Die Jagd nach Liebe

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Ende wehrte ab; er dachte an Wichtigeres.



»Wem soll ich am Donnerstag ihre Rolle geben? Wie rücksichtlos ist das Mädchen, sie stört uns alle.«



»Vor allem werden Sie selbst, Herr Ende, dadurch geschädigt, daß Sie sich nun in den Salons nicht mehr Ihrer Tochter bedienen können. Das sieht auch Ute ein. Ich komme eben, um die Vergütung des Schadens mit Ihnen zu besprechen.«



Der junge Ende stand auf, erhaben vor Schmerz.



»Sie erschüttern mich! Sie glauben, mir mein Kind abkaufen zu können ...«



Er drehte den Kopf auf dem Rande seines hohen Halskragens angstvoll hin und her, glättete mit einer Handbewegung ein empörtes Meer und setzte sich wieder.



»Ich will Ihnen nicht zürnen. Ich würde durch meine Unversöhnlichkeit Ihrer Menschenfeindlichkeit recht geben. Sie sollen an Güte glauben. Oh, diese jungen Leute, die sich aus Stolz vornehmen, die Welt recht schwarz zu finden, wohin gelangen sie! Sie sollen es nicht mehr für möglich halten, Herr Marehn, daß ein Vater sich seine Tochter bezahlen läßt – und dadurch sollen Sie selber glücklicher werden.«



»Sehr angenehm«, sagte Claude.



»Sie lieben Ute als Jugendfreund. Sie haben das redlichste, trauteste und reinste Verhältnis zu ihr ... Warum sehen Sie mich so kalt und zornig an ... Meinen Sie aber nicht, daß andere das Mädchen anders lieben und daß ich schon oft Gelegenheit gehabt hätte, mir eine abscheuliche Hilfeleistung bezahlen zu lassen. Oh, ich vergesse solche Vorkommnisse. So etwas muß man rasch vergessen. Ich zweifle am Ende sogar, ob es wirklich geschehen ist. Der Mensch kann nicht schlecht sein, lieber Herr Marehn. Denn wenn ich selbst ernstlich in mir nachfrage: ich finde mich ganz unfähig  zu der Schurkerei, die Sie heute bei mir vorausgesetzt haben.«



Er sah klar und frei in Claudes Augen, die sich halb schlossen. Claude dachte: ›Dazu sind Sie allerdings zu minderwertig. Hätten Sie mir nach dem ersten Wort einen Preis gestellt, Sie würden mir Achtung eingeflößt haben. Zu wissen, daß man ein Schurke ist, und sich gut zu heißen, das hat etwas für sich. Sie wissen nichts. Sie tun alles, damit Ihre Tochter einmal das Brot eines Liebhabers essen muß und daß Sie mitessen können; aber Sie werden, auch wenn's soweit ist, nie erfahren, daß

Sie

 das waren. Ihre Tochter verkaufen – niemals. Sie verkaufen nur gefälschte Venezianerinnen: zu höheren Schurkereien versteigen Sie sich nicht.‹



»Sie laden sich eine schwere Verantwortung auf, Herr Marehn«, sagte Ende sanft und eindringlich.



»Ich?«



»Denken Sie gar nicht daran, daß ohne Ihr Geld Ute zu dem allem außerstande wäre?«



Merkwürdig, nein, daran hatte Claude nie gedacht. Der Wille in dem allem war doch Ute.



»Diese jungen Leute halten ihre Freiheit für grenzenlos, sie meinen, niemand achtet auf sie. Neulich hat die Frau Gräfin Stockwenzel von Ihnen gesprochen.«



»Von mir?«



»Das wundert Sie. Die Frau Gräfin hat doch mit Ihrem Papa geschäftlich zu tun. Sie sind ihr nicht unbekannt. Da können Sie denken, was die Gerüchte, die über Sie und Ute umgehen, auf Ihre Exzellenz für einen Eindruck machen.«



»Daß ich mit ihr ein Verhältnis habe? Die Menschen sind zu gut, so etwas glauben sie nicht.«



»Mein Lieber, Sie schädigen Ute«, sagte der Vater leise und feierlich.



»Es ist ihr gleich, Herr Ende. Ich habe mich nicht mit ihr zeigen wollen. Aber sie zeigt sich mit mir.«



»Das Mädchen sucht etwas darin, es ist schrecklich. Aber  Sie selbst, lieber Herr Marehn, auch Sie haben einen Ruf zu verlieren. Sie sollten die gute Gesellschaft nicht herausfordern, indem Sie ihr ein junges Mädchen abspenstig machen, das sie so gütig war aufzunehmen. Früher oder später werden Sie die gute Gesellschaft nötig haben. Dann wird man Sie auch fühlen lassen, daß Frau Gisela Gigereit – um nur diese zu nennen – zwar jedermann bekannt ist, daß man ihr aber im Theater kein Bier kauft. Ich habe Ihnen keinen Rat zu geben ...«



»Allerdings nein«, sagte Claude bestimmt.



Der junge Ende schien, verzweifelnd, irgend etwas über die Achsel zu werfen.



»Und schließlich – ich bin ein Mensch – Sie tun auch mir sehr unrecht. Wird die Gräfin Stockwenzel, nachdem meine Tochter sich von Ihnen eine Wohnung hat einrichten lassen, mich, den Vater, noch nach Venedig mitnehmen?



Sehen Sie!«



Claude beschloß heftig zu werden.



»Wollen Sie mich nun zu Wort kommen lassen! Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich Ihnen Geldverluste beibringe und einfach meiner Wege gehe. Ich habe niemals die Absicht gehabt, Ihnen Ihre Tochter abzukaufen, Sie sind übertrieben kitzlig. Ich will Ihnen einfach ersetzen, was meine Handlungsweise Sie kostet ... Lassen Sie mich ausreden! Wieviel ich Ihnen geben kann, weiß ich heute noch nicht. Mein Vater ist erst seit drei Stunden tot ...«



»Was denn? Was sagen Sie? Aber Herr Claude! Mein armer, lieber Claude! Und die ganze Zeit haben Sie den Hut vor Ihren Krepp gehalten. Soll ich denn Ihren Schmerz nicht teilen?«



Claudes Gesicht sagte: ›Nein, lieber nicht.‹



»Solch enges, rührendes Verhältnis, wie es Sie mit Ihrem Vater verband! Und nun auf einmal alles – Sie sehen mich wahrhaft ergriffen!«



Claude sah es, ohne daß er zweifeln konnte.



 »Oh, es ist furchtbar, solch einen Menschen zu verlieren, wie man ihn nur einmal verliert. Aber ein Trost ist es doch, daß uns das nur einmal zustoßen kann! Mein lieber, lieber Herr Claude. Nur immer das Gute im Leben suchen! Es ist immer da.«



›Wie der Knochen zuunterst im Straßenkehricht. Ein unentwegter Hund findet ihn‹, dachte Claude. Er machte sich los von des jungen Ende warmer Hand, zog seine Brieftasche und legte den Tausendmarkschein hin. Ende sah ihn gar nicht.



»Welch schwere Zeit, bei Ihrer Jugend.«



›Allerdings‹, meinte Claude für sich. ›Ich hätte ja Utes Wohnung davon zahlen sollen. Aber komm ich denn anders fort von Ihnen?‹



»Später mehr«, erklärte er mit zusammengezogenen Brauen.



»Und wie wird Ihre Frau Mutter das tragen!«



Claude ging rasch und steif hinaus, die Schulterblätter zurückgedrängt. Im Korridor mußte er über Frau Endes Füße wegsteigen; sie lag und scheuerte. Es roch in der Wohnung arm und nach Scheuerlappen. Er öffnete eine Tür: das Zimmer war mit gelbem Kretonne ausgeschlagen und duftete gut; nur daß die Fenster schon zu lange geschlossen waren. Am Bett und über Stuhllehnen hingen ein halbes Dutzend Röcke, Unterröcke und Blusen. Auf der Kommode lag Wäsche, darüber zwei Leihbibliotheksbände und ganz oben ein halbes Butterbrot. Lanolintöpfe waren überall verteilt. Am Boden trieb sich ein rosaseidenes Kissen umher, neben einem Irrigator und drei alten Handschuhen. Dazwischen, über die Schulter dem Spiegel zugewendet, stand Ute, in einem halblangen Paletot, einem dunkeln, wundervoll fallenden. Sie war neu frisiert und trug einen Riesenhut wie Bella. Sie erblickte Claude im Spiegel und fragte:



»Nun, was hab ich gekostet?«





II.

 Das Loch im Frack



Sie gingen die Leopoldstraße zu Ende. Claude stellte fest, daß er mit dem Zylinder doch noch etwas höher sei als Utes Haar. Man starrte sie an. Er dachte daran, daß man sie für seine Geliebte hielt, und schämte sich seiner Genugtuung. Er sagte plötzlich:



»Der junge Ende hat auch verraten, daß man zwischen dir und mir was vermutet. Ich habe geantwortet, du machst dir nichts daraus.«



»Ganz recht.«



»Es ist mir doch unlieb, daß ich dich kompromittieren muß. Ich habe dich dafür zu lieb. So viel ist sicher, daß deine eigene Wohnung die Sache bedeutend verschlimmern wird.«



»Was heißt verschlimmern. Es gehört zu meinem Beruf als Schauspielerin, daß man mir ewig Verhältnisse zutrauen wird – bis in mein hohes Alter. Ob ich sie habe oder nicht – glauben tut man's doch. Mir genügt's, daß ich keine habe.«



»Du bist stark, ich bewundere dich, daß du dich über alles hinwegsetzen kannst. Aber ist es so wünschenswert, es tun zu

müssen



Er verwirrte sich.



»Ich will ja nichts sagen, du bist berufen; du gehörst der Kunst. Ich habe keinen Anspruch auf dich, wie könntest du meine Frau sein. Ich komme mir so klein vor, wenn ich dich spielen sehe!«



»Armer Claude«, sagte sie etwas künstlich, viel zu stark mit sich selbst beschäftigt, um ihn deutlich zu hören, wenn er von sich sprach.



»Du bist verliebt. Das gibt sich.«



Claude murmelte starr, mit einem tiefen Zittern:



»Nie.«



Ute hielt sich dabei nicht auf.



 »Mich über alles hinwegsetzen zu müssen, was das Volk glaubt und versteht, das ist ja mein Stolz. Allein zu sein: im Leben und auf der Bühne, immer einem weihelosen und gebannten Theatersaal gegenüber, immer allein als geschulte, bewußte Persönlichkeit vor einem dumpfen Haufen, immer durch kundige Mittel schön, geschickt, beredt und allen überlegen zu sein, die klatschen.«



»Und niemals bei einem einzigen fühlen, was alles du ihm bist – daß du ihm

alles

 bist. Und ihn lieben, meinetwegen bloß, weil du ihm alles bist. Das niemals?«



»Dazu fühle ich mich nicht veranlagt.«



»Ich nur dafür – dich zu lieben.«



»Sei nicht so schwach.«



»Könntest du nicht doch – oh, nicht mich heiraten, davon spreche ich nicht mehr, ich lasse dich der Kunst. Aber dich von mir lieben lassen, mir erlauben – du weißt, ich habe immer nur dich geliebt ...«



»Immer nur! Du bist zwanzig. Weißt du denn, was noch kommt.«



»Nichts. Ich werde immer nur dich lieben. Glaub es, glaub es. Und das wird in meinem Leben das einzige sein, was zählt. Das einzige, wofür ich da bin.«

 



Er äußerte seine Leidenschaft vollkommen höflich und sah dabei den Vorübergehenden ins Gesicht. Ute empfand, daß mit diesem Ton auf der Bühne nichts zu machen gewesen wäre. Sie sagte:



»Hör auf. Du langweilst mich.«



»Ich wollte dich noch einmal bitten, ob du mich nicht lieben willst. Zu Hause fehlt mir schon der Mut, ich bitte dich auf der Straße ...«



Da sie nicht antwortete, fügte er hinzu:



»Wie ein Bettler um ein Geldstück.«



Das gefiel ihr; sie sagte ein wenig wärmer:



»Ich hab dich ja gerne, was willst du mehr.«



Sie betrachtete ihn von der Seite, mit gleichgültigem Wohlwollen.  ›Gott sei Dank hat er fast keinen Bart, ist von sanften Sitten, und ich kann mit ihm machen, was ich will.‹



»Oh, was ich mehr will«, sagte er.



»Du stehst mir doch immer am nächsten.«



»Aber so fern.«



»Genug, bitte, du willst hoffentlich nicht für die Wohnung deinen Lohn haben.«



»O Ute!«



Claude war heftig erschrocken. Er atmete mehrmals stark, bezwang sich.



»Das war mal häßlich.«



»Ach, verzeih«, sagte sie, »ich bin nervös.«



Bis zum Odeonsplatz sprachen sie nicht. Dort lachte Ute vor sich hin.



»Weißt du, von wem du noch am meisten zu fürchten hast? Von Archibald. Der könnte mir gefährlich werden.«



»Du machst Witze?«



»Gar nicht. Ihr seid mir alle zu korrekt ... Oh, Archibald kann das auch sein, sobald er will. Bitte: Geheimer Hofrat Professor von Archibald, Ehrenmitglied der Königlichen Hofbühne, Direktor der K. B. Akademie für dramatische Kunst, Ritter hoher Orden, Günstling und Freund des Regenten – wer bringt's denn überhaupt so weit. Und wenn man zusieht, was steckt drin? Ein alter Mime ... Er sollte noch mehr abgetakelt sein. Ein sehr alter Mime, von Schminke und Schreien ganz rauh und heiser geworden, das wäre, glaube ich, meine Schwäche.«



Claude biß die Zähne aufeinander.



»Ich kann doch nicht eifersüchtig sein auf Archibald; mir scheint, das würde uns beide erniedrigen, mich und dich.«



»Warum?«



»Stell dir eine tief empfindende Frau vor, die bemerken muß, daß sie die Mitbewerberin einer Dirne ist ... Übrigens spielst du bloß mit einer Verderbtheit, von der du nichts fühlst.«



 »Wer weiß ... Was mich so reizt, das ist, wenn der alte Mime aus einem Loch im Staatsfrack des Geheimrats herausgrinst.«



»Wieso. Was meinst du.«



»Pst. Nachher«, machte Ute.



Sie waren angelangt. Der Diener in bayrisch Blau führte sie die breite Treppe hinauf.



»Der Herr Geheimrat sind in seiner Privatwohnung und erwarten das gnädige Fräulein.«



Claude nahm ihr den Paletot ab. Sie waren kaum im Arbeitszimmer des Direktors, eine wilde Wirrnis auf seinem Schreibtisch spielte ihnen Nächte voll genialen Fiebers vor, da krachte das Parkett unter leichten, sieghaften Schritten.



Archibald kam auf Schnallenschuhen, sah niemand an, dachte an nichts als an seine Wirkung, lehnte sich gegen den Schreibtisch, kreuzte die Beine in ihren seidenen Strümpfen, die Arme über der Brust voll gestickter Palmen neben sonnenähnlichen Ordenssternen, und zog den Hals ein. Der Kopf, von dem gefärbten Rest eines schwarzen Schopfes spitz beleckt, saß dick auf der rundlichen Gestalt, mit dem kühnen Magen. Archibald ließ einen fettigen Glanz von Marmor seine aufgeblasenen Wangen bestreichen und über seinen edlen Nasenrücken spiegeln und befahl seinen Augen zu blitzen. Sein Mund, blau vom Messer und gewulstet, bebte, bevor er sprach, wie ein Rennpferd, ehe man es losläßt. Er sagte mit sehr hoher, metallischer Stimme, ebenso leicht und sieghaft wie sein Schritt:



»Kind, es ist keine Haarnadel.«



»So werde die Haarnadel zum Dolche!« schrie Ute und wälzte sich.



Aber Archibald machte eine jähe Bewegung gegen Claude; er bemerkte ihn. Und er kam geneigten, zärtlichen Hauptes auf den jungen Mann zu, der dunkel vor einem dunkeln Teppich stand.



»Süßester Freund, wär's möglich, Sie – Sie erblickt ich?  Sie, den ein Schicksal eben erst traf, ein unnennbares? Soll ich es denn glauben, was die Leute sagen: Ihr Vater – – aber nein, nein –«



Archibald, den Oberkörper abgewandt, streckte die gespreizte Hand aus.



»Ich will's nicht glauben! Süßester Freund, es wäre zu schwer, ich trüge es nicht. Weiß der Himmel, ich überlebte es nicht!«



Er verschwand rasch hinter einem Vorhang und kam sogleich, weiß im Gesicht, wieder zurück. Die Hände ganz oben in der Luft gerungen, rief er:



»Ich überlebe es nicht!«



Geschüttelt von Schluchzen, den klagenden Blick an der Decke, wankte er zweimal durch das Zimmer. Schließlich nahm er Claudes Hand; sich fassend, noch mit etwas Feuchtigkeit in der Stimme, begann er seinen Monolog.



»Ich denke an diesen Mann. Er war einer von denen, die niemand vergißt, der sie gekannt hat. Warum? Weil sie stark sind und von ihrer Rolle überzeugt wie ein großer Schauspieler. So war Ihr Vater, Herr Marehn. Ich hatte mit ihm zu tun, als wir dieses Haus bauten. Dieses Haus, das der Stolz meines Lebens ist, diese Pflanzstätte hehrer Kunst, die der Nachwelt zu schenken mir beschieden war, ich habe sie immerhin mit seiner Hilfe errichtet.«



Claude bewunderte das »immerhin«.



»Hat er mir zu schaffen gemacht, dieser Mann!«



Archibald ließ Claudes Hand los, er machte, die Stirn gesenkt, die Hände auf dem Rücken, zwei nachdenkliche Schritte.



Claude wußte Bescheid; bei dem Geschäft mit Archibald war sein Vater der Hereingefallene gewesen. Ihm hatte das Grundstück gehört. Er hatte es unternommen, das Konservatorium für dramatische Kunst darauf zu errichten, eine private Anstalt, die Archibald pachten wollte. Das Baukapital hatte Marehn aufnehmen müssen. Es hatte nicht ausgereicht; und Archibald, der hinter dem Gläubiger versteckt gewesen  war, hatte den fertigen Bau eingesteigert, um ihn mit gutem Nutzen dem Staat zu verkaufen. Darauf war er Direktor des königlichen Instituts und Geheimrat geworden.



»Soll ich Ihnen sagen«, fragte Archibald, »mit wem ich ihn verglich, diesen stillen, bleichen und mächtigen Mann in der Dämmerung seines Kabinetts? Diesen denkenden Punkt, der, immer unbeweglich, Geschäfte von unerhörter Weite ausstrahlte und beherrschte? Der nie die Sonne breit auf einer Straße liegen sah, und in dessen Namen weite Ländereien sich mit Wohnungen bedeckten, Prachtbauten erstanden, und Städte, bis in entlegene Winkel Europas, ihr Bild veränderten? Ich verglich ihn mit König Philipp!« erklärte Archibald und beschrieb eine Gebärde, langsam und stählern.



»Sie übertreiben«, sagte Claude, aber ohne Anspruch auf Beachtung.



»König Philipp im Eskorial, während seiner letzten Lebensjahre, als er im Dunkel einer Gruftkapelle, angesichts seines Sarges, und vor den leeren Blicken eines Schädels, die Geschicke der Welt lenkte. Sage ich zuviel? Konnte nicht auch Ihr Vater, in dem totenhaften Schweigen seiner Zelle, ›am Abend jedes Tages berechnen, wie die Herzen seiner Völker in seinen fernsten Himmelsstrichen schlugen‹? Hieß nicht auch er, was unsere Finanzleute angeht, ›der reichste Mann in der getauften Welt‹? ... Er war nicht nur ein reicher Mann: er war ein Mann – nehmt alles nur in allem.«



Und Archibald drückte nochmals die Hand des Sohnes. Er schlüpfte hinter einen Vorhang, kehrte abgeschminkt wieder. Dann sagte er leichter, mit einer Stimme, in der die umwickelten Paukenschläge eines Trauermarsches nur schwach noch rollten:



»Es ist gut, daß Sie da sind, wir brauchen Sie. Haben Sie ein Auge auf Ihre schöne Freundin! Wir sind jetzt soweit, seit gestern schaut was heraus.«



›Seit gestern?‹ wollte Claude fragen, aber Archibald hatte ihn mit einem Händedruck auf das Sofa gesetzt und stand bei  Ute. Sie hatte die Leistung ihres Meisters mit großen Augen lebhaft nachgefühlt. Ob Archibald sein Beileid aussprach oder einen Witz riß, er war immer im Theater, und Ute arbeitete mit ihm.



»Mein Fräulein, ich gehöre Ihnen!« rief er, ausbrechend in laute Fanfaren. »Lassen Sie sich nicht einschüchtern durch mein Kleid. Mein königlicher Herr hat mich zu seinem Fest befohlen. Und keine Minute Ihrer Stunde, mein Fräulein, habe ich an meine Toilette verlieren wollen. Ich bin der redlichste Mann, wie, Herr Marehn? Auch Ihr Vater wußte das. Ich stehle Ihnen keine Ihrer kostbaren Minuten.«



›Das Stück kostet dreiundachtzigeindrittel Pfennig‹, berechnete Claude, während Ute spielte.



Archibald nickte, gab eine metallene Replik, blitzte zu Claude hinüber. Ihm lag am Beifall dieses Knaben, ihm, der keinem Menschen mehr den Hof machte, wenn er nicht königlicher Prinz oder Redakteur war. Er hatte so viel Macht erspielt, daß er keinen Mächtigen mehr achtete: alle waren schlechtere Komödianten als er. Kein Staatsmann hatte seinen Schritt, kein Reicher seine Faust, kein Feldherr sein Auge. Sie waren seelenlos und ohne Formen in ihre Funktionen hineingestiegen. Archibald atmete und prangte in der seinigen. Und ein Befremden überraschte ihn nur noch vor diesem strengen Träumer, dessen Schüchternheit ihn wie Drohung anmutete, der schlicht und steif aus seinem gemieteten Coupé stieg vor der Tür zu einer Arbeiterversammlung, der ohne Raschheiten und Eitelkeiten an der Seite sehr schöner Frauen ging, eine junge Schauspielerin beschützte, auf seinem zwanzigjährigen Kopf den Zylinder lüftete und im Spekulanten-Königreich seines Vaters die Erbfolge antrat. Überall, wo sie sich nebeneinander zeigten, würde Archibald der Vorzug werden: dessen war er gewiß. Und doch witterte er, dieser stille Kleine habe eine Rolle, so schön wie seine glänzendste.



Er mußte Ute auffangen, die hauchte:



»Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand.«



 »Glauben Sie's, Herr Marehn? Ihre Freundin hat

doch

 Temperament!«



»Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte Claude.



»Aber ich!«



Archibald schmetterte durch die Nase. Seine Brauen bogen sich hoch, herausfordernd. Claude verstummte; Ute drängte:



»Also was nun, Herr Geheimrat.«



»Geduld, mein Fräulein! Was habe ich Ihnen gesagt, Herr Marehn: ich werde vielleicht das Talent Ihrer Freundin wecken – vielleicht! Sie ahnte es erst in sich. Es war noch nichts zu spüren, ich stand noch für nichts ein, ich war noch für nichts gut. Jetzt

habe

 ich's gemerkt, das Talent dieser Künstlerin. Von heute ab, mein Fräulein, sind Sie Künstlerin!«



Er ging hinter den Schreibtisch zu den Kränzen, pflückte, auf den Fußspitzen, ein Lorbeerblatt und brachte es Ute. Dann setzte er wieder ein, eine Skala höher als der vorige Schlußton.



»Oh! mein Herr! wenn Sie wüßten, wenn Sie beurteilen könnten, mit welcher Liebe, mit welcher Kennerschaft solch ein Talent freigemacht, zum Bewußtsein seiner selbst gebracht werden will!«



»Ich kann mir's denken«, erklärte Claude.



»Was der sich denken kann«, murmelte Archibald und grinste Ute an. Claude sah nur seinen feierlichen Rücken.



»Wenn er sich denken könnte, was wir gestern für 'ne diebische kleine Szene zusammen gespielt haben – auf dem Sofa, wo er sitzt.«



»Jaja«, machte Ute, jäh angewidert.



»Sie haben die feine Rolle gehabt, haben mich hineingelegt, kleiner Schäker. Aber passen Sie auf, wir begegnen uns doch noch mal im Dunkeln.«



Sie sah ihn vertauscht, den Geheimrat abgesetzt, den Professor vom Katheder gefallen. Der kunstvoll hergerichtete, auf Amtlichkeit und Einschüchterung gearbeitete Kopf war vom Hals heruntergeklappt wie eine Maske aus Pappe. Und  der wirkliche Archibald, der durch Stellungen, Titel, Ehrerweisungen ewig unberührbare Duzfreund jedes umherstreichenden Artisten, streckte seine geduckte Fratze aus einem Loch im starren Frack des andern. Ute erschrak auch diesmal, so gut sie ihn schon kannte, den tieferen Archibald. Dann überlegte sie, daß diese Harmonika gelber abgeschminkter Falten, im Schatten einer Kulisse zu einem gemeinen Witze feixend, am Ende noch Exzellenz heißen werde. Und Stolz packte sie. ›Das ist die Kunst. Und ich werde es gerade soweit bringen – durch die Kunst, nur durch die Kunst. Man soll sehen, was die für eine Macht ist!‹



Archibald, zurückverwandelt, verlangte:



»Nun, mein Fräulein, die Szene im Ganzen.«



Ute spielte, hingerissen von Ehrgeiz und von Siegesgewißheit. Archibald unterstützte sie anfangs nur. Allmählich vergaß er sie, begann selber zu wachsen, griff aus, sang, läutete Glocken, gab sich ganz – wie er's nur einmal jährlich, zur Fremdenzeit, tat.

 



Beim Abschied sagte er:



»Erlauben Sie, daß ich

dieser

 Schülerin selbst den Hals einwickele? ... Ich danke Ihnen.«



Mit Bühnengeflüster, dreißig Meter weit hörbar, sagte er zu Claude:



»Ich warne Sie, mein Lieber, ich warne Sie.«



»Kein Grund«, meinte Claude kühl.



»Doch!«



Archibald rollte einen fürchterlichen Blick nach Ute hin.



»Ich bin auch nur ein Mensch!«



Er drehte sich jäh um und ging fort. Der Diener riß vor ihm eine Tür auf.



Draußen hielt Claudes Wagen.



»Diesen Monat hast du ihn also wieder?« fragte Ute, wie sie abfuhren.



»Dummerweise«, sagte er, die Stirn in Falten.



»Du wirst schon wieder Geld kriegen. Ich verlaß mich ganz  auf dich, weißt. Du bist mir als Freund ganz genug, Archibald hat nicht die geringste Aussicht.«



»So.«



»Du bist eifersüchtig, weil ich mich für den alten Mimen begeistert habe?«



»Mir scheint, er prahlt mit dir. Oder wenigstens droht er mir?«



Sie verzog den Mund.



»Hast du nicht gemerkt, daß er mir heimlich was sagte? Er drehte dir den Rücken, inzwischen konnte ich wieder das Loch in seinem Frack sehen.«



»Versteh ich nicht.«



»Ach was, ich werde doch mit dem da kein Geheimnis vor dir haben. Wozu denn. Wenn ich's noch nötig hätte, dich eifersüchtig zu machen, armer Kerl. Zu meinem Vergnügen tue ich's aber nicht. Also er ist gestern bei mir abgefallen.«



»Gestern? Er hat dir einen Antrag gestellt?«



»Antrag sieht dir ähnlich. Er hat mich haben wollen.«



Claude fuhr auf.



»Und bei dem waren wir eben? Dem hab ich die Hand gegeben?«



»War sie nicht gewaschen? ... Daß er seine Schülerinnen fast alle verführt, wußten wir vorher, wie? Darum ist er doch immer der Meister. Was du eben wohl wolltest.«



Claude war beschämt.



»Ach ja: das alte Zeremoniell in unserm Blut, bei uns Männern. Geschlechtsmoral. Ritterlichkeit. Glauben, wenn wir überrascht werden, immer noch, wir müßten vom Leder ziehen, ihr könntet nicht allein fertig werden.«



»Ich hab mich wundervoll herausgespielt. Archibald ist himmlisch. Die Verführungsszene, das war die beste Stunde, die er mir überhaupt gegeben hat. Ich habe riesig dabei gelernt.«



»Jaja. Aber wie kamst du gestern zu ihm. Es war ja nicht der Tag.«



 »Hör zu. Vorgestern abend – ich spiele gerade, ich spiele so, wie ich bloß für Nathanael spiele, und wie ich erst wieder spielen werde, wenn ich das Apokalyptische Tier, das Publikum, im Dunkeln schnaufen fühle – da kommt Mama hinauf zu mir, mit einem Brief von Archibald an sie. Unglaublich, aber wahr, an sie. Es stand drin, er habe nach ernstlicher Prüfung doch zu wenig Temperament bei mir gefunden. Um dich und mich nicht zu schädigen, als ehrlicher Mann müsse er meine Mutter wissen lassen, daß er nicht mehr hoffe, eine gute Schauspielerin aus mir machen zu können.



»Ich hab mich furchtbar zusammengenommen, hab Mama heilig schwören lassen, daß sie dem jungen Ende nichts sagen würde, und hab sie hinausgeschoben; sie benahm sich schrecklich blöde. Dann bin ich aber in Tränen ausgebrochen, kann ich dir sagen. Und die Nacht war ich nicht im Bett. Über zwei Stühlen hab ich gelegen und geheult, geheult. Und was ich dem Nathanael alles gesagt habe, das ahnt keiner.«



Sie sah ihm plötzlich voll in die Augen.



»Wenn es nicht doch noch gut gegangen wäre, weißt du, dann säße ich nicht hier. Dann hätte ich das Schloß geschlossen am gutgeheizten Ofen und wäre eingeschlafen.«



Er wollte rufen: ›Ohne mir ein Wort zu sagen, ohne alles!‹ Aber er blieb reglos in seinem Winkel und hörte zu.



»Gestern früh geh ich also zu ihm. Er war in seinem Amtszimmer, es warteten eine Menge Leute, aber er kam gleich herüber. Er sagt mir ganz bieder, viel Temperament habe ich wirklich nicht, aber er könne was aus mir machen, sogar wenn ich gar keins hätte. Soviel traue er seinem Einfluß zu. Ich müsse ihn bloß belohnen. Und dann wurde er wie ein alter Clown. Ich frage bloß: ›Und wenn ich's

nicht

 tue?‹ Er zuckt die Achseln. ›Das würde meine Ansicht bestätigen, daß Ihr Temperament nicht zureicht.‹ Dann fängt er wieder an.«



Claude ward von