Singer bekam nie heraus, was genial daran sein sollte, wenn Leinwände nur eine rote oder schwarze Fläche zeigten oder gelbe und grüne Kleckse. Doch er gestand ihr zu, dass sie von moderner Kunst mehr verstand als er.

„Ich muss leider gehen!“ sagte er bedauernd zu Jonas.

„Warum? Es ist doch ein schöner Abend und wir haben ein gutes Gespräch.“

„Ich bin verabredet.“

„Schade … Aber wenn du es versprochen hast, dann musst du gehen“, antwortete der Weißbärtige lakonisch.

„Es war sehr schön. Dort wo ich hingehe, wird es sicher nicht so interessant sein.“

„Warum versprichst du dann, dorthin zu kommen?“

„Ich gehöre nicht zu eurem Königreich“, scherzte Singer.

„Aber vielleicht bist du auf dem Weg zu uns!“ gab der Weißbärtige zurück und schüttelte herzlich Singers Hand.

Ihre gefühlvollen Abschiedsworte taten ihm wohl. Er kannte sie kaum und in den Augen der Menschen, die er auf der Vernissage antreffen würde, waren sie nur Gescheiterte und Abschaum. Doch ihm war, als hätte er mit Freunden zusammen gesessen.

„Vielleicht komme ich nachher noch einmal vorbei.“

Jonas nickte zustimmend. „Gut. Aber dann komm ins Nikolaiviertel, ins Georgsbräu. Die brauen ihr Bier selbst. Es ist gutes Bier. Nach elf Uhr schlagen wir dort heute unsere Zelte auf.“

„Dann ist dort euer Königreich.“

„Ja. Dann schleppen wir es dorthin.“

Singer legte das Geld für die Hähnchen und den Wein auf den Tisch, winkte den neuen Freunden noch einmal zu und ging hinaus. Es war kühl geworden und er fror ein wenig. Wehmütig dachte er daran, wie froh und glücklich er sich noch vor wenigen Augenblicken gefühlt hatte. Er ging schneller und je weiter er sich von Szandors Bierstube entfernte, desto mehr fror er. Singer nahm sich fest vor, später zu Jonas und seinen Freunden zurückzukehren. Manitu würde sagen, dass du ein Spinner bist, dachte er glücklich.

4

„Schön, dass Sie doch noch kommen konnten.“

Singer schüttelte die Hand eines sehr jung aussehenden älteren Mannes mit blond gefärbten Haaren und etwas Rouge auf den Wangen. Der Typ, der im Kino den schwulen Hausfreund der verwöhnten Millionärsgattin spielt. Natürlich trug er einen Cashmere–Pullover, zwar nicht gelb, aber immerhin, und ein Tweedjackett im etwas veralteten Landhausstil. Wo kriegen die solche Sachen noch her? wunderte sich Singer. Er mochte den Mann nicht und war sich eigentlich sicher, dass ihn sein Gegenüber auch nicht mochte. Aber sie waren nun einmal gute Kunden, und Eduard war der Geschäftsführer der Galerie und deswegen aus Geschäftsinteresse sehr freundlich zu Singer.

Fürsorglich, als könne Singer den Weg nicht finden, begleitete er ihn in die große Ausstellungshalle, die wie immer bei den Vernissagen der Premingers gut besucht war. Er sah sich um. Es drängten sich wieder die gleichen Menschen hier, die auch sonst da zu sein pflegten. Wer in Berlin etwas mit Kunst zu tun hatte oder es für wichtig hielt, dies vorzugeben, war anwesend. Auch ein paar bekannte Politiker, sowohl von der Regierungspartei als auch von der Opposition.

Die Frauen sahen wie prächtige Flamingos aus, kurz bevor die Dämmerung kommt und das samtene Blau sie verhüllt. Jedenfalls erschienen sie Singer so melancholisch, gelangweilt und traurig. Sie waren schön und waren hier, um gesehen zu werden, und unter ihnen waren einige ansehenswerte Frauen. Wenn sie wie Flamingos nur still dastehen und sich bewundern lassen würden, wären sie vollkommen. Aber sie redeten, hörten nicht auf davon zu sprechen, wie außergewöhnlich, einmalig und sensationell die Arbeiten des Künstlers seien und blickten dabei abschätzend um sich, bereit einer Beute nachzuspüren. Sie waren immer noch auf der Jagd, obwohl bei einigen die Zeit dafür längst vorbei war.

Singer wurde sofort von einer Blondine in ein Gespräch gezogen. Obwohl er keine Ahnung hatte, worüber die Frau sprach, blieb ihm nichts anderes übrig als zuzuhören, sie anzustarren und zu nicken und ja oder nein zu sagen. In der Regel waren sie damit zufrieden.

Im Hintergrund spielte eine Jazzcombo und der Saxophonist gab sich Mühe einigermaßen wie Charlie Parker zu klingen. Die Platten auf dem Büffet sahen aus wie zerstörte und geplünderte Kriegsschiffe. Singer hatte keinen Hunger.

„Ihre Frau ist dort drüben“, sagte Eduard und drückte Singer ein Sektglas in die Hand. Die Blondine mit einem sehr offenherzigen Kleid, das zudem nur knapp ihren Schoß bedeckte, wandte sich enttäuscht ab, als sie bemerkte, dass er ihrem engagierten Vortrag nicht aufmerksam folgte.

„Ihre Frau führt gerade ein wahnsinnig interessantes Gespräch mit dem Künstler. Umwerfend interessant. Es gibt nur wenige Sammler, die so ein Interesse und Kunstverständnis haben wie Ihre Frau“, lobte der Geschäftsführer.

Singer nickte höflich. Er kannte diese Gespräche, und er hatte keine Lust, die atemlosen Fragen seiner Frau und die gelangweilten, routinierten Antworten zu hören, die vermessenen Vergleiche mit Max Ernst, Polke und Picasso, und die Mutmaßungen, was diese gedacht hatten, wie man jetzt denken musste und wie man die Gegenwart zu verarbeiten hatte.

Alle Bilder zeigten Hände. Rote, grüne, gelbe und blaue Hände, manche mahnend erhoben, manche zu Fäusten geballt. Hände, die berührten, streichelten und schlugen. Malen kann er jedenfalls, dachte Singer.

Helen hatte ihn entdeckt und winkte ihm zu. Es standen viele attraktive Frauen um sie herum, aber sie war sicher eine der auffälligsten. Sie war groß und immer noch schlank und ihr blondes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall auf die Schulter. Ihr schmales Gesicht mit der etwas zu langen Nase mit den hohen Backenknochen unter den blauen Augen gab ihr ein aristokratisches Aussehen. Sie sah von hinten aus wie zwanzig und auch von vorn war sie keine Enttäuschung und konnte immer noch als Dreißigjährige durchgehen. Er wusste, wie sehr sie die Männer faszinierte und jeden haben konnte, wenn sie es darauf anlegen würde. Das schönste an ihr war der breite Mund, der oft ein siegesgewohntes Lächeln zeigte, als wolle sie sagen: Gestehe. Ich gefalle dir. Meistens traf es zu. Er wusste nicht, ob sie ihn jemals betrogen hatte. Sie war zu klug dafür oder zu desinteressiert und es reichte ihr die Bewunderung. Einst war er sehr stolz auf ihre Schönheit gewesen.

 

Singer wies auf die Bilder und deutete an, dass er sich erst einmal mit den Kunstwerken beschäftigen wollte und sie nickte zustimmend. Doch bald hatte er die Finger satt und beobachtete wieder die Besucher. Vor allem die Frauen. Nur sie waren interessant. Die Männer, viele von ihnen in dunklen Anzügen, einige sogar im Smoking, wirkten in der Regel farblos, unsicher und meist wie abgestellte Beutestücke. Abgesehen natürlich von den Künstlern.

Singer teilte die Künstler, waren es nun Maler, Aktionskünstler, Filmleute oder Schriftsteller, in drei Kategorien ein. Bei den Arrivierten gab es die, die gnädig ihre Gunst verströmten und so taten, als würden sie dem Club der Unsterblichen angehören, als wäre es eine Gnade, dass sie sich überhaupt mit Menschen abgaben, die nicht jeden Tag ein Meisterwerk schufen. Der andere Typus zelebrierte eine huldvolle Bescheidenheit, sprach leise von den Leiden des Künstlers, von seiner Einsamkeit und seinen Qualen und von der Gnade, die ihm geschenkt worden sei und dass sein Werk nur ein kleiner Beitrag zu der Kunst der heutigen Zeit sein könne. Wenigstens waren sie friedlich. Ganz im Gegensatz zu den professionellen Rebellen, die meist nur finster blickend dasaßen, die Fäuste geballt, und angewidert und mürrisch antworteten. Man ließ es ihnen durchgehen und interpretierte die höhnische Art, wie sie ihre Bewunderer behandelten, als ein Zeichen ihres ungebrochenen Rebellentums. Meistens sahen sie aus wie die Kopie von Rainer Werner Fassbinder.

Die dritte Kategorie stellte die neu Entdeckten, deren Schüchternheit nicht gespielt war und die sich mit hochrotem Gesicht im Hintergrund hielten und nervös von einem Fuß auf den anderen traten und sich wünschten, dass endlich alles vorbei wäre.

Sie waren Singer am sympathischsten, weil er sie verstehen konnte. Sie erinnerten ihn daran, wie nervös er früher einmal gewesen war, wenn er den Aktionären die Bilanzergebnisse vorstellen musste und an seine Enttäuschung darüber, dass sie selbst gute Ergebnisse nur mit schwachem Beifall belohnten.

„Nun, wie finden Sie ihn?“

Die Preminger. Ihr gehörte die Galerie. Eduard war nur ihr Angestellter. Eine große Frau mit schwarzen lockigen Haaren und grauen Augen, einer leicht gebogenen Nase mit sehr beweglichen Nasenflügeln und einem knutschigen Mund. Ihr dunkler Hautton gab ihr ein fremdländisches Aussehen. Singer hatte anfangs angenommen, dass sie eine Libanesin oder Jüdin sei. Aber Helen hatte dazu gelacht und ihn aufgeklärt, dass der Vater der Preminger ein rumänischer Faschistenführer gewesen war, der in den letzten Kriegsmonaten nach Deutschland geflüchtet sei. Auf jeden Fall war sie eine interessante Erscheinung. Sie mochte um die vierzig sein, aber sie sah jünger aus. Die gestrafften Wangen verrieten, wenn das Licht nicht so günstig war wie hier im Ausstellungsraum, die Arbeit hervorragender Chirurgen.

„Erstaunlich“, gab Singer verlegen zur Antwort.

Sie war die Gastgeberin, und er sah keinen Sinn darin sie zu kränken, indem er gestand, dass er sich langweilte. Schließlich war er mehr oder weniger freiwillig hier.

„Nicht wahr?“, jubelte die Preminger. „Ihre Frau ist auch ganz begeistert. Er verkauft sich irrsinnig gut. Stellen Sie sich vor, sogar Thiel, der große, große Thiel, hat ihn gelobt. Die Komplexität seiner Werke. Seinen Brückenschlag zwischen Renaissance und Moderne. Ich bin sehr stolz, dass wir ihn exklusiv haben.“

„Ist ja allerhand, sogar der Thiel!“, staunte Singer, obwohl ihm der Name nicht viel sagte. Er wusste nur, dass Helen sich ein Objekt von ihm wünschte.

„Noch ist Schanek nicht teuer!“, lockte die Preminger.

Wenigstens ist sie ehrlich, dachte Singer. Sie kommt gleich zur Sache. Schließlich gibt es deswegen den Champagner. Und gar nicht einmal schlechten.

„Ich denke, er ist so gefragt?“, antwortete er mit ironischem Lächeln. Die Grauäugige warf den Kopf zurück und lachte kehlig, fuhr sich durchs Haar und schüttelte ihre lockige Mähne.

„Es ist ja gerade die Kunst etwas zu kaufen, bevor es teuer wird. In spätestens einem Jahr wird er Irrsinnspreise erzielen. Da bin ich mir ganz sicher. Warten Sie mal ab, was passiert, wenn erst einmal die Hand auf dem Pariser Platz aufgestellt wird.“

„Eine Hand?“, fragte Singer irritiert und sah zu den Bildern hinüber.

„Genau genommen die Hand mit einem ausgestreckten Finger. Die Hand Gottes. Sie kennen doch das berühmte Bild von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle. Gott und Adam. Der ausgestreckte Zeigefinger Gottes. Dieses Bild hat Schanek zu seiner Skulptur inspiriert. Eine Mahnung an die Menschen. Acht Meter hoch. Eine überdimensionale Reproduktion der Hand Gottes mit dem ausgestreckten mahnenden Finger.“

„Und was soll das Ganze?“, fragte Singer ratlos.

„Ein Menetekel! Eine Warnung“, hauchte sie bedeutungsvoll und ihre Augen blickten, als sehe sie eine Schrift an der Wand.

„Wovor?“, fragte er nüchtern.

„Fragen Sie ihn doch selbst.“

„Auf Michelangelos Bild spendet der Finger Leben, und Ihr Schanek macht etwas Düsteres daraus.“

„Um Gottes willen, lassen Sie das nicht unseren Künstler hören. Sie wissen ja gar nicht, wie empfindlich Schanek ist. Überhaupt Künstler, wenn man tagtäglich mit ihnen zu tun hat, erlebt man Dinge, sage ich Ihnen … unfassbare Dinge. Ich bin froh, wenn ich mich mal mit einem normalen Menschen unterhalten kann. Ihr Männer aus der Wirtschaft seid so ganz anders. So gediegen, so zuverlässig.“

„Ich bin wie jeder andere Mann auch“, sagte Singer verlegen. Die Preminger legte ihm die Hand auf den Arm.

„Ich finde Sie sehr, sehr sympathisch“, sagte sie und der Druck ihrer Finger verstärkte sich. Singer fühlte sich gegenüber Frauen, die so direkt die Initiative ergriffen, stets hilflos. Er konnte nie einschätzen, wie ernst sie es meinten oder ob es nur eine Pose war, wie es von sich emanzipiert gebenden Frauen als chic empfunden wurde.

„Sehr gesprächig sind Sie nicht gerade!“

„Ich gehöre zu den Schüchternen“, gestand Singer.

Mit einem Lächeln gab er zu erkennen, dass sie dies als Koketterie ansehen sollte. Die Grauäugige nahm die Perlenkette in den Mund und sah ihn scheinbar nachdenklich von der Seite an, als denke sie über die Ernsthaftigkeit seiner Worte nach. Ihre grauen Augen funkelten begehrlich.

„Ich mag schüchterne Männer!“, flüsterte sie.

Sie waren durch die Galerie gegangen und stießen in der Ecke, neben dem Buffet, auf Helen, die immer noch mit dem Künstler zusammenstand. Er gehörte zu der Sorte, die Singer am wenigsten mochte. Er hatte das revolutionäre Gehabe gerade erst abgelegt und spielte bereits den Arrivierten, ohne es zu sein.

„Hier wurde eine interessante Frage aufgeworfen. Wovor wird die Skulptur auf dem Pariser Platz warnen?“

Die Preminger stellte Singer kurz vor. Der Künstler nahm mit einem unwilligen Blick zur Kenntnis, dass er es mit dem Mann seiner Gesprächspartnerin zu tun hatte, verbeugte sich leicht und murmelte etwas.

Helen hauchte Singer einen Kuss auf die Wange und hakte sich bei ihm unter.

„Schade, dass du so spät kommst. Es war ein wahnsinnig interessantes Gespräch“, rief sie und warf Schanek einen bewundernden Blick zu.

„Wir haben uns sehr angeregt unterhalten“, bestätigte der Künstler. „Ich beneide Sie um Ihre Frau. Ich habe nur wenige kennengelernt, die so fundiert über Kunst sprechen können.“

„Hört, hört!“, kommentierte die Preminger mit ironischem Lächeln.

„Meine Frau versteht sich auf so etwas“, antwortete Singer trocken.

„Was bedeutet nun die Hand?“, wiederholte die Preminger ungeduldig ihre Frage. Es schien ihr nicht besonders zu gefallen, dass ihr Star und Helen so voneinander angetan waren.

„Es ist eine Mahnung, das Wesentliche nicht zu vergessen.“

„Das Wesentliche“, hauchte Helen beeindruckt.

„Und was ist das Wesentliche?“, fragte Singer und erntete sowohl von der Preminger als auch von Helen einen vorwurfsvollen Blick.

„Das Leben.“

„Ich verstehe“, sagte Singer und hoffte, dass dies stimmte.

Auf Michelangelos Bild spendete Gott Leben, und Schanek wollte mit der Hand wohl ausdrücken, dass dies ein Geschenk war und dass man bewusster leben sollte. Jedenfalls reimte Singer sich dies so zusammen und fand nun die Skulptur sinnvoller als manche, die bereits in der Stadt standen.

„Woraus ist Ihre … … Plastik?“, fragte er den Künstler.

„Plastik? Natürlich aus Bronze. Wir haben die Hand in Mailand gegossen. Nur in Mailand findet man die Leute, die so etwas machen können. Es wird die größte freistehende Figur sein, die in diesem Jahrzehnt aufgestellt wurde.“

Er sagte dies mit einem Pathos, als verkünde er ein neues Zeitalter und so verstand er es wohl auch.

Schanek war ein großer stämmiger Mann mit struppigem, rötlichem Haar, einem Schnauzer und roten Augen. Auf den ersten Blick sah er nicht unsympathisch aus. Es war sein Sendungsbewusstsein, die Überzeugung von der eigenen Wichtigkeit, die ihn so unerträglich machten.

„Und die Hand ist wirklich so wie Michelangelo sie gemalt hat?“, fragte Helen vor Bewunderung ganz aufgeregt.

„Es ist original die Hand des göttlichen Funkens. Eins zu eins. Nur vergrößert. Thiel gefiel die Idee.“

Dies schien den Wert des Kunstwerks zu verdeutlichen. Damit war es eine bedeutende Schöpfung. Helen und die Preminger nickten eifrig.

„Du arbeitest ja oft mit Thiel zusammen“, sagte die Preminger, um noch einmal zu unterstreichen, welch bedeutenden Künstler sie vertrat.

„Ich war sein Meisterschüler. Wir sprechen die gleiche Sprache“, antwortete er. „Die gleiche Vibration, du verstehst?“

„Es muss aufregend sein, mit ihm zu arbeiten“, hauchte die Preminger.

„Er ist ein Großer“, bestätigte Schanek. „Vielleicht sogar der Größte.“

„Er bekommt fünfhunderttausend Euro pro Auftrag“, ergänzte die Preminger.

„Natürlich ist er ein Medienprodukt“, wiegelte nun Schanek ab. „Du verstehst, was ich damit sagen will.“

Singer hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Helen dagegen schien im Bilde zu sein.

„Mehr kann man nicht erreichen“, sagte sie ergriffen.

„Michelangelos Hand wird meinen Anspruch sichtbar machen. Ein Brückenschlag zu den alten Meistern. Genau so absolut.“

„Genauso absolut“, wiederholte Helen.

Singer schämte sich für sie. Sie war einmal anders gewesen. Selbstbewusst und kritisch. Sie hatte es früher nicht darauf angelegt, anderen zu gefallen. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Helen studierte an der Kunstakademie. Im Café Zuntz auf dem Kurfürstendamm hatten sie sich kennengelernt. Helen hatte am Nebentisch gesessen und ihn auf seine bewundernden Blicke hin angelächelt. So banal hatte es begonnen. Noch am gleichen Abend waren sie miteinander ins Bett gegangen. Seine Freunde hatten ihn um diese Schönheit sehr beneidet und er war sehr stolz auf sie gewesen. Ihre blonden Haare trug sie damals so kurz wie ein Junge. Als sich herausstellte, dass sie aus sehr begüterter Familie war, die den Singers kaum nachstand, war dies kein Nachteil gewesen. Es stand sehr früh fest, dass sie heiraten würden. Schon wenige Jahre nach der Hochzeit endete die Zeit der heiser geflüsterten Liebesschwüre. Ihre Beziehung glitt ins Fahrwasser verlässlicher Kameradschaft. Dies ließ sie jahrzehntelang eine gute Ehe führen. Sie war immer noch schön. Noch immer sahen die Männer sie mit glitzernden Augen an.

Auch Schanek schien von ihr sehr angetan zu sein. Es stimmte Singer traurig, dass sie ihm jetzt so töricht vorkam. Er zuckte zusammen, als Helen begeistert aufschrie, nachdem Schanek gesagt hatte, dass seine Skulptur in der kommenden Nacht aufgestellt werden würde.

„Nachts? Das ist ja irrsinnig geheimnisvoll.“

„Hat aber ganz profane Gründe. Tagsüber würde es den Verkehr Unter den Linden und die Anreisenden vor dem Adlon zu sehr stören. Der Regierende Bürgermeister wird auf jeden Fall dabei sein, natürlich auch einige vom Senat und der Vertreter des Bundestagspräsidenten.“

 

„Ein großer Bahnhof“, sagte die Preminger andachtsvoll. „Direkt vor der Akademie der Künste. Dort wo Speer einmal sein Büro hatte.“

„Seit Breker hat sich niemand an eine solche Arbeit herangewagt“, sagte Schanek selbstzufrieden.

„Ein wichtiger Augenblick für dich“, huldigte ihm die Grauäugige.

„Ja, es werden eine Menge Pressefritzen kommen. Sogar der Stern, die FAZ, die Welt und der Spiegel wollen jemanden schicken. Natürlich ist auch der Tagesspiegel da und die gesamte Berliner Presse.“

„Sogar der Stern?“, wiederholte Helen und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Das hast du mir noch nicht gesagt“, schmollte die Preminger.

„Ist das wichtig für dich?“, fragte Schanek und zwinkerte Helen zu.

„Ach, du bist ein Schlimmer. Natürlich weißt du, wie wichtig es für mich ist“, sagte die Preminger und schlug mit ihrer langen Perlenkette nach Schanek. Der große Künstler lachte und drückte sie an sich und die Grauäugige ließ es sich gickernd gefallen.

„Du hoffst doch nur, dass der Stern auch etwas über deine Galerie bringt.“

„Natürlich. Ich weiß, was wir tun werden“, legte die Preminger aufgeregt los. „Wir veranstalten hier vor der Einweihung eine kleine Party und gehen dann später auf den Pariser Platz. Ich lade alle Freunde der Kunst ein.“

„Und die Journalisten, nicht wahr?“, unterbrach Schanek sie lachend.

„Natürlich. Ich klemme mich morgen früh sofort ans Telefon. Du musst mir die Namen der Journalisten geben, die ihr Kommen zugesagt haben. Es wird Taittinger geben und kleine Häppchen aus dem KaDeWe. Du wirst sehen, sie werden sich wohl fühlen und begeistert sein.“

„Wann wird denn dieses wundervolle Werk aufgestellt?“, fragte Helen.

„So um zwölf.“

„Na prima, „ freute sich die Preminger. „Wir feiern anschließend auf dem Pariser Platz weiter. Wir werden Champagner mitnehmen.“

„Ich würde mich freuen, wenn Sie und natürlich auch Ihr Mann dabei sind“, sagte der Künstler nach einem vorsichtigen Blick auf Singer.

„Aber gern“, jubelte Helen. „Eugen, wir werden doch dabei sein, nicht wahr? Wir müssen dabei sein.“

Singer nickte. Ihm blieb kaum eine andere Wahl, wenn er nicht unhöflich erscheinen wollte.

„Du musst auch den Bürgermeister einladen. Unbedingt. Und natürlich auch die vom Senat und den Vertreter des Bundestagspräsidenten. Er selbst kann leider nicht kommen, weil er eine Delegation aus Israel für wichtiger hält, dieser Schmock.“

„Beyer? Ach, ich mag diesen Sozi eigentlich nicht. Ich verstehe gar nicht, warum der so beliebt ist. Aber lustig ist er. Keine Feier ohne Beyer heißt es doch in Berlin. Du hast recht, ich muss ihn hierher bekommen. Er kauft zwar bei Herkner am Kurfürstendamm. Wahrscheinlich haben die auch das rote Parteibuch. Alles was im Roten Rathaus hängt, hat er von Herkner. Wie oft habe ich ihn schon eingeladen, immer hat er sich entschuldigen lassen. Ich bin halt keine Berlinerin.“

„Diesmal wird er vielleicht kommen. Setz deinen Charme ein. Ich habe noch keinen Mann erlebt, der dann nicht schwach wurde.“

„Du entsetzlicher Mensch, du“, lachte die Preminger und hing sich wieder bei ihm ein. „Ist er nicht entsetzlich?“, fragte sie Singer und strich dabei dem Künstler über die Schulter.

„Was zahlt man dir für die Hand?“, fragte sie leise.

Schanek spitzte den Mund und drehte sich um. Natürlich sahen alle zu ihnen herüber – die Frauen mit eifersüchtigen Augen und der Frage im Gesicht, warum sie nicht dazu gehörten.

„Zweihunderttausend“, flüsterte Schanek. Er flüsterte so laut, dass es auch der neidische Anhang mitbekam. Die Köpfe neigten sich überall zueinander. Der Geräuschpegel stieg. Irgendwo knallte bestätigend ein Sektkorken.

„Du bist der Größte“, sagte die Grauäugige. Der Respekt war nicht geheuchelt. Sie war wirklich beeindruckt.

Auch Helen schloss sich beeindruckt, die Hand an den Mund gelegt, dieser Meinung an. „Noch nie hat die Stadt so viel für eine Skulptur ausgegeben.“

„Und dabei müssen sie sparen“, verstärkte die Preminger das Lob. „Sie sparen an allen Ecken und Enden. Die Straßen in Berlin sind in einem jämmerlichen Zustand. Es ist ein Wunder, dass sie soviel Geld ausgeschwitzt haben.“

„Der Regierende hat mir geholfen, die Banausen zu überzeugen.“

„Der Regierende persönlich?“

„Wir haben es im Borchardt ausbaldowert. Die Kirsten hat mir sehr geholfen.“

„Wo hat die nicht ihre Finger drin?“, fragte die Grauäugige eifersüchtig. „Aber ihre Talkshow wird immer schlechter. Sie muss jetzt die Teilnehmer schon mit dem Lasso einfangen, wenn sie die in ihre Sendung kriegen will.“

Singer verglich das, was er gerade hörte, mit Jonas‘ Träumen. Er wünschte, er wäre in Szandors Bierstube geblieben. Demonstrativ sah er auf die Uhr und warf Helen einen bezeichnenden Blick zu. Helen schüttelte den Kopf.

„Mich wundert, dass Rolli noch nicht da ist“, hielt sie das Gespräch in Gang. Singer kannte Rolli nur aus den Magazinen, die Helen las und die bei ihnen herumlagen. Rolli war der Friseur der Reichen und Schönen, auf jeden Fall der Prominenten. Er frisierte die Kirsten und natürlich alle, die sich danach sehnten, ihre Haare von den gleichen Händen befummeln zu lassen, die das Haupt der Kirsten verschönten. Natürlich gehörte Helen zu seinen begeisterten Kundinnen.

„Er konnte nicht kommen“, erklärte die Grauäugige. „Er hat mich höchstpersönlich angerufen. Leider, leider hat er einen wichtigen Termin.“

„Wahrscheinlich muss er in irgendeiner Talkrunde sein Gesicht in die Kamera halten“, sagte Schanek ungnädig.

„Jeder will ihn haben“, verteidigte Helen ihren Friseur.

„Jeder. Aber er ist ja auch so klug.“

„Sind Sie eigentlich mit Thomas Singer verwandt?“, fragte die Preminger Eugen Singer, unvermittelt das Thema wechselnd.

„Eigentlich nicht. Nicht wirklich. Er ist der Stiefsohn meines Onkels“, gestand Singer zögernd.

„Man hört über ihn ja allerhand.“

„Was denn?“, fragte Singer mäßig interessiert.

„Er soll eine silberne Nase haben. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Er hat Geld genug“, sagte Singer gelangweilt. Er hatte auch davon gehört, aber gab nichts auf das Gerede.

„Du solltest es deinem Onkel stecken, damit er sieht, was für ein Früchtchen er großgezogen hat“, sagte Helen.

„Er weiß, wer und was sein Stiefsohn ist.“

Dann wandte man sich anderen Themen zu und hechelte wieder die Berliner Prominenz durch. Berlin hatte längst München als Stadt der Reichen und Schönen, auf jeden Fall der Berühmten abgelöst.

„Wir müssen jetzt wirklich gehen. Ich habe morgen einen schweren Tag“, unterbrach er schließlich die Preminger, die nun davon erzählte, welcher Schauspieler es mit wem trieb.

Nachdem er mit einem Blick zu Helen auf die Uhr getippt hatte, war diese, wenn auch widerstrebend, bereit zu gehen.

Als sie draußen auf dem Boulevard waren, stellte sie schalkhaft lächelnd fest, dass er sich diesmal offenbar gut amüsiert hatte.

„Die Preminger wich dir ja heute nicht mehr von der Seite.“

„Sie war die Gastgeberin. Ich konnte sie ja schlecht wegscheuchen.“

„Du machtest nicht den Eindruck, dass du dich belästigt gefühlt hast.“

„Hör doch auf, ich habe weiß Gott andere Sorgen“, antwortete er unwillig, aber nicht zu unfreundlich. Er musste ihr noch beibringen, dass er nicht mit ihr nach Hause fahren würde.

„Ich weiß“, antwortete sie. „Breitschmidt hat mich angerufen.“

Sie gingen zum Adlon hinüber, in dessen Garage ihr Wagen geparkt war. Als gute Gäste des Hauses und gegen ein entsprechendes Trinkgeld war der Portier gern bereit, ihnen diesen Service zu bieten.

Verdutzt blieb Singer auf dem Mittelstreifen stehen.

„Was wollte er von dir?“