Die Jagd nach Liebe

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»Erlaube, meine Mama ist eine sehr anständige Witwe.«

»Meine nicht ... Das heißt, Witwe ist sie ja nun.«

Spießl stellte nochmals fest:

»Über die Familie wissen wir Bescheid.«

»Und über das andere«, meinte Claude, angewidert. Spießl war ganz freudig.

»Wenn ich hier so sitze, fehlt mir nur die Zeitung, wo ich sagen könnte, was eigentlich das Ganze für 'n ekliger Zauber ist.«

»Gründen wir sie!«

»Wirklich? Ist das dein Ernst? Keine faulen Scherze, bitte.«

Claude lachte feindselig.

»Natürlich. Im Café Luitpold bin ich eben schon an zwei Unternehmungen beteiligt worden; nun kommst du.«

»Tu vornehm, nicht wahr? Ich werde dich niemals um etwas bitten, daß du's weißt. Niemals!«

»Ich weiß ja. Ich kenne dich doch«, sagte Claude weich. Daß Spießl richtig beleidigt sein wollte! Sie forderten sich immerfort heraus, ja; aber sie taten es, weil sie sonst keinen Menschen genügend hochachteten, um ihn herauszufordern. Spießl mißverstand das. Man verstand nichts voneinander, nicht einmal unter zwei Freunden, für die Zynismus Gesetz war.

»Es ist gleich«, äußerte er. »Eine große nihilistische Tageszeitung wäre doch 'ne feine Blüte. Man ist enorm stark, wenn man gar keine Illusionen mehr hat.«

»Das weiß Gott. Hast du keine Zigaretten mehr?«

»Doch. Laß nur. Deine Pfeifen vertrag ich nicht.«

»Wir werden Tag für Tag – Tag für Tag«, wiederholte Spießl und klopfte mit den Knöcheln auf die Tischkante, »in allem, was vorfällt, den nackten Egoismus des Individuums vorzeigen. Der sogenannte Altruist ist natürlich der schlimmste. Wenn der sich um andere bekümmert, das braucht er ja zu seinem Wohlbefinden. Ah! Alles wird niedergerissen, was ihn verhängt, den Egoismus. Alle Redensarten von Patriotismus, Volkswohl, Menschlichkeit. Und das nackte Gerippe!« schrie Spießl begeistert – »das nackte Gerippe des eigennützigen Individuums wird unerbittlich durch alle unsere Spalten laufen.«

»Wir brauchen nur die Wahrheit zu sagen«, meinte Claude, »und es läuft schon. Ich möchte wissen, was Panier und Söhne, Holz und Kohlen en gros, sich aus dem Deutschen Reich noch machen würden, wenn es ihnen nicht hier und da eine Kohlennot bescherte.«

»Natürlich. Dazu ist doch das Deutsche Reich gegründet.«

»Es gibt kein Vaterland«, erklärte Claude hart.

»Es gibt keine Familie«, versicherte Spießl noch härter. Und Claude:

»Es gibt keine Freundschaft.«

»Natürlich nicht!« rief Spießl in großer Angst, der andere könnte ihn überholen. »Wozu hat man denn einen Freund? Damit er einem zuweilen das Stichwort gibt zu einem Selbstgespräch. Man redet überhaupt nur umeinander herum, und keiner versteht das geringste vom andern; wenn du das nur wüßtest, du Esel!«

»Gut, daß du's mir sagst. Was weißt du von mir! Einsichtslos bis dahinaus.«

Dies wollte Spießl eingeschränkt wissen.

»Oh, ich, doch immerhin ... Aber du! Was du von mir weißt! Gar nichts!«

»Du armer Kerl!«

»Bazi du!«

»Du folgst ja nur deinen viehischen Instinkten«, sagte Claude, »wenn du dir einen Freund suchst. Wir haben das mal in uns, die Geister müssen sich aneinander reiben. Wir müssen trachten, zusammenzukommen, so gut wir auch wissen: wir bleiben allein.«

Er zuckte die Achseln: konnte man sich denn mitteilen?

»Immer allein. Da gibt's nichts«, bestätigte Spießl erbarmungslos.

Sie maßen einander durch den Qualm hindurch, die Zwanzigjährigen, beide voll von dem Wort »allein«: der schlankere, korrekt gekleidete, mit matten Schatten im Gesicht, und der andere mit derberen Knochen, dessen weißliche Stirn voll gelber Punkte war. In dem Qualm, den sie aus ihren Mündern stießen und der in der engen Stube grau von der Decke bis auf den Boden hing, begannen sie umeinander herumzulaufen, bebend vor Selbstgefühl, jeder ganz gehoben durch die Erkenntnis des eigenen Elends, ganz feierlich gestimmt durch das Gefühl der weiten Kälte rings um sein einsames Hirn.

Claude erlahmte zuerst.

»Wir wollen das lieber in keiner Zeitung sagen«, meinte er und setzte sich auf das Bett. »Es ist trostlos.«

»So? Ich finde es großartig!« behauptete Spießl.

»Kann sein. Aber wenn man das alles erkannt hat, gründet man eben keine Zeitungen mehr. Das ist ja auch wieder eine Handlung, so unanständig wie alle andern.«

»Ach, so meinst du's? Natürlich; haben wir längst heraus«, erklärte Spießl, auf jedem Standpunkt zu Hause. »Die einzige anständige Handlung ist: die Achseln zucken.«

»Es gibt nur eine Art, nicht niedrig zu handeln: gar nicht handeln.«

»Stimmt. Meinst du, ich gedenke je was anderes zu tun als hier im Winkel sitzen und höhnische, ungebundene Sachen dichten? ... Bloß keine Ziele.«

»Um Gottes willen«, bat Claude, »wovon sprichst du, keine Ziele. Niemals Ziele ... Was nur heutzutage die Mädel haben.«

Er kicherte.

»Die andere Bude.«

»Welche Bude?«

»Ich meine nur, bei den Mädeln, dort sind sie jetzt so kühn.«

»Harmlose Neulinge«, erklärte Spießl.

»Und doch«, sagte Claude nach einer Weile, zweifelnd, ob er das äußern dürfe – »ich möchte nicht werden wie Köhmbold.«

»Köhmbold? Kenne ich nicht.«

Spießl kannte niemand.

»Das ist ein Individuum«, erklärte Claude, »das nur noch auf ästhetischem Wege sein Dasein fristet.«

»Das ist ja recht. Ist man einmal da angelangt, wo wir stehen, da gibt's nur noch Betrachtung: den Quietismus der Schönheit.«

»Hm«, machte Claude. »Wenn es eine Schönheit gegeben hat, woher kam sie? Ich vermute: aus starken Empfindungen, unter der Faust von Leidenschaften hervor, und durch Menschen, die zum Handeln noch das gute Gewissen hatten ... Aber die Schönheit der Schwachen? Der Ästhetizismus der gänzlich Untauglichen? Der Aufputz des verödeten Lebens? Persönliche Zahnstocher? Danke, ich passe.«

»O bitte sehr«, entgegnete Spießl gekränkt. »Schwäche ist vornehm.«

»Gestehe doch, daß es eine reichere Art zu leben gibt als unsere.«

Spießl hob die Arme.

»Ja, wenn man unanständig sein will, darf man stark sein. Du hast bloß die Wahl.«

»Hätte ich sie!« sagte Claude.

»Nun?«

»Es gibt eines, das ich wohl mal so erleben möchte wie einer mit reicherem Blut. Die Liebe.«

Er stand auf. Aber Spießl fuhr los.

»Die Liebe? Die haben wir wohl in unserm nihilistischen Organ noch gar nicht behandelt? Die Liebe! Dieser Weichselzopf von Selbstbetrug, Einsamkeitsflucht, niedrigen Interessen, Herrschsucht, Suggestion, gemeiner Sinnlichkeit. Die fehlet mir!«

»Trotzdem –«, begann Claude wieder.

»Ach was! Du gibst dich ja heut recht schön zu erkennen.«

Claude hörte Spießl gar nicht. Die Ereignisse des Tages hatten ihn umgeschüttelt, er stand wie unter Utes Atem, ganz heiß, und voll der Sucht, sich zu bekennen.

»Ich möchte einmal vor Liebe – na, sagen wir, in Verzückung geraten, toll werden.«

»Macht dich der Stuhlgang toll? Na siehst du? Das ist doch ganz dasselbe!« rief Spießl frohlockend. Claude winkte gequält.

»Das Blech weiß ich selber ... Ach, um sich als höherer Mensch ansehen zu können, muß man gar zu kalt sein. Wer tiefer steht, glaubt manchmal in ein anderes Wesen hineinzukönnen –«

»Aber sehr tief muß er stehen«, meinte Spießl.

»– vergißt sich manchmal, lebt woanders, hingerissen, unter Stürmen, und im Gefühl, selbst ein Sturm zu sein, denk ich mir. Ich wollte, ich wäre einer, der das könnte.«

»Hat dich das traurige Ereignis in deiner Familie schwach gemacht? Willst du Geibelsche Lyrik treiben? Dann trennen wir uns lieber.«

Claude erbitterte sich.

»Ich brauch doch nicht immer Spießlsche zu treiben!«

»Nein. Aber dann trennen wir uns. Ich, das merke dir, habe keine Lust, jemals mein modernes Bewußtsein – jawohl, mein modernes Bewußtsein einem sogenannten Gefühl zu opfern. Du, mein Lieber, hast es in dir: du hängst an einer Frau! Oh, versuche mir nicht weiszumachen, daß das ein für dich schmeichelhaftes Verhältnis ist.«

»Ich hab dir ja selbst erzählt, daß Ute nur meine Freundin ist.«

»Um so schlimmer. Du möchtest zu ihr hinab, du möchtest dich aus der Kälte des wissenden Nihilisten flüchten zu einem von diesen Halbmenschen. Du möchtest Gefühle haben, möchtest niedrig und dumm sein. Ich kenne dich, ich habe dich schon analysiert.«

»So?« fragte Claude neugierig.

»Schon längst«, bestätigte Spießl stolz. »Was meinst du denn. Du läufst einem Literaten täglich vor die Klinge und bildest dir ein, du seist noch nicht analysiert? ... Also dein Vater war eigentlich 'n Typus.«

»Das sagt Archibald auch. Ein denkender Punkt.«

»So was Ähnliches. So ein Spekulant hat etwas vom Phantasten. Weißt du, wie groß sein Vermögen ist?«

»Das kannst du nicht verlangen.«

»Nein, denn er wußte es wohl selber nicht. Das alles steht in der Luft. Ob er im Isartal Villenkolonien oder Schlösser in Spanien gebaut hat, er konnte sie ja nicht sehen von seinem Rollstuhl aus. Es waren Phantasien, aus Drang ins Weite, in hohe Ziffern hinein; aus Spielen mit zweifelhaften Möglichkeiten.«

»Was willst du eigentlich. Von der Vererbung kommt man ja zum Teil schon wieder zurück.«

»Du wirst aus Zartsinn noch katholisch werden ... Von deiner Frau Mutter, das ist leicht zu merken, hast du das Talent zur Liebe. Deine Frau Mutter hat, glaub ich, Verhältnisse.«

 

»Meinetwegen. Ich finde nichts dabei.«

»Meinst du, ich? Ich sage es ja bloß, weil es zu meiner Analyse gehört. Wenn es sich auch nur um eine Zeile Literatur handelt, du, dann sag ich den Leuten noch ganz andere Dinge.«

Und Spießl warf sich in die Brust.

»Also deine Mama hat Verhältnisse. Ob dein Papa es wußte?«

»Ist mir unbekannt und läßt mich kalt. Kommen wir zur Sache.«

»Ich bin bei der Sache. Es kommt doch darauf an, wie sich die sinnliche Frau und der reine Denker gestanden haben.«

»Gar nicht.«

»Na siehst du, so steht's auch in dir! Du bist nämlich für die Liebe auf der Welt wie deine Frau Mutter; aber du möchtest sie in der großartig spekulativen Art betreiben, wie dein Vater Geld verdiente.«

Claude beugte sich erschreckt über seine Knie und sah zu Boden.

»Es ist was Wahres dran«, murmelte er.

»Also wirklich was Wahres? Du Schaf, das ist die Wahrheit über dich!« rief Spießl und rieb sich die Hände.

»Du bist ein Phantast. Du träumst, nein, in deinem Blute träumt es von den alten jähen Vergewaltigungen durch Gefühle. Es jagt etwas in dir, das du mit dem ganzen Bewußtsein eines modernen Menschen durchschaust und verachtest – aber es jagt.«

»Was jagt, wer jagt?«

»Der Urmensch, mein Lieber. Das, was von dem tollen Vieh noch in uns ist.«

»Und wonach jagt er?«

»Dumme Frage. Nach Liebe ... Es versteht sich, daß er sich ganz umsonst abhetzt. Du möchtest schon; du möchtest dich fahren lassen, dich hingeben können, mitjagen. Es wird aber nie was draus werden, weil du ein viel zu hochstehendes Individuum bist. So wirst du immerfort nach Erlebnissen und Zuständen gieren, die dir dein gebildeter Geschmack verbietet – und bist im Grunde, weil Vater und Mutter so schlecht assortiert waren, 'ne ganz verfehlte Existenz ... Nun, wie findest du meine Analyse.«

»Sinnreich«, sagte Claude, sehr bleich und nachdem er hinuntergeschluckt hatte.

Er nahm »Jenseits von Gut und Böse« in die Hand, stützte sich auf seine Knie und las. Plötzlich richtete er sich auf.

»Ach so. Wir sollen ja zu Gisela Gigereit. Mach dich schön, du bist eingeladen.«

Spießl hatte auf einmal seine ganze Überlegenheit eingebüßt.

»Gisela?« fragte er mißtrauisch. »Ist das nicht eine von deinen Damen, die man auf der Straße nicht von Damen unterscheiden kann?«

»Was liegt daran.«

»Das heißt, ich weiß doch lieber, woran ich bin. Und dann, entschuldige, aber ich muß mit der Messalina fertig werden.«

»Gisela kann dir als Vorstufe dienen. Oder besser noch ihre Tochter, das Fräulein Theodora; der liegt die Messalina näher, glaub ich.«

»Eine Tochter hat sie auch noch? Du, ich bin heute wirklich nicht aufgelegt.«

»Schlaucherl, wann bist denn das. Aber ich kann Panier nicht sitzenlassen. Nun komm nur.«

»Panier, ist das der Mensch mit den Brennmaterialien?«

»Die Angst! Er ist ganz friedlich. 'n Greis aus kräftigeren Zeiten, überaus entschlossen und unbewußt. Du kannst Studien machen.«

»Wenn ich Studien machen kann –«, sagte Spießl pflichtbereit und zog seinen Arbeitsrock aus.

In der Amalienstraße, nahe der Akademie, schellte Claude an einer Parterrewohnung. Ein Fensterladen bewegte sich, eine tiefe Frauenstimme sagte:

»Ah! Herr Claude.«

»Grüß Gott, Theodora«, sagte Claude.

»Warum heißt sie so dumm?« fragte Spießl, die Zähne zusammengebissen.

»Nach der byzantinischen Kaiserin, gelt, Theodora? Da, Frau Gisela, das ist mein Freund Spießl, ein sehr kritischer Herr, vor dem man sich keine Blößen geben darf.«

»Bitte, wegen der Blößen komm ich her«, sagte Spießl, tollkühn wie ein Feigling.

Claude bat mit den Augen Gisela um Nachsicht, und sie gewährte sie.

»Wir haben uns seit zwei Wochen nicht gesehn, Claude«, bemerkte sie und führte ihn abseits. Spießl, den Theodora musterte, sah ihnen verzweifelnd nach.

»Läßt du uns auch im Stich?« flüsterte Gisela. Claude fragte:

»Wie geht's euch? Seid ihr nicht zufrieden?«

»Seit der junge Fastenspeis nach Berlin ist, fehlt uns was. Wenn sich nicht bald ein anderer findet, wird der Sommer fad. Wir werden dann in Bäder reisen müssen. Und ich hätt doch keinen größeren Wunsch, als am Land sitzen und Romane lesen.«

Sie sah ihm besorgt in die Augen. Der Rest eines lockenden Lächelns verharrte aus Gewohnheit in ihrem Gesicht. Es war gepudert und bemalt, und es war das einer guten Matrone. Claude weilte gern bei ihr; schon wegen ihres Haares, das beiläufig von Utes Rot war. Das heißt, rein äußerlich, meinte er. Alles Psychische war anders: Utes Seele fehlte hier, ihr Wille, ihre Kraft, ihre Kälte und ihr Feuer, die alle unter violetten Lichtern in ihrem Haar brannten!

»Ach ja«, versetzte Gisela und faßte Claudes beide Hände. »Ich habe es in der Zeitung gelesen von deinem Vater, es tut mir so leid ... Aber daß du heute zu uns kommen konntest«, meinte sie verwundert.

»Warum nicht. Panier kommt auch, nicht?«

»Ja, die Alten, die sind schon die Rechten. Aber daß der einmal ein übriges täte – brauchst keine Angst zu haben. Wenn der gezahlt hat, will er immer noch einen von meines Mannes Kupferstichen als Prämie haben.«

Claude besann sich.

»Schau, Gisela, ich will trachten, dir einen zu finden. Du weißt, ich selbst hab Verpflichtungen.«

»Ich weiß.«

»Da ist ein gewisser Köhmbold, dem würde die Theodora vielleicht gefallen. Er will immer nur Modelle, aber malen tut er nicht und sonst auch nichts.«

»Der muß narrisch sein. Aber 's ist schon recht; das ruht so ein Mädel aus«, entschied die Mutter und legte die Hände ineinander.

»Jetzt erlaubst du schon, daß ich den Tisch herrichte. Der Alte ist so genau. Und ihr werdet auch hungrig sein, gelt, ihr Buben?«

Sie ging hinaus. Spießl und Theodora hatten nichts miteinander anzufangen gewußt. Sobald Claude sich ihnen näherte, gestattete Spießl sich eine Zutunlichkeit. Theodora schüttelte ihn ab. Sie stützte sich im Stehen weich auf einen Lehnstuhl Louis seize, richtete ihre großen, schwarzen Augen kühn auf Claudes Gesicht und fragte:

»Nicht wahr, Ihre Freundin hat jetzt bald ausstudiert?«

»Erst zum Sommer.«

»Und dann kommt sie zum Theater in – ach lassen Sie, ich weiß; irgendwo im Walde liegt's.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Mir? Ein junger Mann. Ich hab sogar gedacht: ob Sie nicht selber mitgehn in den Wald?«

»Ich? Warum.«

»Nun –«

Sie schnellte sich mit der Hand von der Lehne ab, machte zwei gleitende, lange Schritte, führte drei gespitzte Finger an den Haarknoten. Ihr Haar trug sie à la Mérode, ihre langen Gliedmaßen saßen locker in den Gelenken, und Theodora war gewandt in schlanken, flach gewellten Posen und in schmalen Madonnenmienen auf der Höhe eines steil und dunkel eingeschnürten Halses.

»Nun«, wiederholte sie, »weil ich meine, Sie trennen sich nicht gern. Und eine andere kann Ihnen Ihre Freundin doch nicht ersetzen.«

»Nein«, antwortete er bestimmt. Sie sagte:

»Wie dumm Sie sind.«

Gisela ging hausfraulich umher mit Schüsseln und Flaschen. Spießl stürzte sich blind auf ihren Weg, stotterte seine Hilfsbereitschaft, warf ihr einen Salat aus der Hand und sammelte ihn wieder auf.

»Wie Sie galant sind«, versetzte Gisela.

»Der Tisch ist fertig ... Ja, wenn nur der Alte da wär.«

»Wir fangen ohne ihn an«, verlangte Theodora. »Ich möchte einen Rausch haben.«

»Einen Kognak im Stehen«, bat Claude. »Ich hab kalt.«

»Himmel, ist das eine Jugend«, sagte Gisela.

»Nein, Mama, es ist nicht warm hier.«

Und Theodora hockte sich selbst vor den Ofen.

»Warum hilfst du ihr denn nicht?« fragte Claude. Aber Spießl ließ von Gisela in sein Glas, das zitterte, Kognak gießen. Claude trat hinter Theodoras schmale, fallende Schultern; er äußerte:

»Was Sie für spitze Finger haben, vorn umgebogen wie Widerhaken. Wer die einmal im Fleisch hätte –«

Sie sagte unter dem Rasseln der Kohlen:

»Sie sind wie an den Byzantinerinnen, die Papa immer in Kupfer stach.«

»Sie können mir von Ihres Vaters Stichen einen heraussuchen, worauf Ihre Hände sind. Ich kaufe ihn.«

»Gern«, sagte sie gleichgültig und stand auf.

»Ich denke, es ist alles da«, rief Gisela. »Ihr Buben, seid's zufrieden? Auch auf dem Alten seine Salzkartoffeln hab ich nicht vergessen.«

»Hier denkt man an alles«, sagte Claude.

»Nein«, stieß Spießl hervor und zog die Brauen zusammen. »Es ist zuwenig Fleisch da.«

»Was?« stammelte Gisela. »All der kalte Aufschnitt! Ja, zum Wärmen ist's zu spät.«

»Ich will Warmes!« entschied Spießl unerbittlich und starrte finster auf Theodoras Brust. Claude überwand eine Pein.

»Er ist so unanständig, wißt's. Er ist in Orgien groß geworden.«

Gisela lächelte gütig.

»Auch der Alte wird sich wundern, warum du so gar nicht festlich bist«, sagte sie zu ihrer Tochter.

»Was meinen Sie, Claude?« fragte Theodora. »Lohnt's noch die Mühe?«

»So etwas sieht man immer gern«, erwiderte Claude höflich.

Da ging sie gleitenden Schrittes aus der Tür.

Spießl biß sich die Lippe, senkte den Kopf. Plötzlich sah er Gisela frech ins Gesicht.

»Ich hab aber Sie gemeint.«

»Wie!« rief Claude. »Wozu starrst du denn da auf die Theodora.«

»Das versteh ich auch nicht«, versetzte Gisela.

Spießl vermochte es nicht zu deuten. Gisela streifte mit ihrer sanften Hand sein Kinn; er war rot und feucht.

»Bubi«, sagte sie und verließ gemächlich das Zimmer.

Spießl lief, den Hals eingezogen, wild von einem Winkel in den andern. Er antwortete nicht auf Claudes Frage, wie ihm die Damen gefielen. Claude sah ihm lange zu; schließlich äußerte er:

»Weißt du, woran du mich erinnerst?«

Spießl blieb stehen.

»Nun, du Depp?« fragte er, mit einem kräftigen Versuch, seine Überlegenheit zurückzuerobern.

»An unsere Matura.«

»Bei der bist schließlich du durchgefallen, mein Lieber, nicht ich.«

Aber Gisela trat ein, und Spießl verstummte. Er schob ihr einen Stuhl hin, machte sich voll finsteren Eifers um sie her zu schaffen. Sie sah zu ihm auf; in ihrem Corsage bewegten sich helle, freundliche Fleischmassen.

Theodora kam; sie hatte nur um den Magen ein wenig schwarze Gaze gewunden, worauf Spitzen gestickt waren. Ihre Arme raschelten von den Handgelenken bis zu den Ellenbogen in seidenen Falten. Oben waren sie frei zu allen gelenkigen Würfen, die den engen Schatten unter den Achseln blitzschnell auf- und zudeckten. Claude bemerkte, über ihren Nacken gebeugt:

»Sie hätten wirklich nicht nötig, sich da hinten zu pudern.«

»Weil Sie dumm sind«, erwiderte Theodora. »Da muß man sich pudern.«

Sie hob heftig die Schultern. Ihr Nacken stieß gegen Claudes Lippen, die ihn nicht gesucht hatten. Er schnappte nach Luft.

»Schauens, nun muß ich niesen! ... Man bekommt ja das Zeug in die Nase.«

»Essen Sie von dem Salat, der hat schon am Boden gelegen.«

»Wollen Sie denn keinen Tee?«

»Erst Sekt. Erst will ich meinen Rausch«, befahl Theodora.

»Ihr dürft Sekt und Tee durcheinander trinken, Kinder«, riet Gisela. »Wir sind doch en famille.«

»Das finde ich auch«, sagte Spießl verbissen und fuhr fort, sich zu betrinken. Schließlich sprach er. Er erklärte, die Damen psychologisch analysieren zu wollen. Theodora sei glatt und kalt wie eine Schlange; nein, das sei banal: wie eine tote Schlange.

»Erlauben Sie«, bat Gisela und ließ einen Löffel fallen.

»Aber die gnädige Frau«, so fuhr Spießl fort und sah weg, »die ist zehrend, ja aufzehrend; ein Weib, in deren Händen man den Mantel lassen sollte, um nicht selbst darin entzweizugehen!«

»Jesses«, machte Gisela.

Auch Claude ließ sich auf Allgemeinheiten ein. Er behauptete, man könne jedes Weib haben, aber jedes. Es handele sich nur darum, zur rechten Viertelstunde da zu sein. Das sei natürlich Glückssache; aber ihre Viertelstunde habe jede.

Gisela glaubte das nicht. Theodora sagte:

»Könnt schon sein. Aber so dumm darf einer nicht sein wie Sie.«

 

»Warum bin ich eigentlich dumm?« fragte er.

Ihr Arm stand vor ihm auf dem Tisch, schmal, rund, duftend. Er bog sich vorsichtig herum, um ihr in die Augen sehen zu können.

»Darum«, erklärte sie verächtlich.

Als Claude sich wieder umwandte, lag Spießl, ganz zusammengefallen, auf Giselas Brust. Gisela befragte Claude mit dem Blick. Er antwortete:

»Ich kaufe zwei von Herrn Gigereits Kupferstichen.«

»Der junge Mensch schläft mir da ja ein«, meinte Gisela mütterlich. »Wie spät ist's denn schon? Herrschaft, halb eins? Wo sich nur der Alte wieder umhertreibt. Wenn er noch kommt, sag ich ihm die Meinung ...«

»Kupferstiche?« lallte Spießl.

»Wollen Sie, daß ich sie Ihnen zeig? Gehens her.«

Gisela hob Spießl auf. Wie sie hinausgingen, sah man ihn zittern.

»Ah! Kupferstiche.«

Die Zähne schlugen ihm aufeinander.

Claude blieb bei Theodora sitzen, die Beine auf einem Stuhl.

»Magst mich heute nicht?« fragte sie schließlich.

»Kind, ich habe schon zwei Kupferstiche gekauft«, erwiderte er.

»Das meine ich nicht.«

»Das andere kann dir doch gleich sein.«

»Nein.«

»Wieso nein. Dann warte, bis Panier da ist.«

Er bedauerte, unhöflich zu sein; er setzte hinzu:

»Ich bin heute innerlich so sehr beschäftigt, weißt du.«

»Aber wir sollten uns kennenlernen«, sagte sie ruhig und mit Würde. Er stutzte.

»Wir – na, mir scheint, wir kennen uns.«

»Oh, das – das macht noch keine Bekanntschaft aus. Ihr überschätzt das ... Und dann verändert man sich. Kannst du dir nicht vorstellen, daß du eine schon sehr gut – kennst, was du ein Weib kennen nennst.«

»Die Bibel nennt es so.«

»Also die Bibel. Und eine Zeitlang später, so im Verkehr, wird dir's erst klar, daß sie dir sympathisch ist? ... Du bist mir nicht unsympathisch, weißt du.«

»Jaja.«

Sie beugte sich rasch über sein Gesicht.

»Woran denkst du eigentlich?«

»Ich?«

»Sage es – gleich!«

»Ich dachte an ein Renaissancekleid, weiß mit Gold, das sie als Porzia tragen soll.«

»Wer? Ach so ... Du, das kannst du mir glauben, das Mädchen ist furchtbar egoistisch.«

»Sind wir alle.«

»Aber nicht so.«

»Bah!«

Er stand auf, zündete eine Zigarette an und ließ die Kerze vor Theodora stehen. Aus ihrem voll beleuchteten Gesicht sahen ihre großen, schwarz umränderten Augen ihm nach.

»Also unsympathisch bist du mir nicht«, wiederholte sie.

»Du mir auch nicht«, sagte er gefällig.

»So meine ich es nicht«, sagte sie wegwerfend.

»Was also?«

Er dachte nach. Und es fiel ihm ein. Sie hielt ihn jetzt für schwer reich – und gleich, am selben Abend machte sie ihm eine Liebeserklärung. Das arme Mädel! Solch eine naive Berechnung mußte einem ja Mitleid einflößen. Er ging auf sie zu. Nein, das arme Mädel! Und er küßte sie wohlwollend auf den Mund.

Sie hielt die Augen halb geschlossen. Es klingelte.

»Nun kommt wahrhaftig der Alte«, sagte sie.

Sie holte ihn herein. Panier war übel gelaunt.

»Ihr seid mir nette Kerle«, so schalt er. »Amüsiert euch mit den Damen. Und wir müssen uns herumschlagen mit dem verfluchten Volk, dem Notar, dem Kassier und dem Eisenmann. Dem Kunden versalzen wir noch die Suppe ... Na, nu tu man bloß nich zipp, Mariechen!« schrie er, wüst rot, »und als ob de nich bis drei zählen könntest. Du sollst uns man 'n bischen aufheitern, dazu kommen wir doch her ... Na, es ist nicht so schlimm gemeint. Wie geht's denn.«

»Gotts«, sagte er dann, und beroch seine zwei Finger. »Die ist aufgeregt. Dafür haben wir 'ne Witterung. Brauchen 'nem Weib bloß mit 'n Finger über den Busen zu streichen ... Na, siste woll mein Junge. Das kriegst du den ganzen Abend nicht fertig, aber wir machen bloß die Tür auf, und sie fällt schon um. Is jut, Kind. Immer's Panier hoch!«

Und, ziemlich aufgeheitert, zog er Theodora aus dem Zimmer. Sie sah Claude nicht mehr an.

Kurz darauf zeigte sich Gisela, gutmütig und spöttisch.

»Claude, du bist so allein. Ich hab dir Kaffee gemacht. Aus dem Hause findest du ja ohne uns.«

Claude trank und rauchte. Eine Weile später ging nochmals die Tür auf, und Panier kehrte zurück. Der Greis war nackt, und seine Lenden gürtete ein Handtuch. Er bewegte sich frei und selbstbewußt wie in einer Badeanstalt.

»Na, nu geht's ja wieder«, äußerte er und seufzte auf. »Du, das hab ich vergessen, dir zu sagen: du bist Universalerbe.«

»Wie?« fragte Claude und erhob sich.

»Ja, es ist ein ernster Moment für dich, mein Jung'. Und ich bin nach der Verfügung meines seligen Freundes dein Vormund ... Na, ein Jahr dauert deine Minderjährigkeit ja noch. Da will ich auch alles tun, was ich kann, schon wegen des Andenkens an meinen Freund.«

Der Vormund kam näher. Seine Füße waren aufgequollen in ihrer Haut, die zu platzen drohte. Der Körper war weich, fett, ohne Runzeln, ganz weiß. Claude stellte fest, daß dies nach dem Sinn der Frauen sei. Der bebrillte, wild gefärbte Kopf des Alten wankte gerührt. Der Vormund faßte Claudes Hand und verhieß:

»Sollst es gut haben, Jung'.«