Das Mädchen im Moor

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Dienstag, 11. September 2007, Langenhagen

Sibylle Häcking wollte den Brief gerade in Sörens Zimmer bringen, da fiel ihr Blick auf den Absender: Sabine Mahnke, Oskar-Wolff-Straße, 29664 Walsrode. Sie war wie elektrisiert. Mathias’ Schwester. Bisher hatte sich die frühere Schwägerin an die Absprache gehalten und keinerlei Kontaktversuche unternommen, um Sören in Ruhe, abgeschirmt von seinem leiblichen Vater und dessen Familie, aufwachsen zu lassen. Was veranlasste diese Frau, Sören jetzt plötzlich nach all den vielen Jahren zu schreiben? In dieser Situation!

Sibylle Häcking war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte sie Sören diesen Brief zumuten?

Boahh! Was war das für ein hässlicher Vogel, der ihn da im Spiegel angrinste: Adlernase, abstehende Ohren, rotblonde Haare und Pickelgesicht! Furchtbar! Sören hasste es, seine Aknesalbe aufzutragen. Schon das Kämmen war eine Qual. Denn das hieß unweigerlich, dass er sich im Spiegel betrachten musste. Und er hasste sein Spiegelbild, fand sich hässlich mit seiner stets geröteten Gesichtshaut, dem langen Hals und den wuchtigen Wangenknochen. Ekelhaft! Aber so hässlich wie in diesem Moment hatte er sich schon lange nicht mehr gefunden. Er schämte sich, mit diesem Monstergesicht weiter zur Schule gehen zu müssen, war sich hundertprozentig sicher, dass bald alle Welt in seinen widerlichen Gesichtszügen den Mörderbubi erkennen würde, der er ja auch in Wirklichkeit war.

Wenn ich meine dämliche Visage wenigstens hinter einem Bart verstecken könnte, ging es ihm durch den Kopf. Aber außer diesen paar Härchen am Ohr konnte von Bartwuchs noch keine Rede sein. Das Einzige, was in meinem Gesicht wächst, sind die Pickel.

Als er sich erneut im Spiegel betrachtete, stellte er mit Entsetzen fest, dass einer dieser Auswüchse zu allem Überfluss auch noch stark vereitert war und die linke Wange regelrecht entstellte. Kurzentschlossen suchte er sich seine spitze Nadel. Er stach auf den Pickel ein, dass der Eiter herausplatzte. Als er das gelbliche Zeug mit einem Papiertaschentuch abtupfte, stellte er fest, dass Blut aus der Wunde sickerte. »Scheiße. Das ist doch alles bloß noch zum Kotzen.«

Die Enthüllungen über seinen Vater hatten ihn schwer getroffen, er war seit jenem Sonntagabend nicht mehr derselbe, hatte sich am darauffolgenden Tag in seinem Zimmer eingeschlossen und die Schule geschwänzt.

Er machte seiner Mutter Vorhaltungen:

»Du hast mich in einem fort belogen, die ganze Zeit hast du mir nur Scheiße erzählt«, klagte er. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Hast du etwa gemeint, du könntest die Wahrheit bis in alle Ewigkeit vor mir verbergen, oder was?«

»Ich …, ich habe mir gedacht, dass du erst mal erwachsen werden musst, um damit fertig zu werden. Das war es wohl«, sagte seine Mutter. »Aber ich weiß, dass …«

»Dass was? Dass es nicht leicht ist, ein …« Er zog das Wort in die Länge. »Mörderkind zu sein, willst du sagen? Das meinst du doch, oder?«

»Sören, bitte.«

»Lass mich. Lass mich bloß in Ruhe, du Lügnerin.«

Und dann hatte er seine Mutter aus seinem Zimmer gedrängt und die Tür von innen abgeschlossen.

Seither hatte Sibylle Häcking praktisch kein Wort mehr mit ihrem Sohn gesprochen. Sie fürchtete, dass er sich etwas antun könnte in seinem Zimmer; immer wieder an die Tür geklopft hatte sie, gebettelt: »Lass uns reden, Sören, bitte, bitte lass uns reden, ich kann doch auch nichts dafür.« Doch er antwortete nicht, hatte irgendwann nur die Anlage eingeschaltet und seine harten, lauten Rap-Gesänge laufen lassen. Immerhin ein Lebenszeichen.

Auch mit seinem Stiefvater sprach er nicht. Das Verhältnis der beiden war nie gut gewesen. Schon als Kind hatte Sören das Gefühl gehabt, dass Gerd, so nannte er seinen Stiefvater, ihn ablehnte. Ein Gefühl, dass noch stärker wurde, als Tobias zur Welt gekommen war, Sörens kleiner Bruder Tobi. Nein, es war kein Wunder, dass er sich jetzt weigerte, mit Gerd zu sprechen.

Als stundenlang nur diese Musik in seinem Zimmer zu hören war, drohte seine Mutter, die Polizei zu rufen, falls er nicht endlich antworte. Das wirkte schließlich. »Lass mich in Ruhe!«, rief Sören. »Hör endlich auf mit der dämlichen Nerverei, verdammt noch mal.«

Seine Mutter atmete auf. »Ich will dich ja in Ruhe lassen«, sagte sie. »Aber du musst mir versprechen, dass du keine Dummheiten machst. Versprichst du mir das? Bitte, Sören! Ich hab doch solche Angst.«

»Lass mich!«

Dann war Gerd gekommen, der als Anästhesist in der Medizinischen Hochschule Hannover tätig war und mal wieder einen anstrengenden Nachtdienst hinter sich hatte. Der etwas untersetzte Mann in den abgewetzten Jeans legte fürsorglich den Arm um sie und führte sie ins Wohnzimmer wie eine Patientin, der er eine schlimme Nachricht zu übermitteln hatte.

»Hat doch keinen Sinn, dass du hier die ganze Nacht vor seiner Tür rumstehst«, sagte er. »Vielleicht muss er wirklich erst mal zur Ruhe kommen. Morgen rufen wir den sozialpsychiatrischen Dienst an, vielleicht können die ja helfen. Aber du musst auch an dich denken – und an Tobi. Der macht sich bestimmt auch Sorgen.«

Sibylle Häcking verstand die Bemerkung als Befehl. Leise öffnete sie die Zimmertür ihres Jüngsten. Als sie sah, dass Tobias sie mit großen Augen anstarrte, beschloss sie, ihm eine Erklärung für die verworrene Situation zu geben. Es musste einfach sein. Sie teilte dem Jungen mit, dass Sörens Vater aus Amerika zurückgekehrt sei und schon bald wieder fortwolle … Eine neue Lüge. Aber was hätte sie sonst sagen sollen? Etwa die Wahrheit? Zum Glück war Tobias zu müde und verwirrt, um Fragen zu stellen.

Sibylle Häcking machte kein Auge zu in dieser Nacht, stand immer wieder vor Sörens Tür, horchte darauf, dass sein Bett knarrte, dass Schlafgeräusche herausdrangen. Irgendwas.

Sören blieb der Schule nur einen Tag fern. Am Dienstag stand er plötzlich auf, aß, ohne ein Wort zu sagen, zwei Toast, packte Apfel, Banane und Müsliriegel ein und huschte schweigend aus dem Haus.

Wie ihr Mann ihr geraten hatte, rief Sibylle Häcking gleich am Montagmorgen bei der Beratungsstelle an. Dort empfahl man ihr einen Psychologen. Doch Sören weigerte sich, mit einem »Seelendoktor« zu reden, und so legte sie den Plan zunächst auf Eis.

Sie kam auf die Idee, bei dem empfohlenen Psychologen anzurufen, um sich wegen des Briefs den Rat eines Profis zu holen. Erleichtert, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, wählte sie die Nummer. Nach beharrlichem Drängen bekam sie die erhoffte Empfehlung: »Ich denke, es hat jetzt keinen Sinn mehr, die Wirklichkeit länger von Sören fernzuhalten«, sagte der freundliche Mann am anderen Ende der Leitung. »Sören sollte die Gelegenheit erhalten, sich Stück für Stück an seinen Vater heranzuarbeiten. Es ist besser, dass er seinen Vater kennenlernt, als wenn er weiter mit einem Phantomvater leben muss – und dem Gefühl, ein Mörderkind zu sein.«

Damit war die Sache für Sibylle Häcking klar. Schweren Herzens legte sie den Brief auf Sörens Schreibtisch.

Bis kurz nach drei hatte Sören Unterricht. »Also dann bis heute Abend«, rief ihm sein Mitschüler und Fußballkumpel Simon zu, als er auf sein Fahrrad zustrebte. »Du kommst doch heut zum Training, oder?«

»Eher nicht. Geht mir noch nicht so gut.«

Er spürte, dass Simon ihm argwöhnisch nachblickte. Die Erklärung mit der Magen-Darm-Verstimmung war offenbar nicht besonders überzeugend. Doch schon gleich, als er aufs Rad stieg, krampfte sich sein Magen tatsächlich zusammen und dieses Gefühl der Ausweglosigkeit kam wieder über ihn. Wie sollte es weitergehen? Wie sollte er mit dem Kerl umgehen, der plötzlich als sein Vater in sein Leben getreten war? Wie würde man ihn anstarren, wenn sich erst herumgesprochen hatte, dass er der Sohn eines Verbrechers, eines Mörders war? Wie sollte er sich gegenüber seiner Mutter verhalten?

Je näher er seinem Elternhaus kam, desto unüberwindlicher erschienen ihm die Probleme. In der Schule war alles noch leichter gewesen. Da war einigermaßen klar, was er zu tun hatte, da wurden ihm keine großen Entscheidungen abverlangt. Aber zu Hause: Alles Scheiße!

»Möchtest du noch was essen?«, fragte seine Mutter, als er zur Tür hereinkam.

»Hab ich schon.«

»Ich, äh, hab dir einen Brief auf deinen Schreibtisch gelegt. Wenn du willst, können wir gern darüber reden.«

Er spürte die Unsicherheit, die sich in der brüchigen Stimme ausdrückte, fragte sich, was es wohl mit dem Brief auf sich hatte, sah aber keinen Grund, auf den Vorschlag einzugehen.

Schweigend ging er in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Dann sah er auch schon den Brief. Er riss ihn auf und las:

»Lieber Sören,

ich kann mir vorstellen, dass zurzeit viel auf Dich einstürmt, das Dir Sorgen macht und Dein bisheriges Leben durcheinanderwirbelt. Ich hoffe, dass ich Deine Lage mit meinem Brief nicht noch komplizierter mache, sondern Dir helfen kann. Aber bevor ich zu den Einzelheiten komme, will ich mich erst einmal kurz vorstellen. Denn wir haben uns ja bisher noch gar nicht kennengelernt.

Also, ich bin Sabine, die Schwester Deines Vaters, und ich lebe immer noch in Walsrode. Gern hätte ich Dich einmal eingeladen oder in Langenhagen besucht, aber Deine Mutter wollte nicht, dass Du mit der Familie Deines Papas zu tun hast. Ich habe das bedauert, aber schließlich akzeptiert. Natürlich habe ich Verständnis für Deine Mutter. Es muss furchtbar für sie gewesen sein – wie für uns alle.

Aber ich glaube, dass sich Deine Mutter in einem entscheidenden Punkt irrt, und dies ist der eigentliche Grund, warum ich Dir schreibe: Aus meiner Sicht ist Dein Vater damals zu Unrecht verurteilt worden. Ich glaube ihm, wenn er sagt, dass er Annika nicht getötet hat. Und es gibt manche Ungereimtheiten in diesem Fall, die seine Sicht der Dinge stützen.

 

Es ist natürlich unmöglich, Dir in einem Brief all die Dinge zu schildern, die so lange zurückliegen. Zu Deinem Verständnis aber in aller Kürze die damalige Situation: Dein Vater, der mit mir zusammen in Walsrode aufgewachsen ist, war seit fünf Jahren am Gymnasium Walsrode Lehrer für Deutsch und Politik – ein sehr beliebter Lehrer, was auch nach diesem, entschuldige das blasse Wort, ›Fall‹, von niemandem bestritten wurde. Vielleicht war er bei manchen Schülerinnen allzu beliebt und wahrscheinlich ist ihm das letztlich sogar zum Verhängnis geworden. Denn fest steht, dass Dein Vater mit Annika ein ›Verhältnis‹ hatte, wie man so sagt. Das hat er auch nie bestritten. Er hat es von vornherein bereut und alle Schuld auf sich genommen. Dabei hat eine Mitschülerin Annikas vor Gericht ausgesagt, dass auch Annika nicht ganz unschuldig war. Sie hat für Deinen Vater geschwärmt, wie man nur für einen Lehrer schwärmen kann, sie hat ihm schöne Augen gemacht und ihn vielleicht sogar verführt. Trotzdem hat Dein Vater nie den Versuch unternommen, die Schuld auf Annika abzuwälzen. ›Ich habe mich total vergessen, total versagt, das hätte ich nie tun dürfen‹, hat er mir immer wieder gesagt. ›Ich verstehe, dass ich damit auch Sibylle etwas Schlimmes angetan habe und dass es ihr schwerfällt, mir zu verzeihen. Ich akzeptiere es, dass ich dafür büßen muss, aber ich kann es nicht akzeptieren, dass mir ein Mord angehängt wird.‹

Dein Vater hat lange gebraucht, um wieder an sich zu glauben. Als er nach Annikas Tod als Mörder dastand und Deine Mutter sich von ihm getrennt hat, war er so geschockt, so am Boden zerstört, dass er keine Kraft mehr hatte, sich zu verteidigen. Aber irgendwann während seiner Zeit im Gefängnis ist sein Lebensmut zurückgekehrt. Und er hat auch an Dich gedacht. ›Sören soll später nicht mit dem Gefühl leben, dass sein Vater ein Mörder ist‹, hat er mir gesagt. ›Von dieser Schande muss ich ihn befreien.‹

Aber er wollte mit seiner Rehabilitierung warten, bis er aus dem Gefängnis entlassen war. ›Ich will nicht, dass andere in der Sache rumstochern, während ich hier in meiner Zelle eingesperrt bin‹, hat er gesagt. Außerdem, und das war vielleicht noch entscheidender, wollte er vermeiden, dass Du wie aus heiterem Himmel in diesen Strudel hineingerätst.

Ja, Sören, Dein Vater hatte immer großes Interesse an Dir. Ich habe ihn über Deine Entwicklung auf dem Laufenden gehalten, er war unglaublich stolz auf Dich, und es ist ihm wahnsinnig schwergefallen, Dir das niemals schreiben oder gar sagen zu können. Darum war es ihm so wichtig, gleich nach der Entlassung behutsam mit Dir in Kontakt zu treten. Wohlbemerkt: behutsam. Dass es jetzt zu diesem Eklat gekommen ist, bedauert er zutiefst.

Aber ich komme von meinem eigentlichen Thema ab. Also, es sieht so aus, als ob Annika Deinen Vater erpresst hat, um bessere Noten zu bekommen. Deshalb hat sie ihn damals wahrscheinlich auch zum Grundlosen See bestellt. Der Zettel mit ihrer Handschrift lag der Polizei vor. Leider ist der Zettel verloren gegangen, auf dem Dein Vater Annika mitgeteilt hat, dass er erst eine Stunde später zu diesem Moorsee kommen kann. Vielleicht hat Annika ihn auch nie erhalten. Er hat ihr den Brief, wie er sagt, in der Schule in die Jackentasche gesteckt. Heimlich. Vielleicht hat das jemand beobachtet und ihn sich herausgefischt. Vielleicht derselbe, der Annika später umgebracht hat.

Auf jeden Fall gab es am Grundlosen See nicht nur die Fußabdrücke von Annika und Deinem Vater. Aber nachdem sie Deinen Vater als anonymen Anrufer identifiziert hatten und die Affäre ans Licht gekommen war, da haben sie sich gar keine Mühe mehr gemacht, andere Spuren zu verfolgen. Dabei gab es im Umkreis von Annika schon manchen, der verdächtig war. Aber weil Dein Vater so schnell resigniert hat, haben sie den Aktendeckel einfach zugeklappt.

Für die Polizei besteht angeblich immer noch kein Grund, die Angelegenheit wieder aufzurollen, und für ein Wiederaufnahmeverfahren ist die Beweislage noch zu dünn. Gemeinsam mit Deinem Vater habe ich aber eine befreundete Journalistin gewonnen, die großes Interesse an dem Fall hat und mit unserer Hilfe recherchieren will. Auch sie meint, dass es da zahlreiche Ungereimtheiten gibt und schlampig ermittelt wurde. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das bald auch beweisen können – und herausfinden, was am 18. Mai 1990 am Grundlosen See wirklich geschehen ist.

Wahrscheinlich schwirrt Dir längst der Kopf von den vielen Fragezeichen. Viel schöner wäre es, wenn wir mal ausführlich darüber sprechen könnten und Du auch Gelegenheit zum Nachfragen hättest. Ich würde mich freuen, wenn Du mich in Walsrode besuchen würdest. Sprich doch bitte mit Deiner Mutter darüber. Jetzt, wo Du sowieso schon in diese Sache hineingeraten bist, müsste sie doch auch an einer Aufklärung interessiert sein. Selbstverständlich würde sich auch Dein Vater freuen, Dich bald einmal wiederzusehen.

Ich soll Dir übrigens von ihm herzliche Grüße bestellen.

Auch von mir alles erdenklich Gute.

Deine Tante Sabine.«

Sibille Häcking füllte gerade Auberginen und gekochte Kartoffelscheiben in ihre Auflaufform, als Sören aus seinem Zimmer kam und auf das schnurlose Telefon im Flur zusteuerte. Sie ließ alles stehen und liegen und schnitt ihm den Weg ab.

»Was schreibt sie denn?« Die Frage klang ängstlich.

»Einiges.« Sören nahm das Telefon aus dem Akkuständer.

»Geht’s vielleicht ein bisschen genauer?«

»Wozu?«

»Wozu? Also bitte, Sören! Ich, ich will dir doch nur helfen. Ich kann mir schon vorstellen, wie dich das alles aufwühlt. Das ist zu viel für einen allein. Glaub mir, ich meine es …«

»Lass mich.«

»Bitte, Sören, ich mache mir Sorgen um dich.«

Doch Sören ging schweigend an ihr vorbei, das Telefon in der Hand wie eine Waffe.

»Was hast du denn jetzt vor?«

»Ich ruf Sabine an, Tante Sabine.«

»Wie? Aber warum das denn? Was, äh, was willst du denn von der?«

»Das ist zwar eigentlich meine Sache, aber wenn du schon so direkt fragst: Ich will sie besuchen, mit ihr sprechen.«

Seine Mutter schüttelte irritiert den Kopf. »Sören, bitte, pass auf. Lass dich da nicht reinziehen.«

Sören atmete tief durch. »Mama, falls du es noch nicht kapiert hast: Ich bin schon mittendrin. Und es bringt gar nichts, wenn du weiter so tust, als wenn mein Vater gestorben wäre.«

Sibylle Häcking starrte eine kleine Ewigkeit lang wie benommen auf ihre Knie, bevor sie erneut ihre Frage stellte: »Was hat Sabine denn geschrieben?«

»Sie schreibt, dass mein …«

In diesem Moment kam Tobias zur Tür herein. »Hallo, Sören.«

»Hallo, Tobi.« Mit diesen Worten verschwand Sören in seinem Zimmer.

Sofort wählte er die Nummer seiner Tante in Walsrode. Er hatte Glück. Schon nach dem zweiten Klingelzeichen nahm sie ab. Sie sprach mit ihrem Neffen, als würde sie ihn schon lange kennen, und selbstverständlich hatte sie keine Einwände, als er sie fragte, ob er am nächsten Tag gegen vier bei ihr vorbeikommen könne. Er hatte sich die Zugverbindung schon aus dem Internet gesucht.

Freitag, 14. September 2007, Walsrode

Der Himmel war blau wie lange nicht mehr. Die schon herbstlich eingefärbten Gärten badeten im Glanz der Septembersonne. Trotz des Sonnenscheins war es kühl, angenehm kühl, wie Johanna von Seewald fand. Ideale Voraussetzungen für eine Fahrradtour, beste Bedingungen für einen Ausflug ins Moor. Denn so betrachtete die freiberufliche Journalistin ihre kleine Erkundungsfahrt. Als Ausflug. In den Tagen zuvor hatte sie noch hart gearbeitet, um ihre unterschiedlichen Auftraggeber zufriedenzustellen. Die einen wollten eine Reportage über Neonazis in der Heide mit dem etwas überspitzten Arbeitstitel »Braun ist die Heide«, die andern eine Geschichte über den mysteriösen Mord an einer jungen Frau aus der Celler Kurdenszene. Die Recherchen hatten ihr zwar lange und hektische Arbeitstage beschert, und auch das Schreiben war ihr wieder mal überhaupt nicht leichtgefallen, aber am Ende war es ihr doch gelungen, die Texte termingerecht zu senden, und das zu erwartende Honorar würde ihr erst einmal wieder ein beruhigendes Polster verschaffen.

Ob ihr gegenwärtiger »Ausflug« jemals Geld einbrachte, war fraglich. Aber es war spannend. Und alles so nah. Als ihre Freundin Sabine sie das erste Mal darauf angesprochen hatte, war sie alles andere als begeistert gewesen: Wieder mal die übliche Knast-Geschichte. Ein Häftling, der darüber jammert, dass sich Polizei und Justiz gegen ihn verschworen haben und er zu Unrecht im Knast sitzt. Wem sollte man da glauben? Wo ansetzen? Doch in diesem Fall nahm sich die Sache von Anfang an etwas anders aus. Bei dem Häftling handelte es sich um den Bruder ihrer Freundin, und Mahnke war ein ehemaliger Lehrer, Studienrat. Intelligent, attraktiv, beliebt. Je mehr ihr Sabine erzählte, desto merkwürdiger erschien ihr die Geschichte.

Die Arbeit daran lenkte sie von den Absonderlichkeiten ihrer eigenen Familie ab. Sie hatte es immer wieder herausgeschoben, ihrer Großmutter zu antworten. Wie sollte sie auf diesen durchgeknallten Brief reagieren? Deutlich machen, dass der Besuch des Toten einer Wahnvorstellung entspringe? Nein, so hart konnte sie nicht sein. Aber ihr war klar, dass ihre Großmutter geradewegs auf die Klapsmühle zusteuerte – ein Gedanke, der sie traurig stimmte.

Noch nervenaufreibender waren die ständigen Anrufe ihrer Mutter. Dieses flehentliche Drängen, hochkarätige Journalistenkollegen zu ihrer Ausstellung zu dirigieren, keinesfalls den Termin zu vergessen. Die Angst, die daraus sprach. Das fahrige, überspannte Gerede, das nur um das eigene Ego kreiste und von empörendem Desinteresse bezüglich ihrer Tochter geprägt war. Der Alkoholkonsum, der bei jedem Gespräch spürbar war. Manchmal war es Johanna, als würde ihr die Schnapsfahne schon aus dem Telefonhörer in die Nase steigen. Sie musste mit Grauen daran denken, dass die Vernissage von Tag zu Tag näherrückte.

Bisweilen beschlich sie das Gefühl, nur noch von den Schicksalen anderer angetrieben zu werden und gar kein eigenes Leben mehr zu führen. Immer wieder überlegte sie, ob es nicht das Beste sei, das morsche Hexenhaus zu verkaufen, Walsrode zu verlassen und in eine Großstadt zu ziehen. Eigentlich war sie doch nur wegen ihres Freundes hergekommen, und jetzt hielt sie hier allein die Stellung. Auf verlorenem Posten.

Andererseits fühlte sie sich nicht unwohl in der selbst ernannten Hermann-Löns-Stadt. Walsrode gefiel ihr. Das überschaubare Zentrum – die Eckernworth, dieser wunderbare Stadtwald mit den riesigen Buchen und Eichen, den Hügeln und Forellenteichen. Die netten Leute, und schließlich auch die Lage zwischen Hamburg, Bremen und Hannover. Man lebte im Grünen und war trotzdem binnen einer Stunde in jeder dieser drei Städte.

Die eher kleine Frau mit den dunkelbraunen, halblangen Haaren und der Vorliebe für Perlenketten war auch nicht in der Gefahr zu vereinsamen. Durch ihren Freund Jens hatte sie etliche Menschen kennengelernt, zu denen sie nach der Trennung weiter Kontakt hielt. Dazu zählte auch Sabine, eine frühere Arbeitskollegin ihres Verflossenen. Am Rande hatte sie schon vor längerer Zeit mitbekommen, dass deren Bruder im Gefängnis saß. Sie wusste von dem Wirbel, den der Mord an der Schülerin seinerzeit in Walsrode nach sich gezogen hatte. Immer wieder wenn sie über andere Kriminalfälle geschrieben hatte, war sie darauf hingewiesen worden – auch von ihrem früheren Partner.

Johanna verließ Walsrode in Richtung Fulde. Zur Linken lag das Eckernworth-Stadion, von dem am Wochenende oft das Schreien und Johlen der Fußballspieler und ihrer Fans zu hören war. An diesem Freitagmorgen war es still.

Sie hatte sich von ihrer Freundin ausführlich über den Fall berichten lassen, alle größeren Zeitungstexte, die Anklageschrift und die Urteilsbegründung gelesen. Sabine hatte ihr außerdem eine Aufstellung über Personen angefertigt, die mit dem Fall in Verbindung gestanden hatten. Das waren nicht wenige. Denn die Schülerin Annika hatte einen großen Bekanntenkreis, ebenso Mathias Mahnke, der in Walsrode aufgewachsen war und dort zuletzt mehrere Jahre unterrichtet hatte. Auf der Liste standen auch Männer, die aus Sabines Sicht theoretisch als Täter in Frage kamen – vor allem Mitschüler Annikas. Dazu zählte Heiko Hansen, ein Bauernsohn, der immer noch in Fulde leben sollte, mittlerweile offenbar den Hof seiner Eltern übernommen hatte. Der Hof lag unmittelbar am Weg zum Grundlosen See. Johanna nahm sich vor, einen Blick darauf zu werfen.

 

Schon von weitem hörte sie das wütende Brüllen der Motorsäge. Als sie näher kam, war sie sicher, dass es der Hof der Hansens war, auf dem gesägt wurde. Ein Mann in schmutzig grünem Overall war damit beschäftigt, eine Reihe von hoch aufgeschossenen Fichten umzulegen. Krachend schlug gerade einer der Nadelbäume zu Boden, sodass der Mann die Säge abstellte und eine kurze Verschnaufpause einlegte. Johanna vermutete, dass es sich um Heiko Hansen handelte. Sie beschloss, die Gunst des Zufalls zu nutzen.

Sie winkte dem Mann mit der Motorsäge zu, stieg vom Rad. »Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Grundlosen See komme?«

»Kein Problem, immer geradeaus, bis der Asphaltweg in Kopfsteinpflaster übergeht und in den Wald führt. Dann geht es irgendwann rechts ab. Müsste aber auch irgendwo ’n Schild stehen.«

»Vielen Dank.«

»Nich’ dafür.«

Sie sah, dass dem Mann Schweißperlen auf der Stirn standen, das mittelblonde Haar war klitschnass.

»Na, wird einem mächtig warm beim Sägen, was?«

»Kann man wohl sagen.« Lächelnd wischte sich der Mann mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn. In der anderen Hand hielt er weiter seine »Stihl«. »Das is’ so beim Holz, da wird einem gleich zweimal warm«, fuhr er in leicht schleppendem Ton fort. »Das erste Mal beim Sägen und das zweite Mal, wenn man vorm Ofen sitzt.«

Johanna war sicher, dass sie den Spruch schon mal gehört hatte. Trotzdem lachte sie, als sei sie gerade mit einem Geistesblitz beschenkt worden. »Das ist gut. Ist natürlich auch ideal, wenn die Bäume direkt vor der Haustür wachsen und wenn man noch einen Ofen hat, mit dem man Holz verbrennen kann.«

»Das ist wohl wahr. Bei den Öl- und Gaspreisen! Na ja, zum Glück läuft unsere ganze Heizung mit Holz. Was Besseres gibt’s gar nicht.«

»Ich habe auch einen Kaminofen in meinem Häuschen. Aber ich bin einfach zu faul, das Holz ins Haus zu schleppen und die Asche rauszubringen. Da stelle ich dann schon lieber die Gasheizung an.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Ach, in Benzen, bisschen außerhalb hinter dem großen Spargelhof am Waldrand.«

»Ah ja, die Ecke. Kenn ich.«

»Und Sie? Sie sind hier wahrscheinlich auf dem Hof geboren.«

Heiko Hansen legte die Säge auf einem Baumstumpf ab und wischte sich einen Marienkäfer vom Jackenärmel.

»Sie haben’s erraten. Das ist so bei uns Bauern. Wir bleiben da hängen, wo wir hingeboren werden.« Er räusperte sich kurz und streckte ihr seine rechte Hand hin. »Hansen, Heiko Hansen.«

»Johanna von Seewald.«

Als sie in Hamburg und Bremen gelebt hatte, wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, sich mit dem Adelsprädikat vorzustellen, aber in Walsrode war es anders. Sie spürte, dass die Leute hier ihr mit einem »von« im Namen größeren Respekt entgegenbrachten.

Der Händedruck hatte nichts holzfällermäßig Hartes, sondern war eher weich. Die Hand fühlte sich warm und feucht an. Johanna sah, dass Hansen am Handrücken blutete. »Haben Sie sich verletzt?«

»Ach was, kein Ding. Bloß ’n Kratzer. So was kommt vor.«

»Müsste man nicht eigentlich Schutzhandschuhe tragen?«

Heiko nickte anerkennend. »Oh, Sie kennen sich aus. Ja, normalerweise müsste man Schutzhandschuhe tragen und so ’n komischen Helm auch, aber das ist mir alles zu unbequem.«

»Kann ich verstehen, aber passen se bloß auf. Mit so ’ner Motorsäge ist nicht zu spaßen.«

»Da haben Sie wohl recht.«

Johanna spürte, dass sich das Gespräch totzulaufen begann. Sie setzte einen Fuß aufs Fahrradpedal und deutete an, dass sie ihre Fahrt fortsetzen wolle.

»Na, dann will ich Sie mal nicht mehr länger von der Arbeit abhalten.«

»Ach, ’ne kleine Pause muss schon drin sein. In einem fort geht das hier sowieso nicht.« Damit griff er auch schon wieder nach seiner Säge. »Na, dann viel Spaß am Grundlosen See. Und verlaufen Sie sich nicht. Das Moor ist tückisch. Eh man sich versieht, ist man eingesunken.«

»Sprechen Sie aus Erfahrung?«

»Na zum Glück nicht. Aber Sie kennen doch sicher die Geschichte vom Knaben im Moor.,O schaurig ist’s übers Moor zu gehen, wenn es wimmelt vom Heiderausche …«

Johanna war überrascht, dass dieser Jungbauer plötzlich mit der Rezitation der berühmten Ballade begann. Das ermutigte sie, doch noch den Fall anzusprechen, der sie eigentlich zum Grundlosen See führte. »Hier soll es ja vor einigen Jahren wirklich mal schaurig im Moor zugegangen sein«, begann sie. »Ich habe gehört, dass hier ein Mädchen umgebracht worden ist.«

Die Miene ihres Gegenübers verfinsterte sich. »Ja, das war wohl so. Aber das ist lange her.«

Johanna spürte, dass Hansen nicht gern über die Sache sprach. Doch gerade dies veranlasste sie, weiter nachzusetzen, wo der Zufall ihr schon einen Beteiligten zugespielt hatte. »Muss ja furchtbar gewesen sein. War sicher wahnsinnig was los hier in der Gegend, ich meine, Polizei und Presse und so.«

»Nicht zu knapp. Aber, wie gesagt, ist lange her, und außerdem ist es auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie hier ’ne Leiche gefunden haben. Schon Anfang der Siebziger haben Spaziergänger hier ’ne Männerleiche gefunden.«

»Wirklich? Das ist ja interessant.«

»Ja, wahrscheinlich denken die Leute, der See ist wirklich so grundlos, wie er heißt. Aber das ist ein Irrtum.«

»Wie war das denn damals mit der Männerleiche?«

»Sie wollen ’s ja wirklich genau wissen. Aber ich weiß natürlich auch nur vom Erzählen davon. Also: Soviel ich gehört habe, stammte der Tote aus Hünzingen oder so, war von seinem eigenen Sohn mit einem Verlängerungskabel erwürgt worden, und der hat ihn dann zusammen mit seinem Bruder zum Grundlosen See kutschiert.« Heiko schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn auf ihrem Motorroller transportiert, den toten Papa praktisch in die Mitte genommen! Das muss man sich mal bildlich vorstellen: ein toter Mann auf dem Rücksitz und dahinter der Sohn, der ihn hält und wahrscheinlich auch vorher umgebracht hat.«

»Unglaublich! Und dann haben sie ihren Vater in den Grundlosen See geworfen?«

»Genau. Sie haben natürlich gedacht, dass er da versinkt, aber da haben sie sich eben geschnitten.« Hansen schüttelte wieder lächelnd den Kopf. »Soll nicht besonders schade um den Kerl gewesen sein, hat gesoffen wie ’n Loch und seine Frau angeblich dauernd vertrimmt. Deswegen soll die den Mord auch gedeckt haben. Aber, wie gesagt, das hab ich alles auch nur so gehört und kann mich natürlich nicht dafür verbürgen.«

»Verstehe, und diese Schülerin damals vor 17 Jahren?«

Johanna bemerkte, dass sich Hansens Gesicht verfinsterte. »Tut mir leid, darüber weiß ich genauso wenig, außerdem würde ich jetzt gern weitermachen.«

Das war für die Journalistin ein unmissverständliches Zeichen, dass sie mit dem Thema nicht weiterkam. Sie verabschiedete sich, und noch bevor sie aufs Rad gestiegen war, hatte ihr Gesprächspartner seine Säge wieder mit einem Ruck angeworfen und sich der nächsten Fichte zugewandt.

Noch lange während sie dem Moor entgegenradelte, hörte sie das Aufheulen der Motorsäge. Es klang, als würde Heiko Hansen ihr wütende Verwünschungen hinterherschicken.

Als sie den Grundlosen See erreicht hatte, hörte sie aber nur noch, wie die Baumkronen sich mit leisem Ächzen im Wind wiegten und bisweilen eine Ente schnatterte. Ansonsten war der Moorsee erfüllt von einer fast andächtigen Stille. Spinnen hatten ihre Netze zwischen den Zweigen und Binsen gespannt. Mochten sie auch noch so schön in der Sonne glitzern, Johanna erschienen die Netze wie verborgene Fallen. Ihr ging ein Vierzeiler von Hermann Löns durch den Kopf, der hier einst seine Runden gedreht hatte: