Die kleine Stadt

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»Ah, die Frau­en«, seufz­te der Ad­vo­kat, schmerz­lich ge­trof­fen durch die Miss­bil­li­gung der hüb­schen Frau Ca­muz­zi. Ihr Mann sag­te:

»Auch die Baro­nin Tor­ro­ni wird so­gleich zu der Par­tei des Pries­ters sto­ßen.«

Der Ad­vo­kat und sei­ne Freun­de sa­hen sich mit nie­der­ge­schla­ge­nen Mie­nen nach dem Palaz­zo Tor­ro­ni um. Statt der Baro­nin zeig­te sich dort hin­ten an der Ecke zum Gast­haus Ita­lia Mo­le­sin, die Ko­mö­di­an­tin.

»Wie sie um ihn her schnat­tern und Flü­gel schla­gen, die Gän­se!« sag­te der Ta­bak­händ­ler Pol­li, voll Mut durch die Ab­we­sen­heit sei­ner Frau. »Wa­rum sie ihm nicht die Fett­fle­cken von der Sou­ta­ne schle­cken!«

Der Ge­mein­dese­kre­tär grub wei­ter in der Wun­de.

»Sie müs­sen nicht glau­ben, Ad­vo­kat, dass Sie mit Don Tad­deo und den Sei­nen leicht fer­tig wer­den. Er weicht Ih­nen aus: umso schlim­mer. Er ver­steckt sich hin­ter dem Schlos­ser Fan­ta­piè, der alle Ar­bei­ten für die Kir­che und das Klos­ter macht und den Schlüs­sel kei­nen Au­gen­blick frü­her be­en­det ha­ben wird, als es dem Pries­ter recht ist …«

Ein Schwarm Schul­kin­der brach aus dem Cor­so her­vor, wi­ckel­te Ita­lia ein, schnell­te über sie hin­aus und lärm­te so sehr, dass nichts mehr zu ver­ste­hen war. Die Tau­ben flüch­te­ten vom Pflas­ter in die Luft, zu den Vor­sprün­gen am Dom. Ei­ni­ge kehr­ten zu­rück und lie­ßen sich auf den Rand der Brun­nen­scha­le nie­der. Ita­lia kam nä­her; das Tuch war ihr von den Schul­tern ge­glit­ten, Hüf­ten und Au­gen dreh­te sie hin und her und kau­te da­bei. Wie sie die Tau­ben sah, mach­te sie sich her­an und hielt ih­nen, zärt­lich krei­schend, die Hand­flä­che mit Brot hin. Zu­gleich hob sie den Kopf nach Bei­fall. Statt des­sen sag­te Frau Ac­qui­sta­pace:

»Ist es er­laubt, Re­ve­ren­do, dass eine ver­lo­re­ne Frau die Kir­chen­tau­ben füt­tert?«

In­des Don Tad­deo seufz­te, füg­te die No­nog­gi hin­zu:

»Ich wer­de mei­nen Be­sen ho­len. In der ers­ten Nacht, wenn man denkt! Und mit ei­nem Edel­mann!«

Frau Ca­muz­zi hielt im­mer­fort die Li­der ge­senkt. Un­ver­se­hens drück­te sie ih­ren Spit­zen­schal ge­gen den Hals und spie aus, – was ihr gut stand. An ih­rem schwar­zen Kleid vor­bei sah man es sil­bern nie­der­fal­len. Ita­lia rich­te­te sich fra­gend auf. Vor dem Café sag­te nie­mand ein Wort. End­lich ver­such­te der Ad­vo­kat:

»Die­se Da­men schei­nen et­was zu wis­sen. Soll­te denn No­nog­gi …«

Ohne ihn an­zu­se­hen, er­wi­der­te der Apo­the­ker:

»Auch ohne No­nog­gi kommt schließ­lich al­les her­aus.«

»Das ist ab­scheu­lich«, rief der Ad­vo­kat. »Ich wa­sche mei­ne Hän­de in Un­schuld, – ob­wohl ich, wie ich hin­zu­set­zen muss, der ers­te ge­we­sen bin, der die Sa­che er­fah­ren hat.«

Aber da Jole Ca­pi­ta­ni, die Frau des Dok­tors, denn in­zwi­schen war sie an­ge­langt, sich mit ih­rer trä­gen Stim­me bei dem Pries­ter er­kun­dig­te, ob man die Ko­mö­di­an­tin nicht ein­sper­ren könn­te, da­mit sie nie­man­den mehr ver­füh­re, em­pör­te sich der Ad­vo­kat.

»Die nun nicht! Ah! die nicht. Eine Frau, die so dick ist, soll­te nicht von an­de­ren Bö­ses re­den!«

Ita­lia war da, hat­te Trä­nen in den Au­gen und frag­te:

»Was ha­ben die­se Da­men?«

Das Schwei­gen der an­de­ren mach­te den Ad­vo­ka­ten noch be­tre­te­ner.

»Nichts«, brach­te er her­vor. »Wir sind in ei­ner klei­nen Stadt, was wol­len Sie; man sieht hier nicht gern, dass eine Frau lan­ge schläft.«

»Aber das Fräu­lein hat sich den Schlaf ver­dient«, mein­te Pol­li bie­der.

»Das glau­be ich! Die Rei­se mit der Post, und in So­g­lia­co je­den Abend ge­spielt …«

»Und viel­leicht auch die Lie­be?« schlug der Leut­nant vor und rück­te sich zu­recht.

»Die Lei­den­schaft!« rief der Ad­vo­kat ei­fer­süch­tig. »Denn die Künst­le­rin­nen lie­ben mit Lei­den­schaft, und das reibt sie auf. Ich ken­ne es.«

»Wie wahr!« – und Ita­lia dank­te ihm, in­dem sie ihn mit den Au­gen kit­zel­te. Der Ad­vo­kat schnauf­te.

»Die­se hier«, er­klär­te der Ba­ri­ton Gad­di, »ist nicht leicht auf­zu­rei­ben, sie isst zu vie­le Mak­ka­ro­ni.«

»Man soll­te sich über die Frau­en nie­mals lus­tig ma­chen«, er­wi­der­te der alte Gior­da­no süß. »Sie sind eine zu erns­te An­ge­le­gen­heit.«

»Dan­ke, Ca­va­lie­re« – und sie kit­zel­te auch ihn. »Ich lie­be den ga­lan­ten Mann.«

»Man weiß, man weiß!« – mit ei­nem Schla­ge zwi­schen die Glä­ser; und der Ta­bak­händ­ler sah sich, krebs­rot, nach dem Apo­the­ker um. »Der Baron!« wis­per­ten sie er­stickt und platz­ten gleich­zei­tig aus.

»Was ha­ben die­se Her­ren?« frag­te Ita­lia. Um sie für sich zu ge­win­nen, kit­zel­te sie bei­de mit den Au­gen und zur Si­cher­heit auch noch den Leut­nant.

Der Ad­vo­kat droh­te ihr mit dem Fin­ger; sie lach­te; und in­zwi­schen kam Frau Ca­muz­zi, vom Dom her, mit tief ge­senk­ten Li­dern vor­über. Ita­lia sah ihr voll Span­nung und Un­ter­ord­nung nach.

»Ist das die Dame, die aus­spie?« flüs­ter­te sie. »Und warum spie sie vor mir aus?«

»Auch ich bin be­lei­digt«, sag­te der alte Gior­da­no dumpf und grü­bel­te, wie­der ganz in Fal­ten, vor sich hin.

Nel­lo Gen­na­ri fuhr zu­sam­men, als er­wach­te er, und starr­te ir­gend­ei­nen an.

»Hier ist je­mand, der al­les weiß. Al­les, ver­steht ihr? Ist das nicht schreck­lich?«

»Ich hat­te es ver­ges­sen«, sag­te der alte Gior­da­no schau­rig. »Mein Ge­dächt­nis! Aber jetzt er­ken­ne ich, wo­her hier das Un­glück kommt. Dort im Win­kel hin­ter dem Turm …«

Er zwang Ita­lia, in sei­ne auf­ge­ris­se­nen Au­gen zu se­hen, und wies mit dem Dau­men rück­wärts. Der Ad­vo­kat mach­te lei­se »Sst«. Pol­li raun­te:

»Man sieht nicht hin.«

»Das ist doch schreck­lich, im­mer sol­che Au­gen ei­ner Un­sicht­ba­ren auf sich zu ha­ben«, wie­der­hol­te Nel­lo Gen­na­ri, den Blick ge­senkt. Der Ba­ri­ton nahm sei­ne Uhr­ket­te in die Hand.

»Ich sage nicht, dass es eine große An­nehm­lich­keit ist.«

»Was gibts? Oh, was habt ihr?« – und Ita­lia hat­te den Han­drücken am Mun­de.

»Du hast Horn­bre­lo­ques, Gad­di?« frag­te der alte Te­nor. »Man soll­te sie nie ab­le­gen.«

Rasch und ohne sich um­zu­wen­den, spreiz­te er zwei Fin­ger ge­gen das Haus Man­ca­fe­de.

»Was gibts, mein Gott?« fleh­te Ita­lia. »Ich will fort.«

»Was denn«, mach­te der Ad­vo­kat. »Wir le­ben doch alle hier, und es tut uns nichts. Es ist ein Mäd­chen, das seit neun Jah­ren, ohne krank zu sein, das Haus nicht ver­lässt und den­noch al­les weiß, was ge­sche­hen ist, und zu­wei­len auch, was noch nicht ge­sche­hen ist …«

»Man muss zu­ge­ben« – und der Ge­mein­dese­kre­tär lä­chel­te spöt­tisch, »dass es ein we­nig un­heim­lich sein mag, wenn man es noch nicht ge­wohnt ist.«

»Ich will fort.«

Ita­lia stieß ih­ren Stuhl zu­rück. Der Ad­vo­kat pack­te sie an und drück­te sie auf den Sitz.

»Sie, eine Künst­le­rin, woll­ten flie­hen vor ei­ner ein­fa­chen Er­schei­nung der mensch­li­chen Na­tur?«

»Nun, ein­fach …«, mein­te der Se­kre­tär. Ita­lia sah, um­klam­mert vom Ad­vo­ka­ten, nach Hil­fe um­her.

»Da­rum bin ich be­lei­digt wor­den«, be­gann wie­der der alte Gior­da­no. »Ich, der seit fünf­zig Jah­ren …«

»Hat dar­um jene Dame vor mir aus­ge­spien?« frag­te Ita­lia er­leuch­tet.

»Aber die Wis­sen­schaft …«, hob der Ad­vo­kat an.

»Wer ist also noch si­cher!« rief Nel­lo Gen­na­ri, sprang auf und mach­te, die Arme ver­schränkt, eine stür­mi­sche Run­de um den Tisch. »Sie weiß«, dach­te er in plötz­li­chem Er­ken­nen, »wo ich die Nacht war und dass ich Alba lie­be! Ich woll­te eher tot sein, als ein mensch­li­ches We­sen im Be­sitz mei­nes Ge­heim­nis­ses se­hen. Sie aber hat es: schon ges­tern wuss­te sie den Na­men! – und kann mich ver­ra­ten. Ich lebe von ih­rer Gna­de, wie ist das zu er­tra­gen!« Er setz­te sich wie­der und nahm die Stirn in die Hän­de.

»Die Wis­sen­schaft wird …«, sag­te der Ad­vo­kat. Der alte Gior­da­no hob plötz­lich die Arme und riss die Luft in sei­nen of­fe­nen Mund hin­ein.

»Und mei­ne Pro­phe­zei­ung! Die­se Stadt hat we­ni­ger als hun­dert­tau­send Ein­woh­ner, und ich bin um­ge­ben von Ge­heim­nis. Ich wer­de hier ster­ben.«

»Ja, man muss vor­sich­tig sein« – und der Ba­ri­ton dreh­te un­er­schüt­tert an sei­nen klei­nen Hör­nern. Der Alte schrumpf­te zu­sam­men. Der Ad­vo­kat be­kam un­ver­se­hens eine Art An­fall. Er zuck­te wild mit den Schul­tern, sei­ne Han­drücken ta­ten klei­ne kramp­fi­ge Schlä­ge in die Luft, die Adern schwol­len ihm, und sei­ne Au­gen wa­ren die ei­nes Er­sti­cken­den.

*

Plötz­lich stand der Ka­pell­meis­ter Dor­leng­hi am Tisch und sag­te, rasch at­mend:

»Wenn es den Her­ren ge­fällt, zur Pro­be!«

Nie­mand ant­wor­te­te ihm. Ita­lia zerr­te ihr Ta­schen­tuch durch die Zäh­ne, der alte Gior­da­no sah ent­rüs­tet weg. Dann nahm der Ad­vo­kat das Wort.

»Gu­ten Tag, Dor­leng­hi, set­zen Sie sich!«

»Ver­lie­ren wir kei­ne Zeit, ihr Her­ren! Die­se elen­de Schu­le hat mich lan­ge ge­nug auf­ge­hal­ten. Denn ich bin ein klei­ner Dorf­mu­si­ker und muss die Kin­der sin­gen leh­ren. Kom­men Sie!«

Da nichts sich reg­te, frag­te er, sto­ckend und erb­lasst:

»Aber was ist ge­sche­hen? Ich ver­ste­he nicht …«

Der Ad­vo­kat fuch­tel­te ver­zwei­felt. Auf ein­mal klapp­te er die Arme her­un­ter und sag­te leicht­hin:

»Sie wol­len nicht, Dor­leng­hi. Die­se Her­ren ha­ben den Plan ge­fasst, ab­zu­rei­sen.«

»Ach ja, ab­rei­sen!« – und Ita­lia nick­te flie­gend und ver­zerrt, als sei sie von Schlan­gen um­wi­ckelt.

 

»Auch ich rei­se«, sag­te der alte Gior­da­no. »Ich will hier nicht ster­ben.«

Der Ka­pell­meis­ter griff nach ei­nem Stuhl und griff da­ne­ben. Der Ad­vo­kat fing ihn auf und setz­te ihn hin.

»Mut, Dor­leng­hi! Auch mir ist die­ser Zwi­schen­fall pein­lich; aber was wol­len Sie? Künst­ler sind Lau­nen un­ter­wor­fen, das wuss­ten wir. Wer das Ge­nie will, muss auch die Lau­nen wol­len.«

»Im­mer­hin«, mein­te der Ba­ri­ton, der sei­ne An­häng­sel sorg­fäl­tig ge­prüft hat­te, »es wird viel­leicht bes­ser sein, wir rei­sen.«

Nel­lo Gen­na­ri nahm die Stirn aus den Hän­den; er hat­te einen wir­ren, rin­gen­den Blick; – schüt­tel­te, die Li­der ein­drückend, lang­sam und stark den Kopf und ließ die Stirn zu­rück­fal­len.

»Sie scher­zen«, brach­te der Ka­pell­meis­ter her­vor und lä­chel­te wie eine Pup­pe. »Ein ge­lun­ge­ner Scherz. Aber soll­ten wir nicht ge­hen? Es wird spät, und zum Thea­ter ists weit.«

»Es ist Ernst, mein ar­mer Dor­leng­hi« – und der Ad­vo­kat klopf­te ihn. »Un­se­re Künst­ler fürch­ten sich vor der Un­sicht­ba­ren dort hin­ten. Se­hen Sie nicht hin! Und schließ­lich, wer weiß; Grün­de gibt es für al­les; und selbst ich, Mae­stro, fra­ge mich –. Denn, sa­gen wir die Wahr­heit! die merk­wür­di­gen Din­ge häu­fen sich ein we­nig. Wa­rum muss­te mir Don Tad­deo just heu­te die Un­ge­le­gen­heit mit dem Schlüs­sel be­rei­ten? Über­dies hat­te ich ver­ges­sen, dass der Frau des Wir­tes Ma­land­ri­ni, ja, der Er­si­lia Ma­land­ri­ni, letz­te Nacht der Geist ih­res Va­ters er­schie­nen ist.«

Ita­lia be­gann wild zu la­chen. Alle sa­hen sie ent­setzt an.

»Ein Geist?« frag­te sie.

»Ge­wiss, ein Geist, Fräu­lein«, be­stä­tig­te der Ad­vo­kat ernst. »Denn ich ge­hö­re nicht zu de­nen, die die See­le leug­nen. Ich bin kein Feind der Re­li­gi­on, nur ein Geg­ner der Pries­ter.«

»Aber solch ein Geist, oh, solch ein Geist …« und Ita­lia schüt­tel­te sich.

»Eine Frau ohne Re­li­gi­on lie­be ich nicht«, be­merk­te der Apo­the­ker Ac­qui­sta­pace mit sei­ner bie­de­ren Stim­me. Sie war un­ver­mit­telt still und sah ihm ge­setzt und treu in die Au­gen.

»Das Fräu­lein lacht! Se­hen Sie, dass sie lacht?« wie­der­hol­te der Ka­pell­meis­ter noch im­mer. Er war auf den Bei­nen, in sei­ner zar­ten Haut sah man die Röte bis un­ter die blon­den Kinn­haa­re flie­ßen, und er sag­te mit ei­ner Stim­me, die aus dem Tiefs­ten beb­te:

»Ich habe es ge­wusst, Sie wür­den mich nicht im Stich las­sen. Wo bleibt das Fräu­lein Flo­ra Gar­lin­da?«

»Oh«, mach­te Gad­di, »auf die kön­nen Sie zäh­len, Mae­stro, die singt: auch al­lein, ohne uns, und kein Un­glück, bö­ser Blick oder Geist hält sie ab, denn sie glaubt an nichts.«

»Also ge­hen wir vor­an! Das Kla­vier ist oben« – und er wies nach der Trep­pen­gas­se; »ich habe große Mühe da­mit ge­habt, bis es oben war … Wie? Mei­ne Her­ren, ich bit­te Sie, ich bit­te Sie.«

»Es wäre viel­leicht bes­ser, an nichts zu glau­ben?« ver­mu­te­te der Ad­vo­kat.

»Wenn Sie nicht kom­men: ja, was tue ich«, sag­te der Ka­pell­meis­ter und griff sich flie­gend an die Stirn.

»An ge­wis­se Din­ge nicht zu glau­ben, ist schwer«, be­merk­te der Ca­va­lie­re Gior­da­no. »Beim Thea­ter be­son­ders.«

»Mei­ne Zu­kunft! Sie wer­den nicht wol­len, dass al­les um­sonst war?«

»Ich habe sie er­lebt« – und der Ba­ri­ton schlug sich auf die star­ke Brust. »In Pe­sa­ro ver­schwan­den die Schmink­töp­fe, die man so­eben noch in der Hand ge­hal­ten hat­te, und in ei­ner an­de­ren Gar­de­ro­be fand man sie wie­der. Ich muss­te die mei­nen mehr­mals von der Pri­ma­don­na zu­rück­ho­len.«

»Das soll dei­ne Frau er­fah­ren«, sag­te Ita­lia.

»Wer­de ich denn nie­mals hier her­aus­kom­men?« – und der Ka­pell­meis­ter schlug hart auf sei­nen Stuhl auf und sah ge­beugt sei­ne Hän­de an, die in dürf­ti­gen, zu lan­gen Är­meln sta­ken, ge­schwol­le­ne Adern hat­ten und schwitz­ten.

Man er­wi­der­te ihm mit Ent­rüs­tung:

»Sie wa­ren froh ge­nug, her­zu­kom­men. Uns scheint, dass hun­dert­fünf­zig …«

Der Ca­va­lie­re Gior­da­no be­wog die Bür­ger mit ei­ner Hand­be­we­gung zum Schwei­gen.

»In Par­ma hat das Thea­ter, wie vie­le selbst un­ter de­nen, die dort auf­ge­tre­ten sind, nicht wis­sen, – aber es ist Tat­sa­che, dass das Thea­ter einen Geist hat. Ich habe ihn er­blickt.«

Er nick­te al­len nach­ein­an­der in die Au­gen.

»Je­ner Geist war vor hun­dert Jah­ren eine Dame des Ho­fes und soll, ob­wohl ein re­li­gi­öses Ge­lüb­de es ihr ver­bot, einen Te­nor ge­liebt ha­ben. Nun kommt sie, so­oft ein jun­ger, noch un­be­kann­ter Te­nor singt, durch den Gang aus dem Schloss ins Thea­ter. Im­mer in der­sel­ben Loge sitzt der Geist, die er bei Leb­zei­ten hat­te, und war­tet, ob der Frem­de je­nen Ton aus­hal­ten wird …«

»Je­nen Ton?« wie­der­hol­te man.

Der Ka­pell­meis­ter war schon wie­der auf­ge­sprun­gen. Er tat ei­ni­ge Schrit­te, schob wü­tend einen schrei­en­den Hau­fen Jun­gen aus­ein­an­der, ging dem Brun­nen zu.

»Und mei­ne Ou­ver­tü­re!« sag­te er im­mer wie­der, nun dumpf, nun aus­bre­chend, nun knir­schend. Er stütz­te die Hän­de auf die Brun­nen­scha­le und stöhn­te laut.

»Sie soll im Thea­ter auf­ge­führt wer­den! Die Gar­lin­da soll mei­ne Arie ›Trau­ri­ges Ge­schick‹ sin­gen! Wozu ist sie da, wozu sind sie alle da! Ah! Sie wol­len mir nicht ans Licht hel­fen, das ich ver­die­ne? Sie wol­len mich auf­hal­ten?«

Er griff sich ins Haar, er ball­te die Faust.

»Sie mö­gen sich hü­ten! Ich habe ihre Kon­trak­te, ich wer­de sie da­mit ver­nich­ten, ohne Gna­de ver­nich­ten!«

Und er spie in den Brun­nen. Dann kehr­te er zu­rück, et­was ein­wärts auf sei­nen ge­krümm­ten Bei­nen; und da er fühl­te, dass beim Nä­her­kom­men sein Ge­sicht, er moch­te wol­len oder nicht, einen be­schei­de­nen Aus­druck be­kam, zwang er es zu dro­hen.

»Bei der Un­mög­lich­keit, dies ge­nau zu wis­sen«, sag­te der Ca­va­lie­re Gior­da­no, »wer­den Sie ver­ste­hen, mei­ne Her­ren, wie schwie­rig mei­ne Lage war.«

»Teu­fel!«

»Den­ken Sie sich: ah­nungs­los trifft man in Par­ma ein, singt fröh­lich drauf­los, – um in der letz­ten Pau­se von ir­gend­ei­nem gu­ten Her­zen zu­fäl­lig zu er­fah­ren, dass in der drit­ten Loge rechts eine geis­ter­haf­te Dame sitzt, die dar­auf war­tet, ob man je­nen Ton aus­hält, bei dem vor hun­dert Jah­ren ihr Lieb­ha­ber ge­stor­ben ist. Hält man ihn aus, stirbt man auch, das steht fest. Man er­stickt an ihm.«

»Schö­nes Ver­gnü­gen!«

»Und man weiß nicht, wel­cher es ist! Die Über­lie­fe­run­gen stim­men nicht über­ein. Es konn­te auch das hohe D sein, mei­ne Her­ren: das hohe D mei­ner großen Arie ›O blei­che Ster­ne‹ im letz­ten Akt der ›Gala­thea‹. Aber soll ich auf mein ho­hes D ver­zich­ten? Mit ihm be­sie­ge ich je­des Pub­li­kum. Jetzt wer­de ich da­für viel­leicht ster­ben, elend er­sti­cken? Es han­delt sich um die Wahl zwi­schen Le­ben und Ruhm … Mei­ne Her­ren, ich war jung, ich nahm den Ruhm.«

»Bra­vo! Bra­vo!«

Der Ad­vo­kat lach­te keu­chend da­zwi­schen, ohne sich sei­ner Un­ge­bühr be­wusst zu sein, nur aus Auf­re­gung, weil er un­ter dem Tisch auf einen Fuß ge­sto­ßen war, der, wenn nicht al­les täusch­te, Ita­lia Mo­le­sin ge­hör­te. Der Ca­va­lie­re Gior­da­no sah ihn stra­fend an, und er riss, er­tappt, die Brau­en in die Höhe.

»Frei­lich sag­te ich mir auch: es wird nicht das D ge­we­sen sein, an dem je­ner Schar­la­tan er­stickt ist; denn das hält nie­mand zwei Mi­nu­ten lang aus, als nur ich. Gleich­viel: wie ich nun vor dem Souf­fleur­kas­ten ste­he, das gan­ze Haus den Atem zu­rück­drängt und nur ich ihn hin­aus­schmet­te­re, lan­ge, lan­ge, lan­ge: – oh, ich sage die Wahr­heit, mir war nicht wohl. Vi­el­leicht war ich ein we­nig feucht, viel­leicht ver­schwamm es mir ein we­nig vor den Au­gen. Es kann so­gar sein, dass mei­ne Kräf­te nachlie­ßen. Da aber lenkt Gott mei­nen Blick, und ich sehe in der drit­ten Loge rechts eine Ge­stalt sich er­he­ben und laut­los Bei­fall klat­schen. Das Blut schießt mir zum Her­zen, mit Macht bre­che ich ab, höre das Haus tau­send Hän­de be­we­gen und füh­le, dass ich ge­ret­tet bin. Ich ver­beu­ge mich vor der drit­ten Loge rechts in dem Au­gen­blick, da die Ge­stalt zu­rück­tritt und ver­schwin­det. Noch jetzt, scheint mir, habe ich sie vor Au­gen: sehr bleich ist sie und ge­klei­det wie eine Äb­tis­sin.«

»Wie eine –!«

Nel­lo Gen­na­ri stand auf ein­mal lang auf­ge­r­eckt da, die Hand am Her­zen und ver­stört und blut­los. All­mäh­lich er­lang­te er Atem.

»– wie eine Äb­tis­sin: ja, das ist sie ge­we­sen. Eine Non­ne! – und je­ner Te­nor starb für sie. Ihre Ge­schich­te ist wahr, Ca­va­lie­re! Ich glau­be an sie!«

Er setz­te sich. Noch wa­ren alle er­schüt­tert.

»Ca­va­lie­re, ich muss Sie auf­for­dern«, be­gann der Ka­pell­meis­ter, schwach und atem­los. Der Ad­vo­kat gab sei­nem Stuhl einen Stoß und mach­te sich, die Hän­de aus­ge­streckt, ei­lig dre­hend über den Platz.

»Was hat er?« frag­te Ita­lia ent­täuscht. Denn un­ter dem Tisch war in­zwi­schen auch ihr Knie dem des Ad­vo­ka­ten be­geg­net. »Mit wem ist er?«

»Das ist der Kauf­mann Man­ca­fe­de, der Va­ter je­ner Frau dort hin­ter dem Turm: nicht hin­se­hen, sie sieht uns.«

»Er scheint nicht ge­fähr­lich.«

»Mei­ne Her­ren«, be­gann wie­der der Ka­pell­meis­ter, »Sie ha­ben wohl nicht be­dacht, wel­che Fol­gen es ha­ben wür­de …«

Die bei­den nä­her­ten sich. Der Ad­vo­kat re­de­te keu­chend und die Luft schla­gend am Ohr des an­de­ren. Plötz­lich schob er ihn vor und ließ ihn los. Der Kauf­mann die­ner­te und reich­te sei­ne tro­ckene küh­le Hand um­her. Sein al­tes Ha­sen­pro­fil mit dem ge­wölb­ten Auge wen­de­te sich ruck­wei­se.

»Wenn die Her­ren es er­lau­ben …«

Je­der ein­zel­ne muss­te ge­nickt ha­ben, be­vor Man­ca­fe­de sich setz­te. Man be­trach­te­te ihn mil­de, wie er sich in sei­ner di­cken brau­nen Ja­cke, die aus­sah wie sein Fell, rund und klein mach­te.

»Sie ha­ben eine Toch­ter?« frag­te der Ca­va­lie­re her­ab­las­send. Man­ca­fe­de schmun­zel­te be­schei­den.

»Mei­ne Toch­ter hat von Ih­nen ge­spro­chen, Ca­va­lie­re.«

»Es wäre nicht nö­tig ge­we­sen.«

»Nach Ihrem Be­lie­ben. In­des­sen, da sie viel al­lein ist, be­schäf­tigt sie gern ih­ren Geist, und so scheint es, dass sie, mehr als wir an­de­ren, von der Welt weiß und von ge­wis­sen Din­gen, die« – mit der Hand auf dem Her­zen – »uns an­de­ren zu groß sind. Ihr Ruhm, Ca­va­lie­re, hat mei­ne Evan­ge­li­na nicht schla­fen las­sen. Sie schläft sonst nach dem Mit­ta­ges­sen; ges­tern aber stand sie, nach ei­ni­gem Seuf­zen, wie­der auf und sag­te: ›Pa­pa, jetzt ist er un­ter­wegs hier­her!‹ – ›Wer, Töch­ter­chen?‹ – ›Er, der Ca­va­lie­re Gior­da­no.‹ Und tat­säch­lich, be­denkt man es wohl, o mei­ne Her­ren, soll man ihr dann nicht recht ge­ben, und ist es nicht ein wah­res Wun­der, dass ein Mann, den sie in Pa­ris und in Lon­don mit Angst er­war­ten, al­les aus­schlägt, um ge­ra­de uns zu er­wäh­len? Kaum glaubt man es, dass er hier sitzt, mit­ten un­ter uns, wie ei­ner von uns!«

»Tat­säch­lich«, sag­ten die Bür­ger nach­denk­lich. Der Ad­vo­kat mein­te:

»Dies wäre wirk­lich eine Ge­le­gen­heit, am Rat­haus eine Ge­denk­ta­fel an­zu­brin­gen.«

Der Se­kre­tär Ca­muz­zi ver­zog zweif­le­risch das Ge­sicht, aber er hat­te die Mehr­heit der Bür­ger ge­gen sich. Sie er­klär­ten:

»Ein gu­ter Ge­dan­ke! Eine pa­trio­ti­sche Tat! Die Stadt schul­det es sich!«

Der Ca­va­lie­re Gior­da­no ver­beug­te sich, groß und glück­lich, nach al­len Sei­ten. Dann wand­te er sich ver­trau­lich an den Kauf­mann:

»Und, nicht wahr, mein Herr, ir­gend­ein Zu­fall wird es sein, der Ih­rer Toch­ter mei­ne be­vor­ste­hen­de An­kunft ent­hüllt hat? Sie hat die­se Kennt­nis nicht aus sich selbst und nicht auf ge­heim­nis­vol­le Art? Das al­les hat nichts zu be­deu­ten?«

Man­ca­fe­de hör­te die Bit­ten des Ca­va­lie­re schwei­gend an. Wenn er sich den al­ten Te­nor zum Feind mach­te, droh­te ein Bal­len ro­ten Fla­nells, den die Bau­ern nicht ge­kauft hat­ten und den er jetzt an die Ko­mö­di­an­ten hät­te los­wer­den wol­len, noch län­ger lie­gen­zu­blei­ben. Aber sein vä­ter­li­cher Ehr­geiz sieg­te, und er hob die Schul­tern.

»Welch Zu­fall denn wohl, – da nur der Mae­stro dar­um wuss­te. Sa­gen Sie selbst, Mae­stro, ob Sie ei­ner le­ben­den See­le einen Wink er­teilt ha­ben!«

 

»Um nicht be­schämt zu sein, wenn der Ca­va­lie­re nicht kam. Aber was hat es mir genützt« – und die blau­en Au­gen des Ka­pell­meis­ters wa­ren feucht und zor­nig – »da er nun fort will, ohne ge­sun­gen zu ha­ben!«

Der Kauf­mann schlug ent­setzt die Hän­de zu­sam­men; ein Mur­meln der Trau­er ging durch den Kreis der Bür­ger. Der Ca­va­lie­re be­schwich­tig­te sie mit ei­ner Ges­te von leich­ter Er­ha­ben­heit.

»Fürch­ten Sie nichts!« sag­te er, mach­te eine Pau­se und stell­te sich die Ge­denk­ta­fel vor, »ich wer­de blei­ben.«

»Ah!«

»Ich habe be­dacht, dass ich auch in Par­ma blieb, trotz der Ge­fahr, die Sie ken­nen. Mög­lich, dass dies die Stadt mit nicht hun­dert­tau­send Ein­woh­nern ist, die mir ver­häng­nis­voll wer­den soll: aber, nicht we­ni­ger ent­schlos­sen als in Par­ma, wäh­le ich statt des Le­bens den Ruhm«; – und er senk­te die Hand im Bo­gen auf den Tisch. Der Ka­pell­meis­ter er­griff sie mit sei­nen bei­den und schüt­tel­te sie wild.

»Ca­va­lie­re, nie wer­de ich Ih­nen dan­ken kön­nen, was Sie für mich tun!«

Er stam­mel­te mit feuch­ter Stim­me:

»Dann darf ich also hof­fen, dass auch die an­de­ren Her­ren …«

»Sie wer­den blei­ben«, er­gänz­te der Kauf­mann. »Das wis­sen wir, ohne mei­ne Toch­ter zu fra­gen.«

Und er er­in­ner­te den Fa­mi­li­en­va­ter Gad­di an die Er­hö­hung der Ga­gen, so­bald das Thea­ter aus­ver­kauft wäre. Der Ba­ri­ton lä­chel­te schwel­ge­risch. Dem Fräu­lein Ita­lia Mo­le­sin ver­hieß Man­ca­fe­de einen rei­chen und mäch­ti­gen Freund. Sie und der Ad­vo­kat sa­hen er­rö­tet an­ein­an­der vor­bei.

»Was aber den Herrn Nel­lo Gen­na­ri be­trifft«, sag­te der Kauf­mann, »sind wir si­cher, dass alle sei­ne Träu­me sich er­fül­len wer­den.«

Gad­di streck­te schon die Hand aus, um sei­nen Freund zu hal­ten, aber Nel­lo brach nicht los; er schluck­te hin­un­ter und senk­te zu al­ler Über­ra­schung vor dem spöt­tisch blin­zeln­den Kauf­mann die Li­der.

»Hal­ten wir uns doch mit die­sen Ne­ben­sa­chen nicht län­ger auf!« ver­lang­te der Ka­pell­meis­ter und trat von ei­nem Fuß auf den an­de­ren. »Mei­ne Her­ren, ich ma­che Sie da­für ver­ant­wort­lich, wenn wir …«

»Schließ­lich hat der Mae­stro recht«, sag­te Ita­lia, denn der Ad­vo­kat trat sie zu stark, und sie stand auf. Auch die üb­ri­gen mach­ten sich fer­tig. Nel­lo Gen­na­ri al­lein blieb sit­zen.

»Ich kann noch nicht sin­gen«, be­haup­te­te er hart­nä­ckig. »Ich muss vor­her al­lein sein. Geht nur zu, er­war­tet mich in zehn Mi­nu­ten! Ich muss al­lein sein.«

Er nahm den Kopf zwi­schen die Hän­de und war nicht mehr zu spre­chen. Die Bür­ger fühl­ten sich zu an­ge­regt, um heim­zu­ge­hen. Da der Ka­pell­meis­ter sie durch­aus nicht mit­neh­men woll­te, be­schlos­sen sie, ihr Zu­sam­men­sein im La­den des Ta­bak­händ­lers Pol­li zu ver­län­gern.

*

Der Ka­pell­meis­ter stol­per­te in sei­ner Hast über Jun­gen, die am Bo­den mit Stein­chen war­fen. Er riss sie aus­ein­an­der und ver­lang­te, dass sie den Platz räum­ten. Er hielt sich nicht mehr; al­les war ihm im Wege: die Hun­de, die gaf­fen­den Hand­wer­ker an den Mau­ern. Da schlug es zwölf, und sie ver­zo­gen sich im bun­ten Ge­tö­se des Mit­tagläu­tens.

Der Ad­vo­kat be­glei­te­te Ita­lia Mo­le­sin. Der Ka­pell­meis­ter, der zwi­schen Gad­di und dem Ca­va­lie­re Gior­da­no ging, wand­te sich auf den ers­ten Stu­fen der Trep­pen­gas­se um und rief: »Sie wis­sen wohl, Herr Ad­vo­kat, wir kön­nen kei­nen Frem­den bei der Pro­be ge­brau­chen.«

»Ver­steht sich«, rief der Ad­vo­kat zu­rück. »Sie wer­den nicht kom­men, ich bür­ge da­für, sie sind bei Pol­li.«

Und er bück­te sich, um eine Zie­ge zu ent­fer­nen, die sei­ner Dame im Wege lag. Aber Ita­lia hüpf­te krei­schend über sie hin­weg.

»Mir ge­fällt die Uner­schro­cken­heit schö­ner Frau­en«, sag­te der Ad­vo­kat. Durch den Kot der Hüh­ner, die ga­ckernd flüch­te­ten, stie­gen sie zwi­schen den schwar­zen Häu­sern fort, aus de­ren Tü­ren Rauch schwank­te.

»Gut, dass wir da­blei­ben«, sag­te Ita­lia, und lach­te; »ich hät­te nicht ge­wusst, wie ich mei­ne Rei­se be­zah­len soll­te, oder auch nur den Wirt.«

»Wie? Aber hat denn der Baron nicht …?«

Er schlug sich auf den Mund.

»Wer?« frag­te sie.

»Oh, nie­mand!«

Ita­lia wand­te einen ra­schen Sei­ten­blick nach ihm um, schüt­tel­te la­chend die Schul­tern und sprang hö­her. Er keuch­te, rechts und links win­kend, hin­ter­drein.

»Be­mer­ken Sie, wie alle auf die Schwel­len tre­ten? Je­der hat schon Rat und Bei­stand von mir ver­langt. Mit Recht oder Un­recht hält man mich für einen mäch­ti­gen Mann … Und auch für einen rei­chen, darf ich sa­gen. Denn se­hen Sie den Palaz­zo? Das Eck­haus mit den bei­den Säu­len: es ist das größ­te und schöns­te; und da mei­ne Schwes­ter, die Wit­we Pa­ste­cal­di, bei ih­rer Hei­rat ab­ge­fun­den wur­de, ge­hört es mei­nem Bru­der Ga­li­leo und mir, je­dem zur Hälf­te. Ich habe dar­in eine Woh­nung von vier schö­nen Zim­mern …«

Der Ad­vo­kat blieb ste­hen und schmatz­te.

»– und eine Samm­lung von ge­wis­sen Bil­dern: ah! ge­wis­sen Bil­dern … Man zeigt so et­was den Leu­ten nicht; Ih­nen aber, Fräu­lein: wenn Sie mich be­su­chen wol­len – oh! kei­ne Furcht, Sie be­tre­ten das Haus ei­nes Ehren­man­nes«; – und er stell­te die Hand steil zwi­schen sie und sich. Ita­lia lach­te, aber voll Ach­tung. Ei­nem Man­ne von sol­cher Rit­ter­lich­keit be­geg­ne­te man sel­ten; und ei­nem, der so­gleich sei­ne gan­zen Ver­hält­nis­se dar­leg­te, wie bei ei­nem ernst­haf­ten An­trag!

»Nach der Pro­be will ich Sie be­su­chen«, sag­te sie, »und mir Ihre schö­nen Bil­der an­se­hen … Auch Ihre schö­nen Zim­mer«, setz­te sie hin­zu und zö­ger­te, ob sie ihm noch wei­ter ent­ge­gen­kom­men soll­te. Statt des­sen mach­te sie sich einen be­schei­den lo­cken­den Senk­blick. Er lä­chel­te ga­lant und führ­te sei­ne wel­ke Hand ans Herz.

»Oh! Fräu­lein Ita­lia, wir könn­ten uns ver­ste­hen.«

Sie ver­such­te ein paar Stu­fen hö­her zu ge­lan­gen, aber er hielt im­mer wie­der an.

»Ich war stets ein Ver­eh­rer der Schön­heit; und bei Ihrem An­blick …«

»Da ist er! Und die Eier?« rief es aus dem Hau­se her­ab; und eine große Frau mit ei­nem rot ver­schnür­ten Sam­met­mie­der und kur­z­en Hem­d­är­meln stand im Fens­ter und droh­te mit dem Fin­ger.

»Ah! der Ad­vo­kat, so ist er. Sei­ne Fa­mi­lie wür­de er Hun­gers ster­ben las­sen: er aber, im­mer mit den Frau­en.«

»Mei­ne Lie­be«, sag­te der Ad­vo­kat hin­auf, »es gibt ge­wis­se Din­ge, die du nicht be­ur­tei­len kannst.«

»Im­mer der­sel­be, der Ad­vo­kat!« – und die Schwes­ter brei­te­te ver­zwei­felt die Arme aus; aber ihr Kin­der­ge­sicht, in das zwei graue Sträh­nen fie­len, lä­chel­te be­wun­dernd.

»Welch schö­ner jun­ger Mann, nicht wahr, Fräu­lein? Ah! geh, Tau­ge­nichts, un­ter­hal­te dich! Lass dei­ne Fa­mi­lie ohne die Eier!«

»Ich habe sie mit­ge­bracht, im Café kannst du sie ab­ho­len. Aber mer­ke dir, mei­ne Lie­be, dass ich jetzt nicht im­mer Zeit ha­ben wer­de für dei­ne An­ge­le­gen­hei­ten, da ich mit Wich­ti­ge­rem sehr be­schäf­tigt bin.«

»Man sieht es«, rief die Wit­we Pa­ste­cal­di noch, in­des sie sich zu­rück­zog. Der Ad­vo­kat be­merk­te:

»Man muss Ge­duld ha­ben. So ist das Le­ben in ei­ner klei­nen Stadt.«

Er hat­te schon wie­der die Hand auf der Brust, und Ita­lia, die ge­ki­chert hat­te, be­kam so­gleich ihre from­me Mie­ne zu­rück.

»Bei Ihrem An­blick«, fuhr er fort, »füh­le ich deut­li­cher als je, dass große Din­ge in mir schlum­mern. Vi­el­leicht war auch ich zum Künst­ler be­stimmt? Ah! ha­ben Sie je über das Schick­sal nach­ge­dacht?«

Aber sie zeig­te be­stürzt auf die Ge­stalt, die hin­ter dem Palaz­zo Be­lot­ti ganz al­lein auf dem brei­ten Trep­pen­ab­satz stand. Es war ein klei­ner Ural­ter in ab­ge­tra­ge­ner Her­ren­klei­dung. Mit sei­nen tro­ckenen Fal­ten, sei­nen Grei­sen­au­gen schi­en er über die Men­ge hin­zu­lä­cheln, die nicht da war, be­weg­te da­bei die Lip­pen, schlug mit dem Fuß aus und schwenk­te, die Lin­ke am Her­zen, im Bo­gen sei­nen rand­lo­sen Hut.