Vernehmungen

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4.5.5.1Vorbereitung

434Bei der Vorbereitung sollte Folgendes berücksichtigt werden:

–Aus- und Fortbildungsangebote nutzen.

–Prozessbeobachtungen wahrnehmen.

–Verhinderungen am Terminstag (Urlaub, Krankheit …) frühzeitig dem Gericht mitteilen und deren Gründe belegen (Buchungsbestätigung, Attest …).

–Durch eine großzügige Zeitplanung für den Terminstag unnötigen Zeitdruck und Stress vermeiden.

–In begründeten Einzelfällen mit dem Vorsitzenden eine Telefonbereitschaft vereinbaren („ich kann binnen … Minuten im Gerichtssaal erscheinen und bin unter der Tel.-Nr. … erreichbar“).

–Überprüfung des Umfangs der Aussagegenehmigung (und ggf. die Bitte an den Dienstvorgesetzten, diese zu beschränken).

–Existiert eine beschränkte Aussagegenehmigung, sollten deren Grenzen im Hinblick auf den konkreten Einzelfall mit dem Dienstvorgesetzten abgeklärt werden.

–In extremen Ausnahmefällen die Möglichkeit, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen, mit in die Überlegung einbeziehen.

–Konkrete Vorbereitung als „Muss“.

–Versuch, ein konkretes Erinnerungsbild aufleben zu lassen; Hilfestellungen leisten die Lektüre der Akten, Gespräche mit den Kollegen und ggf. auch eine Ortsbesichtigung.

–Einschränkungen des Prozessstoffes etwa durch die Abschlussverfügung und Anklage der Staatsanwaltschaft berücksichtigen.

–Kritisch die Ermittlungen nach eigenen Fehlern durchleuchten, um sich so auf entsprechende Fragestellungen vorbereiten zu können.

–Ggf. schriftliche Unterlagen (auch eigene Notizen, die später in einen Einsatzbericht eingeflossen sind) sichten und bereitlegen.

–Mit der ungewohnten Rolle als Zeuge (nicht Vernehmer) identifizieren.

–Sich klarmachen, dass Ziel einer Hauptverhandlung nicht die Verurteilung des angeblichen Täters, sondern ein rechtsstaatliches Verfahren ist, bei dem ein Freispruch keine Niederlage darstellt.

–Sich gedanklich auf einen geschlossenen Bericht, der zu Beginn der Vernehmung erfolgt, vorbereiten.

–Auf das persönliche Outfit achten.

4.5.5.2Verhalten im Gerichtsgebäude

435Bezüglich des Verhaltens im Gerichtsgebäude gilt:

–Unmittelbar vor dem Gerichtssaal und in den Verhandlungspausen Kontaktaufnahmen zu anderen Verfahrensbeteiligten (auch mit dem Staatsanwalt über die Sache) vermeiden.

–Keine Äußerungen zum Verfahrensgegenstand und zum gewünschten Ergebnis.

–Wahrgenommene Kontaktaufnahmen (Absprachen?) anderer Zeugen dem Gericht mitteilen.

4.5.5.3Vernehmung

436Während der eigentlichen Vernehmung ist zu beachten:

–Bei der Wahrheit bleiben (auch bezüglich der Vorbereitung).

–Sich selbst nicht überfordern, da niemand jedes Detail erinnern kann.

–Sich nicht überschwänglich in Sicherheit wiegen.

–Ruhig, sachlich und neutral bleiben.

–Contenance und Höflichkeit bewahren.

–Keine Konfrontationsstellung einnehmen.

–Streitgespräche vermeiden, sich aber auch nicht unterbrechen lassen.

–Stress und intellektuelle Leistungsfähigkeit stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Daher muss der Beamte versuchen, Stresssituationen in der Hauptverhandlung zu vermeiden bzw. diese ggf. abbauen (Atem- und Ablenkungstechniken).

–Klar ansprechen, was konkretes Erinnerungsbild und daher exakt wiedergebbar ist.

–Gedächtnislücken offenlegen (und nicht etwa zu verschließen suchen).

–Ggf. Weichmacher einbauen („soweit ich mich erinnern kann“).

–Tatsachenfeststellungen und Schlussfolgerungen sprachlich exakt trennen.

–Keine rechtlichen Wertungen vornehmen.

–Werturteile vermeiden und – sofern dies nicht möglich ist – sie tatsachengestützt begründen.

–Die Grenzen der Aussagegenehmigung im Hinterkopf haben.

–Suggestivsituationen erkennen und vermeiden.

–Fragen (des Staatsanwalts und des Verteidigers) in Blickrichtung auf das Gericht beantworten.

–Vorsicht bei rollenfremden Fragen.

–Keine Gegenfragen stellen.

–Bei der Häufung von Fragen und/oder einer nicht verstandenen Fragestellung den Vorsitzenden um Erläuterung bitten.

–Keine provokativen Fragen beantworten, sondern Schweigen (oder den Vorsitzenden um Hilfe bitten).

–Keine Fragen wie „aus der Pistole geschossen“ beantworten.

–Sich nicht überraschen lassen.

–Tatsächliche Fehler einräumen.

–Ggf. das Gericht bitten, mitgeführte Unterlagen verwenden zu dürfen.

–Ggf. das Gericht um kurze Pausen (Unterbrechungen) bitten.

–Ggf. das Gericht bei unzulässigen Fragen um Entscheidung ersuchen.

4.5.5.4Nachbereitung

437Nach seiner Vernehmung sollte der Beamte nicht fluchtartig den Gerichtssaal verlassen und bei unerwünschtem Ausgang auf „die Justiz“ schimpfen. Zu einer sinnvollen und lehrreichen Nachbereitung gehören

–Anwesenheit beim Plädoyer des Staatsanwalts und bei der Urteilsverkündung, da hier die Leistung des Zeugen gewürdigt wird.

–Selbstkritische Reflektion des eigenen Verhaltens im Ermittlungsverfahren und vor Gericht im Hinblick auf das Ergebnis.

–Weitergabe der Erfahrungen und Informationen an Kollegen.

–Ggf. Gespräche mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht.

4.6Der Polizeibeamte als Sachverständiger35

438Die Tätigkeiten und Wirkungsfelder von Sachverständigen unterschiedlicher Fachrichtungen haben in den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen des Strafverfahrens ständig an Bedeutung gewonnen, was auch auf neue Erkenntnisquellen der zugrundliegenden Wissenschaften zurückzuführen ist. Die Bereiche der Einschaltung von Sachverständigen, die von Staatsanwaltschaft und Gericht im Falle mangelnder eigener Sachkunde beauftragt werden, sind mannigfaltig – der Einsatz reicht von Fragen der Altersbestimmung bei Beschuldigten über DNA-Gutachten und Schuldfähigkeitsbegutachtungen bis hin zu Verkehrsunfallrekonstruktionen. Insbesondere weil eine Vielzahl kriminaltechnischer Untersuchungen durch Polizeibehörden durchgeführt wird, sind Polizeibeamte immer wieder als Sachverständige im Strafverfahren tätig und zunehmend auch Angriffen der Verteidigung ausgesetzt. So beschäftigen sich Verteidiger vor allem in Verfahren der Schwerkriminalität durchaus selbst eingehend mit der zugrunde liegenden Materie, lassen sich fachkundig beraten, holen Gegengutachten ein und stellen – teilweise auch unzulässige – Fragen, mit denen sich der Polizeibeamte auseinandersetzen muss.

439Unter einem Sachverständigen wird grundsätzlich eine Person verstanden, die auf einem bestimmten Fachgebiet mit einer besonderen Sachkunde ausgestattet ist. EuroExpert, die European Organisation for Expert Associations, definiert den Begriff des Sachverständigen wie folgt: „Der Sachverständige ist eine unabhängige integre Person, die auf einem oder mehreren bestimmten Gebieten über besondere Sachkunde sowie Erfahrung verfügt. Der Sachverständige trifft aufgrund eines Auftrages allgemeingültige Aussagen über einen ihm vorgelegten oder von ihm festgehaltenen Sachverhalt. Er besitzt ebenfalls die Fähigkeit, die Beurteilung dieses Sachverhaltes in Wort und Schrift nachvollziehbar darzustellen.“


Praxistipp:
440 Das bedeutet jedoch nicht, dass der Sachverständige über wissenschaftliche Kenntnisse verfügen muss – Sachverständiger kann letztlich jeder sein, der auf seinem Fachgebiet über Expertenwissen verfügt, also auch ein Angestellter, Handwerksmeister oder eben ein „ganz gewöhnlicher Polizeibeamter“.

441Im Rahmen des Strafprozesses wird – unabhängig von der Sachkunde – jedoch nur als Sachverständiger tätig, wer aufgrund eines behördlichen Auftrages handelt, also von Gericht, Staatsanwaltschaft oder Polizei entsprechend herangezogen wird. Von der Verteidigung beauftragte Gutachter sind zunächst lediglich als sachverständige Zeugen zu bewerten.

4.7Abgrenzung zum Zeugen

442Die Funktion des Polizeibeamten als Sachverständiger ist grundsätzlich von der des Zeugen zu unterscheiden. Da die Pflichten und Rechte eines Zeugen von denen eines Sachverständigen erheblich abweichen, ist eine klare Zuordnung erforderlich, in welcher prozessualen Funktion eine Aussage erfolgt, wobei insbesondere Polizeibeamte, die als Zeuge geladen worden sind, sich aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse häufig unerwartet in einer Doppelrolle wiederfinden. Insoweit ist eine Begriffsklärung notwendig: Während der Zeuge über Wahrnehmungen aussagt, die er entweder mit besonderer Sachkunde ohne behördlichen Auftrag als sachverständiger Zeuge (vgl. § 85 StPO) oder ohne besondere Sachkunde mit oder ohne behördlichen Auftrag gemacht hat, ist Sachverständiger derjenige, der über Wahrnehmungen aussagt, die er im Auftrag des Gerichts, der Staatsanwaltschaft oder der Polizei aufgrund seiner Sachkunde gemacht hat.36

 

Beispiel:

443Wenig problematisch ist die Rollenzuordnung, wenn ein Beamter des BKA oder des LKA ein Gutachten zur Identität daktyloskopischer Spuren oder Werkzeugspuren erstatten soll – er (oder seine Behörde) wird dann selbstverständlich als Sachverständiger tätig. Schwieriger wird die Einordnung jedoch, wenn ein Polizeiarzt, der eine Blutprobe entnommen hat, nicht nur über den Eingriff und den Zustand des Beschuldigten während der Blutentnahme berichten soll (insoweit Sachverständiger), sondern auch über die bei dieser Gelegenheit gemachte geständige Einlassung des Beschuldigten.

444Hinsichtlich der Angaben des Beschuldigten ist der Arzt nämlich als Zeuge zu vernehmen und entsprechend zu belehren.

Beispiel:

445Gleiches gilt für den Polizeibeamten, der als Zeuge über seine Wahrnehmungen hinsichtlich einer Trunkenheitsfahrt aussagt, sodann aber vom Gericht über die technische Funktionsweise eines Atemalkoholgerätes befragt wird.

446Besteht ein behördlicher Auftrag, ist für die Einordnung letztlich maßgebend, über welche Art von Tatsachen eine Aussage erfolgt. Es ist zu unterscheiden zwischen Anknüpfungstatsachen, Befundtatsachen und Zusatztatsachen. Die beauftragende Behörde stellt dem Sachverständigen zunächst die sog. Anknüpfungstatsachen zur Verfügung, also die Umstände, von denen der Sachverständige in seinem Gutachten auszugehen hat. Der Sachverständige teilt sodann ggf. die Befundtatsachen mit, also die Wahrnehmungen, die er nach dem Inhalt des Auftrags aufgrund seiner Fachkunde gemacht bzw. ermittelt hat, um zu seinen Schlussfolgerungen zu gelangen. Befundtatsachen sind also beispielsweise naturwissenschaftliche Wahrnehmungen des Sachverständigen am Körper oder Verhalten einer Person oder am Tatort bzw. an Tatgegenständen. Insoweit wird der Gutachter ausschließlich in der Rolle des Sachverständigen tätig. Anders liegt der Fall, wenn der Polizeibeamte im Rahmen der Erfüllung seines Auftrages durch gezielte Ermittlung oder zufällig Wahrnehmungen macht, für die es nicht seiner besonderen Sachkunde bedarf, sondern die auch ein Nichtsachverständiger hätte machen können. Insoweit ist eine Vernehmung des Beamten als Zeugen notwendig, um diese Tatsachen ordnungsgemäß in den Strafprozess einzuführen.


Praxistipp:
447 Obwohl die Unterscheidung insbesondere im Hinblick auf Belehrungs- und Ablehnungsfragen, Vereidigung, Aussagegenehmigung sowie Entschädigung immens bedeutsam ist, lassen Staatsanwaltschaft und Gerichte insoweit nicht selten die notwendige Präzision vermissen und stellen dem als Zeugen vernommenen Polizeibeamten Fragen, die er nur als Sachverständiger beantworten kann oder auch umgekehrt. Ergeben sich für den Beamten daher Zweifel, in welcher Funktion er tätig wird, sollte er sich – auch zum eigenen Schutz hinsichtlich des Umfangs der Aussagegenehmigung – an seinen Auftraggeber, also die Staatsanwaltschaft oder das Gericht, wenden und um Klärung ersuchen.

1Vgl. dazu Füllkrug, Die strafprozessuale Verwertung von Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen, Kriminalistik 2020, 255 f.

2Vgl. dazu auch: Hassemer, Grenzen des Wissens im Strafprozess, ZStW 2009, 829 ff.

3Bei Kollegialgerichten wird das Verfahren einem der Beisitzer als Berichterstatter zugewiesen, der dann auch später den Urteilsentwurf absetzen muss.

4S. Rn. 126.

5Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 253 StPO Rn. 3 m. w. N.

6BGH StRR 2013, 217 f.; StRR 2012, 306 f.

7BVerfG 2 BvR 504/08 und 2 BvR 1193/08, wistra 2010, 299.

8BGH NJW 1994, 2839; OLG Jena StRR 2011, 391 f.

9BGH StRR 2012, 304 f.

10OLG Bamberg StRR 2013, 185 f.; wie hier: BGH NStZ 2004, 347; vgl. auch BGH, Beschluss vom 6.6.2019 – StB 14/19.

11LG Kiel StV 2017, 21.

12Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 52 Rn. 5 m. w. N.; Bosch, Die strafprozessuale Regelung von Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht, Jura 2012, 33 ff.; Ebner/Müller, Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO bei in der Bundesrepublik Deutschland geschlossener „Imam-Ehe“?, NStZ 2010, 657 (659).

13Vgl. dazu BGHSt 45, 342, aber auch Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 52 Rn. 5.

14BGH NJW 2012, 3192.

15OLG Hamm, Beschl. vom 28.5.2019 – 4 RBs 147/19, StRR 12/2019, 21 f.

16Zu den Zeugen mit ärztlichem Schweigerecht ausführlich unter Rn. 1300.

17BGH Beschluss vom 20.12.2011 – 1 StR 547/11.

18Vgl. Artkämper/Jakobs, Rn. 212 ff.; BGH StRR 2013, 217 f.

19BGH StRR 2012, 307 f.; StRR 2012, 303 f.

20Umfassend dazu: Artkämper/Jakobs, Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht, 2. Aufl. 2019.

21Möglicherweise sind darüber hinaus Nebenkläger und deren Nebenklägervertreter und Sachverständige anwesend.

22Vgl. dazu die weiteren Nachweise bei Müller, S. 13.

23Zur aktuellen Streitlage vgl. Seydel/Vesper, Konfliktverteidigung, der kriminalist 4/2020, 6 ff. einerseits und Andersen/Abel/Harms, der kriminalist 7–8/2020, 29 ff. andererseits; ferner: Theune, Polizeibeamte als Berufszeugen im Strafverfahren, 2020.

24Hof, Polizeizeugen – Zeugen im Sinne der StPO?, HRRS 2015, 277, 286.

25Sommer, Effektive Strafverteidigung, 3. Aufl. 2016 Rn. 1390 ff.

26Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 152 ff.

27Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, Rn. 279 ff.

28Vgl. auch die Fragenkataloge bei Müller S. 104 und Habschick S. 680.

29Gerst, Zeugen in der Hauptverhandlung, 2016.

30Müller, S. 45; vgl. auch die bei v. Prondzinski, … nicht verwandt und nicht verschwägert, DPolBl 4/2011, S. 2 angesprochene Studie, nach der etwa 20 % der Beamten einen Freispruch als Niederlage der Polizei begreifen und ¼ der Befragten Freisprüche missbilligen, wenn sie den Beschuldigten aufgrund der polizeilichen Ermittlungen für überführt halten. Auch wenn diese Umfrage 1975 veröffentlicht wurde, dürfte sich das Meinungsbild nicht gravierend geändert haben.

31Bender/Nack/Treuer, Rn. 1281.

32Bender/Nack/Treuer, Rn. 1282 ff.

33LG Bielefeld StraFo 2016, 512 f.; LG Saarbrücken StraFo 2016, 513.

34Vgl. z.B. Trurnit, „Konfliktverteidigung“ und Polizeibeamte als Zeugen im Strafverfahren, Kriminalistik 2009, 425 (427).

35Entnommen aus Artkämper/Jakobs, Rn. 613 ff.

36Meyer-Goßner/Schmitt, § 85 Rn. 3 m.w.N.

5Vernehmungsmodelle

448Vernehmungen sind Befragungen einer Person zu einem (straf-)rechtlich relevanten Sachverhalt.1 Ihre Effizienz hängt von einem Gemisch aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen der Aussagepsychologie, Sozialkompetenz und kriminalistischem und juristischem Wissen des Vernehmenden ab.2 Die Vernehmung ist ein Kommunikationsprozess und Beziehungsarbeit, dabei aber neben psychologischen und sozialen Faktoren auch an kriminalistische und rechtliche Grundlagen gebunden. Sie erfordert bei dem Vernehmenden interdisziplinäre Fähigkeiten, Sozialkompetenz und die Grundeinstellung einer orientiert humanitären Wertordnung.3

449Auch eine an den Praktiker gerichtete Darstellung kann und darf auf die Vorstellung unterschiedlicher Vernehmungsmodelle nicht verzichten; diese sollen daher hier in der gebotenen Kürze vorgestellt werden, wobei weiterführende Hinweise eine vertiefende Einarbeitung ermöglichen.


Praxistipp:
450 Der Leser wird schnell feststellen, dass jedes theoretische Modell in seiner „Reinkultur“ in der Praxis kaum umsetzbar ist. Einen allgemein gültigen systematischen Leitfaden – die dogmatische Vernehmungsfibel – kann und wird es nicht geben. Anleihen aus diesem oder jenem Modell, die der erfahrene Praktiker intuitiv (aus dem Bauch heraus) macht, sind nicht nur zulässig, sondern sinnvoll und erwünscht und tragen zu erfolgreichen Vernehmungen bei. Dabei sind aber stets die rechtlichen Rahmenbedingungen einzuhalten.

451Um dem Leser einen Überblick der Vernehmungsmodelle zu bieten, werden zunächst die Modelle dargestellt, die ausschließlich bei Zeugenvernehmungen angewandt werden. Es folgen diejenigen, die sowohl beim Beschuldigten als auch beim Zeugen eingesetzt werden und den Abschluss bilden Vernehmungsmodelle, die nur für die Beschuldigtenvernehmung Anwendung finden.

5.1Modelle Zeugenvernehmung
5.1.1Kognitives Interview

452Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der gedächtnispsychologischen Grundlagenforschung wird seit mehr als 25 Jahren das Modell des kognitiven Interviews bei der Vernehmung von Zeugen propagiert. Seine Technik besteht aus vier Phasen (Komponenten), die Erinnerungsprobleme überbrücken können.4

5.1.1.1Zurückversetzen in den Wahrnehmungskontext

453Der zu Vernehmende soll die Möglichkeit erhalten, die vergangene Situation, die es zu erinnern gilt, aufzurufen und sich in diese zu versetzen. Hierbei kann – ggf. muss – der Vernehmende oftmals eine gedankliche Führung übernehmen, ohne dabei allerdings durch den Vorhalt und die Preisgabe ermittlungsrelevanter Umstände die Instruktion in eine Suggestion zu verwandeln. Eine tatsächliche (örtliche) Versetzung in den gedanklichen Kontext soll dabei keine Vorteile bringen.

5.1.1.2Alle Einfälle berichten lassen

454Hat sich die Auskunftsperson erfolgreich in den Wahrnehmungskontext zurückversetzt, ist ihr die Möglichkeit zu geben, mit ihren Worten und ohne jegliche Unterbrechung das Wahrgenommene zu berichten.

455Danach wird sie aufgefordert, alles, auch Nebensächlichkeiten, und aus ihrer Sicht Unwichtiges zu schildern. Hierbei ist sie mit offenen Fragen zu führen. Häufig kommt es hier zu stockenden Schilderungen und zu Abbrüchen; es muss dann versucht werden, den Aussagenden zu ermuntern und durch eine Rückanknüpfung an das zuletzt Geschilderte seine Erinnerung aufleben zu lassen.

5.1.1.3Abfrage der Erinnerung aus unterschiedlichen Richtungen

456Der Mensch denkt üblicherweise chronologisch, sodass er regelmäßig auch in dieser zeitlichen Reihenfolge berichten wird. Im Anschluss daran sollte das Wahrgenommene auch in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge abgefragt werden. Ausgangspunkt ist somit das Ende der Wahrnehmung – oder ein anderer beliebiger Punkt der Schilderung – und es wird Schritt für Schritt abgefragt, was unmittelbar vor diesem Punkt wahrgenommen wurde.