»Ah, die Frauen«, seufzte der Advokat, schmerzlich getroffen durch die Missbilligung der hübschen Frau Camuzzi. Ihr Mann sagte:
»Auch die Baronin Torroni wird sogleich zu der Partei des Priesters stoßen.«
Der Advokat und seine Freunde sahen sich mit niedergeschlagenen Mienen nach dem Palazzo Torroni um. Statt der Baronin zeigte sich dort hinten an der Ecke zum Gasthaus Italia Molesin, die Komödiantin.
»Wie sie um ihn her schnattern und Flügel schlagen, die Gänse!« sagte der Tabakhändler Polli, voll Mut durch die Abwesenheit seiner Frau. »Warum sie ihm nicht die Fettflecken von der Soutane schlecken!«
Der Gemeindesekretär grub weiter in der Wunde.
»Sie müssen nicht glauben, Advokat, dass Sie mit Don Taddeo und den Seinen leicht fertig werden. Er weicht Ihnen aus: umso schlimmer. Er versteckt sich hinter dem Schlosser Fantapiè, der alle Arbeiten für die Kirche und das Kloster macht und den Schlüssel keinen Augenblick früher beendet haben wird, als es dem Priester recht ist …«
Ein Schwarm Schulkinder brach aus dem Corso hervor, wickelte Italia ein, schnellte über sie hinaus und lärmte so sehr, dass nichts mehr zu verstehen war. Die Tauben flüchteten vom Pflaster in die Luft, zu den Vorsprüngen am Dom. Einige kehrten zurück und ließen sich auf den Rand der Brunnenschale nieder. Italia kam näher; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, Hüften und Augen drehte sie hin und her und kaute dabei. Wie sie die Tauben sah, machte sie sich heran und hielt ihnen, zärtlich kreischend, die Handfläche mit Brot hin. Zugleich hob sie den Kopf nach Beifall. Statt dessen sagte Frau Acquistapace:
»Ist es erlaubt, Reverendo, dass eine verlorene Frau die Kirchentauben füttert?«
Indes Don Taddeo seufzte, fügte die Nonoggi hinzu:
»Ich werde meinen Besen holen. In der ersten Nacht, wenn man denkt! Und mit einem Edelmann!«
Frau Camuzzi hielt immerfort die Lider gesenkt. Unversehens drückte sie ihren Spitzenschal gegen den Hals und spie aus, – was ihr gut stand. An ihrem schwarzen Kleid vorbei sah man es silbern niederfallen. Italia richtete sich fragend auf. Vor dem Café sagte niemand ein Wort. Endlich versuchte der Advokat:
»Diese Damen scheinen etwas zu wissen. Sollte denn Nonoggi …«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte der Apotheker:
»Auch ohne Nonoggi kommt schließlich alles heraus.«
»Das ist abscheulich«, rief der Advokat. »Ich wasche meine Hände in Unschuld, – obwohl ich, wie ich hinzusetzen muss, der erste gewesen bin, der die Sache erfahren hat.«
Aber da Jole Capitani, die Frau des Doktors, denn inzwischen war sie angelangt, sich mit ihrer trägen Stimme bei dem Priester erkundigte, ob man die Komödiantin nicht einsperren könnte, damit sie niemanden mehr verführe, empörte sich der Advokat.
»Die nun nicht! Ah! die nicht. Eine Frau, die so dick ist, sollte nicht von anderen Böses reden!«
Italia war da, hatte Tränen in den Augen und fragte:
»Was haben diese Damen?«
Das Schweigen der anderen machte den Advokaten noch betretener.
»Nichts«, brachte er hervor. »Wir sind in einer kleinen Stadt, was wollen Sie; man sieht hier nicht gern, dass eine Frau lange schläft.«
»Aber das Fräulein hat sich den Schlaf verdient«, meinte Polli bieder.
»Das glaube ich! Die Reise mit der Post, und in Sogliaco jeden Abend gespielt …«
»Und vielleicht auch die Liebe?« schlug der Leutnant vor und rückte sich zurecht.
»Die Leidenschaft!« rief der Advokat eifersüchtig. »Denn die Künstlerinnen lieben mit Leidenschaft, und das reibt sie auf. Ich kenne es.«
»Wie wahr!« – und Italia dankte ihm, indem sie ihn mit den Augen kitzelte. Der Advokat schnaufte.
»Diese hier«, erklärte der Bariton Gaddi, »ist nicht leicht aufzureiben, sie isst zu viele Makkaroni.«
»Man sollte sich über die Frauen niemals lustig machen«, erwiderte der alte Giordano süß. »Sie sind eine zu ernste Angelegenheit.«
»Danke, Cavaliere« – und sie kitzelte auch ihn. »Ich liebe den galanten Mann.«
»Man weiß, man weiß!« – mit einem Schlage zwischen die Gläser; und der Tabakhändler sah sich, krebsrot, nach dem Apotheker um. »Der Baron!« wisperten sie erstickt und platzten gleichzeitig aus.
»Was haben diese Herren?« fragte Italia. Um sie für sich zu gewinnen, kitzelte sie beide mit den Augen und zur Sicherheit auch noch den Leutnant.
Der Advokat drohte ihr mit dem Finger; sie lachte; und inzwischen kam Frau Camuzzi, vom Dom her, mit tief gesenkten Lidern vorüber. Italia sah ihr voll Spannung und Unterordnung nach.
»Ist das die Dame, die ausspie?« flüsterte sie. »Und warum spie sie vor mir aus?«
»Auch ich bin beleidigt«, sagte der alte Giordano dumpf und grübelte, wieder ganz in Falten, vor sich hin.
Nello Gennari fuhr zusammen, als erwachte er, und starrte irgendeinen an.
»Hier ist jemand, der alles weiß. Alles, versteht ihr? Ist das nicht schrecklich?«
»Ich hatte es vergessen«, sagte der alte Giordano schaurig. »Mein Gedächtnis! Aber jetzt erkenne ich, woher hier das Unglück kommt. Dort im Winkel hinter dem Turm …«
Er zwang Italia, in seine aufgerissenen Augen zu sehen, und wies mit dem Daumen rückwärts. Der Advokat machte leise »Sst«. Polli raunte:
»Man sieht nicht hin.«
»Das ist doch schrecklich, immer solche Augen einer Unsichtbaren auf sich zu haben«, wiederholte Nello Gennari, den Blick gesenkt. Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand.
»Ich sage nicht, dass es eine große Annehmlichkeit ist.«
»Was gibts? Oh, was habt ihr?« – und Italia hatte den Handrücken am Munde.
»Du hast Hornbreloques, Gaddi?« fragte der alte Tenor. »Man sollte sie nie ablegen.«
Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.
»Was gibts, mein Gott?« flehte Italia. »Ich will fort.«
»Was denn«, machte der Advokat. »Wir leben doch alle hier, und es tut uns nichts. Es ist ein Mädchen, das seit neun Jahren, ohne krank zu sein, das Haus nicht verlässt und dennoch alles weiß, was geschehen ist, und zuweilen auch, was noch nicht geschehen ist …«
»Man muss zugeben« – und der Gemeindesekretär lächelte spöttisch, »dass es ein wenig unheimlich sein mag, wenn man es noch nicht gewohnt ist.«
»Ich will fort.«
Italia stieß ihren Stuhl zurück. Der Advokat packte sie an und drückte sie auf den Sitz.
»Sie, eine Künstlerin, wollten fliehen vor einer einfachen Erscheinung der menschlichen Natur?«
»Nun, einfach …«, meinte der Sekretär. Italia sah, umklammert vom Advokaten, nach Hilfe umher.
»Darum bin ich beleidigt worden«, begann wieder der alte Giordano. »Ich, der seit fünfzig Jahren …«
»Hat darum jene Dame vor mir ausgespien?« fragte Italia erleuchtet.
»Aber die Wissenschaft …«, hob der Advokat an.
»Wer ist also noch sicher!« rief Nello Gennari, sprang auf und machte, die Arme verschränkt, eine stürmische Runde um den Tisch. »Sie weiß«, dachte er in plötzlichem Erkennen, »wo ich die Nacht war und dass ich Alba liebe! Ich wollte eher tot sein, als ein menschliches Wesen im Besitz meines Geheimnisses sehen. Sie aber hat es: schon gestern wusste sie den Namen! – und kann mich verraten. Ich lebe von ihrer Gnade, wie ist das zu ertragen!« Er setzte sich wieder und nahm die Stirn in die Hände.
»Die Wissenschaft wird …«, sagte der Advokat. Der alte Giordano hob plötzlich die Arme und riss die Luft in seinen offenen Mund hinein.
»Und meine Prophezeiung! Diese Stadt hat weniger als hunderttausend Einwohner, und ich bin umgeben von Geheimnis. Ich werde hier sterben.«
»Ja, man muss vorsichtig sein« – und der Bariton drehte unerschüttert an seinen kleinen Hörnern. Der Alte schrumpfte zusammen. Der Advokat bekam unversehens eine Art Anfall. Er zuckte wild mit den Schultern, seine Handrücken taten kleine krampfige Schläge in die Luft, die Adern schwollen ihm, und seine Augen waren die eines Erstickenden.
*
Plötzlich stand der Kapellmeister Dorlenghi am Tisch und sagte, rasch atmend:
»Wenn es den Herren gefällt, zur Probe!«
Niemand antwortete ihm. Italia zerrte ihr Taschentuch durch die Zähne, der alte Giordano sah entrüstet weg. Dann nahm der Advokat das Wort.
»Guten Tag, Dorlenghi, setzen Sie sich!«
»Verlieren wir keine Zeit, ihr Herren! Diese elende Schule hat mich lange genug aufgehalten. Denn ich bin ein kleiner Dorfmusiker und muss die Kinder singen lehren. Kommen Sie!«
Da nichts sich regte, fragte er, stockend und erblasst:
»Aber was ist geschehen? Ich verstehe nicht …«
Der Advokat fuchtelte verzweifelt. Auf einmal klappte er die Arme herunter und sagte leichthin:
»Sie wollen nicht, Dorlenghi. Diese Herren haben den Plan gefasst, abzureisen.«
»Ach ja, abreisen!« – und Italia nickte fliegend und verzerrt, als sei sie von Schlangen umwickelt.
»Auch ich reise«, sagte der alte Giordano. »Ich will hier nicht sterben.«
Der Kapellmeister griff nach einem Stuhl und griff daneben. Der Advokat fing ihn auf und setzte ihn hin.
»Mut, Dorlenghi! Auch mir ist dieser Zwischenfall peinlich; aber was wollen Sie? Künstler sind Launen unterworfen, das wussten wir. Wer das Genie will, muss auch die Launen wollen.«
»Immerhin«, meinte der Bariton, der seine Anhängsel sorgfältig geprüft hatte, »es wird vielleicht besser sein, wir reisen.«
Nello Gennari nahm die Stirn aus den Händen; er hatte einen wirren, ringenden Blick; – schüttelte, die Lider eindrückend, langsam und stark den Kopf und ließ die Stirn zurückfallen.
»Sie scherzen«, brachte der Kapellmeister hervor und lächelte wie eine Puppe. »Ein gelungener Scherz. Aber sollten wir nicht gehen? Es wird spät, und zum Theater ists weit.«
»Es ist Ernst, mein armer Dorlenghi« – und der Advokat klopfte ihn. »Unsere Künstler fürchten sich vor der Unsichtbaren dort hinten. Sehen Sie nicht hin! Und schließlich, wer weiß; Gründe gibt es für alles; und selbst ich, Maestro, frage mich –. Denn, sagen wir die Wahrheit! die merkwürdigen Dinge häufen sich ein wenig. Warum musste mir Don Taddeo just heute die Ungelegenheit mit dem Schlüssel bereiten? Überdies hatte ich vergessen, dass der Frau des Wirtes Malandrini, ja, der Ersilia Malandrini, letzte Nacht der Geist ihres Vaters erschienen ist.«
Italia begann wild zu lachen. Alle sahen sie entsetzt an.
»Ein Geist?« fragte sie.
»Gewiss, ein Geist, Fräulein«, bestätigte der Advokat ernst. »Denn ich gehöre nicht zu denen, die die Seele leugnen. Ich bin kein Feind der Religion, nur ein Gegner der Priester.«
»Aber solch ein Geist, oh, solch ein Geist …« und Italia schüttelte sich.
»Eine Frau ohne Religion liebe ich nicht«, bemerkte der Apotheker Acquistapace mit seiner biederen Stimme. Sie war unvermittelt still und sah ihm gesetzt und treu in die Augen.
»Das Fräulein lacht! Sehen Sie, dass sie lacht?« wiederholte der Kapellmeister noch immer. Er war auf den Beinen, in seiner zarten Haut sah man die Röte bis unter die blonden Kinnhaare fließen, und er sagte mit einer Stimme, die aus dem Tiefsten bebte:
»Ich habe es gewusst, Sie würden mich nicht im Stich lassen. Wo bleibt das Fräulein Flora Garlinda?«
»Oh«, machte Gaddi, »auf die können Sie zählen, Maestro, die singt: auch allein, ohne uns, und kein Unglück, böser Blick oder Geist hält sie ab, denn sie glaubt an nichts.«
»Also gehen wir voran! Das Klavier ist oben« – und er wies nach der Treppengasse; »ich habe große Mühe damit gehabt, bis es oben war … Wie? Meine Herren, ich bitte Sie, ich bitte Sie.«
»Es wäre vielleicht besser, an nichts zu glauben?« vermutete der Advokat.
»Wenn Sie nicht kommen: ja, was tue ich«, sagte der Kapellmeister und griff sich fliegend an die Stirn.
»An gewisse Dinge nicht zu glauben, ist schwer«, bemerkte der Cavaliere Giordano. »Beim Theater besonders.«
»Meine Zukunft! Sie werden nicht wollen, dass alles umsonst war?«
»Ich habe sie erlebt« – und der Bariton schlug sich auf die starke Brust. »In Pesaro verschwanden die Schminktöpfe, die man soeben noch in der Hand gehalten hatte, und in einer anderen Garderobe fand man sie wieder. Ich musste die meinen mehrmals von der Primadonna zurückholen.«
»Das soll deine Frau erfahren«, sagte Italia.
»Werde ich denn niemals hier herauskommen?« – und der Kapellmeister schlug hart auf seinen Stuhl auf und sah gebeugt seine Hände an, die in dürftigen, zu langen Ärmeln staken, geschwollene Adern hatten und schwitzten.
Man erwiderte ihm mit Entrüstung:
»Sie waren froh genug, herzukommen. Uns scheint, dass hundertfünfzig …«
Der Cavaliere Giordano bewog die Bürger mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»In Parma hat das Theater, wie viele selbst unter denen, die dort aufgetreten sind, nicht wissen, – aber es ist Tatsache, dass das Theater einen Geist hat. Ich habe ihn erblickt.«
Er nickte allen nacheinander in die Augen.
»Jener Geist war vor hundert Jahren eine Dame des Hofes und soll, obwohl ein religiöses Gelübde es ihr verbot, einen Tenor geliebt haben. Nun kommt sie, sooft ein junger, noch unbekannter Tenor singt, durch den Gang aus dem Schloss ins Theater. Immer in derselben Loge sitzt der Geist, die er bei Lebzeiten hatte, und wartet, ob der Fremde jenen Ton aushalten wird …«
»Jenen Ton?« wiederholte man.
Der Kapellmeister war schon wieder aufgesprungen. Er tat einige Schritte, schob wütend einen schreienden Haufen Jungen auseinander, ging dem Brunnen zu.
»Und meine Ouvertüre!« sagte er immer wieder, nun dumpf, nun ausbrechend, nun knirschend. Er stützte die Hände auf die Brunnenschale und stöhnte laut.
»Sie soll im Theater aufgeführt werden! Die Garlinda soll meine Arie ›Trauriges Geschick‹ singen! Wozu ist sie da, wozu sind sie alle da! Ah! Sie wollen mir nicht ans Licht helfen, das ich verdiene? Sie wollen mich aufhalten?«
Er griff sich ins Haar, er ballte die Faust.
»Sie mögen sich hüten! Ich habe ihre Kontrakte, ich werde sie damit vernichten, ohne Gnade vernichten!«
Und er spie in den Brunnen. Dann kehrte er zurück, etwas einwärts auf seinen gekrümmten Beinen; und da er fühlte, dass beim Näherkommen sein Gesicht, er mochte wollen oder nicht, einen bescheidenen Ausdruck bekam, zwang er es zu drohen.
»Bei der Unmöglichkeit, dies genau zu wissen«, sagte der Cavaliere Giordano, »werden Sie verstehen, meine Herren, wie schwierig meine Lage war.«
»Teufel!«
»Denken Sie sich: ahnungslos trifft man in Parma ein, singt fröhlich drauflos, – um in der letzten Pause von irgendeinem guten Herzen zufällig zu erfahren, dass in der dritten Loge rechts eine geisterhafte Dame sitzt, die darauf wartet, ob man jenen Ton aushält, bei dem vor hundert Jahren ihr Liebhaber gestorben ist. Hält man ihn aus, stirbt man auch, das steht fest. Man erstickt an ihm.«
»Schönes Vergnügen!«
»Und man weiß nicht, welcher es ist! Die Überlieferungen stimmen nicht überein. Es konnte auch das hohe D sein, meine Herren: das hohe D meiner großen Arie ›O bleiche Sterne‹ im letzten Akt der ›Galathea‹. Aber soll ich auf mein hohes D verzichten? Mit ihm besiege ich jedes Publikum. Jetzt werde ich dafür vielleicht sterben, elend ersticken? Es handelt sich um die Wahl zwischen Leben und Ruhm … Meine Herren, ich war jung, ich nahm den Ruhm.«
»Bravo! Bravo!«
Der Advokat lachte keuchend dazwischen, ohne sich seiner Ungebühr bewusst zu sein, nur aus Aufregung, weil er unter dem Tisch auf einen Fuß gestoßen war, der, wenn nicht alles täuschte, Italia Molesin gehörte. Der Cavaliere Giordano sah ihn strafend an, und er riss, ertappt, die Brauen in die Höhe.
»Freilich sagte ich mir auch: es wird nicht das D gewesen sein, an dem jener Scharlatan erstickt ist; denn das hält niemand zwei Minuten lang aus, als nur ich. Gleichviel: wie ich nun vor dem Souffleurkasten stehe, das ganze Haus den Atem zurückdrängt und nur ich ihn hinausschmettere, lange, lange, lange: – oh, ich sage die Wahrheit, mir war nicht wohl. Vielleicht war ich ein wenig feucht, vielleicht verschwamm es mir ein wenig vor den Augen. Es kann sogar sein, dass meine Kräfte nachließen. Da aber lenkt Gott meinen Blick, und ich sehe in der dritten Loge rechts eine Gestalt sich erheben und lautlos Beifall klatschen. Das Blut schießt mir zum Herzen, mit Macht breche ich ab, höre das Haus tausend Hände bewegen und fühle, dass ich gerettet bin. Ich verbeuge mich vor der dritten Loge rechts in dem Augenblick, da die Gestalt zurücktritt und verschwindet. Noch jetzt, scheint mir, habe ich sie vor Augen: sehr bleich ist sie und gekleidet wie eine Äbtissin.«
»Wie eine –!«
Nello Gennari stand auf einmal lang aufgereckt da, die Hand am Herzen und verstört und blutlos. Allmählich erlangte er Atem.
»– wie eine Äbtissin: ja, das ist sie gewesen. Eine Nonne! – und jener Tenor starb für sie. Ihre Geschichte ist wahr, Cavaliere! Ich glaube an sie!«
Er setzte sich. Noch waren alle erschüttert.
»Cavaliere, ich muss Sie auffordern«, begann der Kapellmeister, schwach und atemlos. Der Advokat gab seinem Stuhl einen Stoß und machte sich, die Hände ausgestreckt, eilig drehend über den Platz.
»Was hat er?« fragte Italia enttäuscht. Denn unter dem Tisch war inzwischen auch ihr Knie dem des Advokaten begegnet. »Mit wem ist er?«
»Das ist der Kaufmann Mancafede, der Vater jener Frau dort hinter dem Turm: nicht hinsehen, sie sieht uns.«
»Er scheint nicht gefährlich.«
»Meine Herren«, begann wieder der Kapellmeister, »Sie haben wohl nicht bedacht, welche Folgen es haben würde …«
Die beiden näherten sich. Der Advokat redete keuchend und die Luft schlagend am Ohr des anderen. Plötzlich schob er ihn vor und ließ ihn los. Der Kaufmann dienerte und reichte seine trockene kühle Hand umher. Sein altes Hasenprofil mit dem gewölbten Auge wendete sich ruckweise.
»Wenn die Herren es erlauben …«
Jeder einzelne musste genickt haben, bevor Mancafede sich setzte. Man betrachtete ihn milde, wie er sich in seiner dicken braunen Jacke, die aussah wie sein Fell, rund und klein machte.
»Sie haben eine Tochter?« fragte der Cavaliere herablassend. Mancafede schmunzelte bescheiden.
»Meine Tochter hat von Ihnen gesprochen, Cavaliere.«
»Es wäre nicht nötig gewesen.«
»Nach Ihrem Belieben. Indessen, da sie viel allein ist, beschäftigt sie gern ihren Geist, und so scheint es, dass sie, mehr als wir anderen, von der Welt weiß und von gewissen Dingen, die« – mit der Hand auf dem Herzen – »uns anderen zu groß sind. Ihr Ruhm, Cavaliere, hat meine Evangelina nicht schlafen lassen. Sie schläft sonst nach dem Mittagessen; gestern aber stand sie, nach einigem Seufzen, wieder auf und sagte: ›Papa, jetzt ist er unterwegs hierher!‹ – ›Wer, Töchterchen?‹ – ›Er, der Cavaliere Giordano.‹ Und tatsächlich, bedenkt man es wohl, o meine Herren, soll man ihr dann nicht recht geben, und ist es nicht ein wahres Wunder, dass ein Mann, den sie in Paris und in London mit Angst erwarten, alles ausschlägt, um gerade uns zu erwählen? Kaum glaubt man es, dass er hier sitzt, mitten unter uns, wie einer von uns!«
»Tatsächlich«, sagten die Bürger nachdenklich. Der Advokat meinte:
»Dies wäre wirklich eine Gelegenheit, am Rathaus eine Gedenktafel anzubringen.«
Der Sekretär Camuzzi verzog zweiflerisch das Gesicht, aber er hatte die Mehrheit der Bürger gegen sich. Sie erklärten:
»Ein guter Gedanke! Eine patriotische Tat! Die Stadt schuldet es sich!«
Der Cavaliere Giordano verbeugte sich, groß und glücklich, nach allen Seiten. Dann wandte er sich vertraulich an den Kaufmann:
»Und, nicht wahr, mein Herr, irgendein Zufall wird es sein, der Ihrer Tochter meine bevorstehende Ankunft enthüllt hat? Sie hat diese Kenntnis nicht aus sich selbst und nicht auf geheimnisvolle Art? Das alles hat nichts zu bedeuten?«
Mancafede hörte die Bitten des Cavaliere schweigend an. Wenn er sich den alten Tenor zum Feind machte, drohte ein Ballen roten Flanells, den die Bauern nicht gekauft hatten und den er jetzt an die Komödianten hätte loswerden wollen, noch länger liegenzubleiben. Aber sein väterlicher Ehrgeiz siegte, und er hob die Schultern.
»Welch Zufall denn wohl, – da nur der Maestro darum wusste. Sagen Sie selbst, Maestro, ob Sie einer lebenden Seele einen Wink erteilt haben!«
»Um nicht beschämt zu sein, wenn der Cavaliere nicht kam. Aber was hat es mir genützt« – und die blauen Augen des Kapellmeisters waren feucht und zornig – »da er nun fort will, ohne gesungen zu haben!«
Der Kaufmann schlug entsetzt die Hände zusammen; ein Murmeln der Trauer ging durch den Kreis der Bürger. Der Cavaliere beschwichtigte sie mit einer Geste von leichter Erhabenheit.
»Fürchten Sie nichts!« sagte er, machte eine Pause und stellte sich die Gedenktafel vor, »ich werde bleiben.«
»Ah!«
»Ich habe bedacht, dass ich auch in Parma blieb, trotz der Gefahr, die Sie kennen. Möglich, dass dies die Stadt mit nicht hunderttausend Einwohnern ist, die mir verhängnisvoll werden soll: aber, nicht weniger entschlossen als in Parma, wähle ich statt des Lebens den Ruhm«; – und er senkte die Hand im Bogen auf den Tisch. Der Kapellmeister ergriff sie mit seinen beiden und schüttelte sie wild.
»Cavaliere, nie werde ich Ihnen danken können, was Sie für mich tun!«
Er stammelte mit feuchter Stimme:
»Dann darf ich also hoffen, dass auch die anderen Herren …«
»Sie werden bleiben«, ergänzte der Kaufmann. »Das wissen wir, ohne meine Tochter zu fragen.«
Und er erinnerte den Familienvater Gaddi an die Erhöhung der Gagen, sobald das Theater ausverkauft wäre. Der Bariton lächelte schwelgerisch. Dem Fräulein Italia Molesin verhieß Mancafede einen reichen und mächtigen Freund. Sie und der Advokat sahen errötet aneinander vorbei.
»Was aber den Herrn Nello Gennari betrifft«, sagte der Kaufmann, »sind wir sicher, dass alle seine Träume sich erfüllen werden.«
Gaddi streckte schon die Hand aus, um seinen Freund zu halten, aber Nello brach nicht los; er schluckte hinunter und senkte zu aller Überraschung vor dem spöttisch blinzelnden Kaufmann die Lider.
»Halten wir uns doch mit diesen Nebensachen nicht länger auf!« verlangte der Kapellmeister und trat von einem Fuß auf den anderen. »Meine Herren, ich mache Sie dafür verantwortlich, wenn wir …«
»Schließlich hat der Maestro recht«, sagte Italia, denn der Advokat trat sie zu stark, und sie stand auf. Auch die übrigen machten sich fertig. Nello Gennari allein blieb sitzen.
»Ich kann noch nicht singen«, behauptete er hartnäckig. »Ich muss vorher allein sein. Geht nur zu, erwartet mich in zehn Minuten! Ich muss allein sein.«
Er nahm den Kopf zwischen die Hände und war nicht mehr zu sprechen. Die Bürger fühlten sich zu angeregt, um heimzugehen. Da der Kapellmeister sie durchaus nicht mitnehmen wollte, beschlossen sie, ihr Zusammensein im Laden des Tabakhändlers Polli zu verlängern.
*
Der Kapellmeister stolperte in seiner Hast über Jungen, die am Boden mit Steinchen warfen. Er riss sie auseinander und verlangte, dass sie den Platz räumten. Er hielt sich nicht mehr; alles war ihm im Wege: die Hunde, die gaffenden Handwerker an den Mauern. Da schlug es zwölf, und sie verzogen sich im bunten Getöse des Mittagläutens.
Der Advokat begleitete Italia Molesin. Der Kapellmeister, der zwischen Gaddi und dem Cavaliere Giordano ging, wandte sich auf den ersten Stufen der Treppengasse um und rief: »Sie wissen wohl, Herr Advokat, wir können keinen Fremden bei der Probe gebrauchen.«
»Versteht sich«, rief der Advokat zurück. »Sie werden nicht kommen, ich bürge dafür, sie sind bei Polli.«
Und er bückte sich, um eine Ziege zu entfernen, die seiner Dame im Wege lag. Aber Italia hüpfte kreischend über sie hinweg.
»Mir gefällt die Unerschrockenheit schöner Frauen«, sagte der Advokat. Durch den Kot der Hühner, die gackernd flüchteten, stiegen sie zwischen den schwarzen Häusern fort, aus deren Türen Rauch schwankte.
»Gut, dass wir dableiben«, sagte Italia, und lachte; »ich hätte nicht gewusst, wie ich meine Reise bezahlen sollte, oder auch nur den Wirt.«
»Wie? Aber hat denn der Baron nicht …?«
Er schlug sich auf den Mund.
»Wer?« fragte sie.
»Oh, niemand!«
Italia wandte einen raschen Seitenblick nach ihm um, schüttelte lachend die Schultern und sprang höher. Er keuchte, rechts und links winkend, hinterdrein.
»Bemerken Sie, wie alle auf die Schwellen treten? Jeder hat schon Rat und Beistand von mir verlangt. Mit Recht oder Unrecht hält man mich für einen mächtigen Mann … Und auch für einen reichen, darf ich sagen. Denn sehen Sie den Palazzo? Das Eckhaus mit den beiden Säulen: es ist das größte und schönste; und da meine Schwester, die Witwe Pastecaldi, bei ihrer Heirat abgefunden wurde, gehört es meinem Bruder Galileo und mir, jedem zur Hälfte. Ich habe darin eine Wohnung von vier schönen Zimmern …«
Der Advokat blieb stehen und schmatzte.
»– und eine Sammlung von gewissen Bildern: ah! gewissen Bildern … Man zeigt so etwas den Leuten nicht; Ihnen aber, Fräulein: wenn Sie mich besuchen wollen – oh! keine Furcht, Sie betreten das Haus eines Ehrenmannes«; – und er stellte die Hand steil zwischen sie und sich. Italia lachte, aber voll Achtung. Einem Manne von solcher Ritterlichkeit begegnete man selten; und einem, der sogleich seine ganzen Verhältnisse darlegte, wie bei einem ernsthaften Antrag!
»Nach der Probe will ich Sie besuchen«, sagte sie, »und mir Ihre schönen Bilder ansehen … Auch Ihre schönen Zimmer«, setzte sie hinzu und zögerte, ob sie ihm noch weiter entgegenkommen sollte. Statt dessen machte sie sich einen bescheiden lockenden Senkblick. Er lächelte galant und führte seine welke Hand ans Herz.
»Oh! Fräulein Italia, wir könnten uns verstehen.«
Sie versuchte ein paar Stufen höher zu gelangen, aber er hielt immer wieder an.
»Ich war stets ein Verehrer der Schönheit; und bei Ihrem Anblick …«
»Da ist er! Und die Eier?« rief es aus dem Hause herab; und eine große Frau mit einem rot verschnürten Sammetmieder und kurzen Hemdärmeln stand im Fenster und drohte mit dem Finger.
»Ah! der Advokat, so ist er. Seine Familie würde er Hungers sterben lassen: er aber, immer mit den Frauen.«
»Meine Liebe«, sagte der Advokat hinauf, »es gibt gewisse Dinge, die du nicht beurteilen kannst.«
»Immer derselbe, der Advokat!« – und die Schwester breitete verzweifelt die Arme aus; aber ihr Kindergesicht, in das zwei graue Strähnen fielen, lächelte bewundernd.
»Welch schöner junger Mann, nicht wahr, Fräulein? Ah! geh, Taugenichts, unterhalte dich! Lass deine Familie ohne die Eier!«
»Ich habe sie mitgebracht, im Café kannst du sie abholen. Aber merke dir, meine Liebe, dass ich jetzt nicht immer Zeit haben werde für deine Angelegenheiten, da ich mit Wichtigerem sehr beschäftigt bin.«
»Man sieht es«, rief die Witwe Pastecaldi noch, indes sie sich zurückzog. Der Advokat bemerkte:
»Man muss Geduld haben. So ist das Leben in einer kleinen Stadt.«
Er hatte schon wieder die Hand auf der Brust, und Italia, die gekichert hatte, bekam sogleich ihre fromme Miene zurück.
»Bei Ihrem Anblick«, fuhr er fort, »fühle ich deutlicher als je, dass große Dinge in mir schlummern. Vielleicht war auch ich zum Künstler bestimmt? Ah! haben Sie je über das Schicksal nachgedacht?«
Aber sie zeigte bestürzt auf die Gestalt, die hinter dem Palazzo Belotti ganz allein auf dem breiten Treppenabsatz stand. Es war ein kleiner Uralter in abgetragener Herrenkleidung. Mit seinen trockenen Falten, seinen Greisenaugen schien er über die Menge hinzulächeln, die nicht da war, bewegte dabei die Lippen, schlug mit dem Fuß aus und schwenkte, die Linke am Herzen, im Bogen seinen randlosen Hut.