Witterung – Lauf so schnell du kannst

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

16

Ganz langsam atmete sie aus – endlich, es war vorbei. Vor diesem Tag hatte sie sich unendlich gefürchtet und keine Nacht mehr durchgeschlafen. Immer wieder war sie das ihr bevorstehende Szenario durchgegangen und hatte sich dabei gefragt, ob es wirklich richtig war auszusagen.

Alle würden sie anstarren, auch die Leute der Presse, während der ganze Hergang nochmals – bis ins Kleinste – geschildert und Details preisgegeben wurden, für die sie sich schämte.

Dann würde man sie befragen, während die ganze Zeit jener Mann im Gerichtssaal saß, der ihr all die schrecklichen Dinge angetan hatte. Er würde sie mit seinem höhnischen Blick durchbohren, während er seine Tat glaubhaft abstritt.

Schon Wochen vorher hatte seine Familie Samira unter Druck gesetzt. Sie solle es bloß nicht wagen auszusagen. Dann hatte man sie aufs Übelste beschimpft und beleidigt, um anschließend ihre Familie zu terrorisieren. Sie hatten den Eltern Samiras Vorwürfe gemacht, weil sie ihre Tochter angeblich nicht im Griff hatten und ihr eine Freizügigkeit gestatteten, die sich für eine anständige Frau ihrer Herkunft nicht gehörte und die auch nicht der Tradition oder ihrem Glauben entsprach.

Samiras Vater hatte nichts darauf erwidert. Sein zorniges Gesicht hatte allerdings Bände gesprochen. Nicht etwa, weil seiner Tochter – seinem eigen Fleisch und Blut – Gewalt angetan oder ihre Würde mit Füßen getreten worden war, nein!

Ihr Vater war wütend auf sie – Samira. Er gab der Familie ihres Peinigers recht – zu hundert Prozent!

„Du hast Schande über dich und die Familie gebracht. Akzeptiere das, was dir widerfahren ist, als Lektion und lass es auf sich beruhen!“

Dann war nochmals eine ganze Litanei an Vorwürfen und Drohungen auf sie herniedergeprasselt, und sie hatte sich erneut beschmutzt gefühlt. Doch ihr Vater kannte keine Gnade. Warum musste sie sich auch so „unzüchtig“ kleiden und sich mit diesem Jungen, mit diesem Patrick aus ihrer Abiturklasse, treffen? Waren ihr die Jungen aus der Heimat nicht gut genug? Dieses Verhalten musste die jungen Männer zwangsläufig wütend machen! Deren Familien hielten nun mal nichts von der in Westeuropa gelebten Dekadenz und Freizügigkeit. Sie erzogen – Allah sei Dank – ihre Söhne anders, nach den Gesetzen des Korans. Samiras Verhalten war eine Provokation und verspottete diese Männer, ja forderte sie regelrecht heraus! Die Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland mochte für westliche Kulturen gelten, doch für ein Mädchen ihrer Herkunft gehörte sich das nun mal nicht!

Ihre Mutter hatte dazu still genickt und ihr in einem Vieraugengespräch ebenfalls Vorwürfe gemacht. „Männer sind triebhaft geschaffen. Wir müssen sie vor sich selbst schützen. Deshalb liegt es in der Verantwortung von uns Frauen, uns so zu kleiden, uns so zu bedecken, uns so zu verhalten, dass man das andere Geschlecht nicht reizt! Du hast dich trotz meiner Erziehung darüber hinweggesetzt und musst nun die Konsequenzen tragen – zu Recht! Wären wir in unserer Heimat, würdest du dafür sogar bestraft werden!“

„Weshalb?“

„Weil du den Mann nicht vor sich selbst geschützt, sondern – im Gegenteil – ihn gereizt hast ... durch dein ganzes Verhalten.“

Samira hatte es nicht glauben können. Ihr sollte also die rechtmäßige Strafe widerfahren sein, die für Frauen ihrer Herkunft vorgesehen war, wenn diese sich zu sehr an der modernen Welt orientierten? Stellte Vergewaltigung tatsächlich das legitime Mittel einer Art Disziplinierungsmaßnahme dar? Machte eine westliche Lebensweise sie automatisch zu Freiwild?

Da war ihr der Kragen geplatzt, und sie hatte sich nicht mehr beherrschen können. Ihre Wut, die plötzlich stärker als ihre Traumatisierung gewesen war, hatte sie hinausgeschrien.

„Wie bitte? Ist das dein Ernst?! Der arme Vergewaltiger, der seinen Trieb brutal an mir befriedigen musste? Mama, hörst du dir überhaupt zu? Was bist du für eine Mutter, was bist du für eine Heuchlerin? Wie kannst du es wagen, wie kannst du dafür plädieren, dass ein Vergewaltiger nicht zur Rechenschaft gezogen wird? Doch nur zu – propagier’ Rechte für den Abschaum! Ich dulde es jedoch nicht! Selbst wenn ich mich entscheide, nackt herumzulaufen – kein Mann hat das Recht, sich über meinen Willen hinwegzusetzen, hörst du?“ Ihre Mutter hatte plötzlich den Zeigefinger an die Lippen gelegt, um ihr zu bedeuten, leiser zu sein. Doch der Vater hatte bereits in der Tür gestanden und Samira gedroht.

Doch sie war nicht eingeknickt und plötzlich merkwürdig ruhig geworden.

„Egal welcher Herkunft ... ein Mann hat seinen Trieb, ich sage es ganz deutlich – seinen Schwanz – gefälligst unter Kontrolle zu haben. Was für eine Memme, was für ein Schwächling, was für ein Neandertaler, der das nicht kann!“

Da hatte der Vater sie heftig geohrfeigt.

Von der Familie verstoßen, hatte Samira ihre Koffer gepackt und sich von Patrick abholen lassen. In welcher Welt ihre Eltern auch leben mochten, Samira hatte sich längst entschieden. Sie beabsichtigte nicht parallel an der westlichen Gesellschaft vorbeizuleben – einer Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlte. Sie liebte es, Teil des Fortschritts zu sein, aktiv am Geschehen teilzunehmen, und mochte nicht einfach nur an den sozialen und wirtschaftlichen Annehmlichkeiten partizipieren, wie es ihre Eltern propagierten, ohne ihren Beitrag zu leisten.

Ihre Anwältin hatte dafür gesorgt, dass sie zunächst in ein Frauenhaus kam. Dort, wo niemand sie finden konnte. Später war sie in einer Wohngemeinschaft mit zwei anderen Frauen untergekommen. Und nun?

Obwohl sie nicht ernsthaft damit gerechnet hatte, schmerzte es sie plötzlich, dass niemand von ihrer Familie zur Gerichtsverhandlung erschienen war, um ihr beizustehen.

Doch sie hatte heute ihrem Peiniger direkt in seine widerliche Visage sehen müssen und war stark geblieben.

Er grinste immer noch, schließlich gab es keine Zeugen, wie so oft bei derartigen Vergehen. Die Unschuldsvermutung galt. Seine Augen durchbohrten sie immer noch.

Sie betete. Hoffentlich kam er nicht davon. Doch auch wenn – es war richtig gewesen, für sich selbst einzustehen.

Als sie aufstand, um zurück zu ihrem Platz zu gehen, musste sie an ihm vorbei. Einem Impuls folgend, blieb sie plötzlich direkt vor ihm stehen. „Verrecke, du Hurensohn!“ Dann bespuckte sie ihn.

Sofort kamen Ordnungskräfte und führten sie zu ihrem Platz, während die Richterin sie verwarnte und mit einer Ordnungsstrafe drohte. Doch sie fühlte sich gut – sie hatte ihm in seine provokant zur Schau getragene Unschuldsfresse gerotzt und fühlte sich zum ersten Mal befreit – zumindest für den Moment.

Noch ist der Prozess nicht zu Ende, dachte sie und suchte Patricks Augen unter den Zuschauern.

17

Michaela Schubert ging den langen Flur des Frauenhauses entlang, stoppte vor einer Tür und klopfte. Als von innen geantwortet wurde, öffnete sie die Tür und trat ein.

Frank Lindner hob den Kopf und blickte ihr freundlich entgegen.

„Frau Schubert.“

„Sie wollten mich sprechen?“

„Ja, ich wollte mich erkundigen, ob es Ihnen wieder gut geht. Frau Klossek sagte, dass Sie letztens einen heftigen Migräneanfall hatten?“

Er musterte sie, und Michela fühlte sich plötzlich unter diesem Blick unwohl.

„Es ging mir aber schnell besser, und jetzt ist alles wieder gut, danke.“

„Sie hätten nach Hause gehen sollen. Ich möchte, dass keiner meiner Mitarbeiter sich durch den Tag quälen muss. So arbeiten wir hier nicht. Nur für’s nächste Mal.“

„Danke.“

Lindner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte sie nachdenklich, bevor er weitersprach. „Wissen Sie, wir kümmern uns hier um schwerst traumatisierte Menschen. Um das zu können, müssen wir auf uns selbst gut aufpassen, das gilt auch für Sie, Frau Schubert – verstanden?“

„Schön, dass Sie das so sehen, danke.“ Michaela machte Anstalten zu gehen.

„Sie sind geschieden, Frau Schubert, und haben eine Tochter, richtig?“

Michaela hielt inne. Worauf wollte Lindner hinaus? Sie antwortete zögernd: „Ja. Ist alles eine Frage der Organisation.“

„Oh, natürlich, davon bin ich überzeugt. Ich frage nicht aus Neugier. Frau Klossek sagte mir, bevor sie in Urlaub ging, dass Sie gern auf Vollzeit gehen würden. Das wäre eine ziemliche Umstellung für Sie – und für Ihre Tochter, oder?“

„Das stimmt, aber ...“

Michaela wollte etwas sagen, etwa, dass sie es sich durchaus zutraute, mehr Stunden zu arbeiten und dass sie das Geld unbedingt brauchte, doch Lindner kam ihr zuvor.

„Aber wenn Sie es sich zutrauen, und das tun Sie, schließlich hätten Sie sonst nicht gefragt, tue ich es auch. Ich könnte Sie ab nächsten Monat auf sechs Stunden setzen – zunächst. Das bekomme ich ohne Probleme beim Träger durch. Dann sehen wir weiter, okay?“

„Okay, danke.“

Michaela wollte gehen, doch Lindner hielt sie zurück. „Frau Klossek, verstehen Sie sich eigentlich gut mit ihr?“

Michaela stutzte. Worauf wollte er hinaus? „Schon“, sie zögerte. „Gibt es irgendetwas …?“

„Nein! Nein, überhaupt nicht.“

Lindner hatte abwehrend seine Hände gehoben.

„Ich arbeite wirklich sehr gern mit Sigrid Klossek zusammen“, erklärte Michaela mit Nachdruck.

Lindner lachte verbindlich. „Genau das wollte ich hören. Nur für den Fall, wenn ich unterwegs bin oder Urlaub habe, wie demnächst, dann ist eine gute Zusammenarbeit umso wichtiger. Apropos – Sie haben noch gar nicht Ihren Jahresurlaub eingetragen? Kümmern Sie sich bitte gleich darum, ja?“

„Mache ich. Und noch mal vielen Dank.“

Sie verließ Lindners Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann blieb sie einen Moment stehen – ihre Beine schlackerten, und auch ihre Hände zitterten. Sie atmete tief durch und lief den Flur zurück.

 

18

„Weiß man schon, wer die Tote ist?“, erkundigte Heribert sich und stellte seine Kaffeetasse ab.

Er war gerade erst im Kommissariat der Kripo Korbach eingetroffen. Er griff nach den Fotos, die auf dem Schreibtisch lagen, und betrachtete sie nacheinander.

Witzbold drückte seine Zigarette aus und schloss das Fenster. „Nein, sie war nackt. Keine Kleidung, keine Papiere, nichts.“

„Okay, das sehe ich. Man hat vermutlich auch die Umgebung abgesucht. Aber könnte es nicht sein, dass der Täter die Kleidungsstücke und ihre persönlichen Gegenstände etwas weiter weg vom Tatort entsorgt hat?“

Witzbold schüttelte den Kopf. „Es sind sogar Spürhunde zum Einsatz gekommen.“

Heribert wendete sich wieder den Fotos zu. Der Fundort der Leiche war ein dichtes Waldstück mit Mischbaumbestand, etwa vier Kilometer von der Innenstadt Bad Arolsens entfernt. Im Hintergrund war eine große grünliche Felsformation erkennbar – offensichtlich handelte es sich um Tuffstein. Die Tote lehnte in Sitzposition an einem Baum. Die Arme waren gekreuzt, eine Schlinge lag straff um ihren Hals. Sie war von hinten stranguliert worden.

Heribert stutzte. „Was liegt da zwischen ihren Beinen?“

„Bevor sie stranguliert wurde, hat ihr der Täter die Zunge herausgeschnitten und, wie du siehst, hat er ihr die Augen zugenäht. Erinnert an die Miniaturen der drei weisen Affen, findest du nicht?“

„Mit Ausnahme von ‚nichts Böses hören‘ – die Ohren der Toten sind unversehrt.“

Witzbold nahm eins der Fotos und betrachtete es ebenfalls. „Stimmt.“

Heribert dachte an das Bücherregal seiner Eltern, auf dem diese bekannte Affenminiatur stand. „Vielleicht soll es eine Erweiterung des Ganzen darstellen – nichts Böses tun? Schließlich ist sie gefesselt.“

Nur kurz blieb sein Blick an den verstümmelten Füßen der Toten hängen. Zudem war eine Hand fast abgetrennt und hing nur noch an einem Hautfetzen herab.

„Was ist mit ihren Füßen und ihrer Hand?“

„Vermutlich postmortal.“

„Wieso nicht sauber abgetrennt, warum so zerfleischt?“

„Bissspuren.“

„Bissspuren?“

„Ja.“

„Sicher?“

„Ja!“

Witzbold machte eine ungeduldige Geste. „Also, ich meine nicht Bissspuren vom Täter, sondern von Tieren. Vermutlich liegt die Frau bereits seit dem Wochenende dort – also mindestens vier Tage. Es spricht alles dafür, dass sie dort vor Ort und vermutlich nachts getötet wurde.“

„Wieso in der Nacht?“

„Tagsüber sind hier Wanderer unterwegs. Da wird vermutlich kaum jemand das Risiko eingehen.“

Das klang plausibel. Heribert dachte nach. Wenn auch dieses Morddelikt auf das Konto von Abraxas ging, hatte sich seine Vorgehensweise definitiv verändert. Auch bei diesem Mordopfer fehlten die für Abraxas typischen Signaturen mit den eingeritzten Zahlenabfolgen – seine Unterschrift, wenn man so wollte.

„Die Felsformation im Hintergrund – wo ist das?“

„Ist der Markusstein, einige Kilometer weg von der Bad Arolser Innenstadt.“

Heribert erinnerte sich, dass der Markusstein ein beliebtes Ausflugsziel war. Doch er hatte sich während seiner Reha gegen diese geführte Wanderung entschieden und war lieber mit Anita ins Bett gegangen.

Kurz dachte er an sie, an ihre Grübchen, ihre üppigen Rundungen, und sofort erwachte sein körperliches Verlangen. Er rief sich zur Ordnung und konzentrierte sich erneut auf die Felsformation. Er hatte etwas zu der Geschichte dieses Ortes gelesen. Der Sage nach war ein Adeliger einer weißen Hirschkuh hinterher­gejagt. Diese war oberhalb des Markussteins von einer Felsplatte in die Tiefe gesprungen und verschwunden. Als das Pferd des Reiters ihr nachsetzen wollte, war dessen treuer Jagdhund ihm in die Zügel gesprungen. Das Pferd hatte abgedreht, und dem Reiter war auf diese Weise der tödliche Sturz in die Tiefe erspart geblieben. Auch wenn es nur eine Sage war, so konnte man vermutlich in ihr einen Funken Wahrheit entdecken.

Der Markusstein war also uralt und sollte in Vorzeiten eine Kultstätte der Germanen gewesen sein. Verbürgt war, dass ein Einsiedler dort gelebt hatte.

Eigentlich schien es ein lauschiger Ort zu sein, doch mit der Leiche im Vordergrund bekam die ganze Umgebung eine völlig andere, sehr dunkle Ausstrahlung.

„Wir haben bereits die anderen Dienststellen informiert und sind die Vermisstenanzeigen durchgegangen. Bisher noch kein Treffer“, erklärte Witzbold. „Wenn sich auch hier DNA-Spuren von Abraxas Lemm finden lassen, dann werden wir eine Sonderkommission gründen.“

Heribert lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Okay, dann lass uns mal Tacheles reden. Was spricht dafür, dass auch dies“, er deutete auf das Foto, „das Werk von Abraxas ist?“

Witzbold räusperte sich.

„Ich sagte es dir bereits am Telefon, doch ich würde gerne hören, was du denkst. Jetzt, nachdem du die Bilder gesehen hast.“

„Also gut.“ Heribert dachte einen Moment nach. „Ich fasse mal zusammen – unter dem Aspekt, dass ich vom Tatort in Wolfhagen auch nur Bilder gesehen habe, deshalb kann ich dazu auch nur begrenzt etwas sagen. Was wissen wir? Erstens: Aufgrund der dort gefundenen DNA-Spuren muss Abraxas der Mörder Walter Zellers sein, richtig?“

Witzbold nickte. „Richtig.“

„Zweitens: Dass Lemm nicht nur mordet, sondern im Fall Zellers auch gezielt raubt – sprich, dessen Finger abtrennt, um so an das Schließfach zu kommen, ist neu. Das Ganze hat etwas Gezieltes. Außerdem stellt sich die Frage, ob Täter und Opfer sich kannten. Drittens: Neu ist das Fehlen der eingeritzten Zahlen, quasi Abraxas’ Signatur auf der Haut der Leichen, und neu ist, dass er jede Menge Spuren hinterlässt. Bisher tötete er aus reinem Vergnügen. Er liebt es, sich an der Hilflosigkeit seiner Opfer zu weiden, und genießt seine Macht – das macht ihn geil. Was ich sagen will, ist: Wir müssen davon ausgehen, dass sich Abraxas’ Vorgehensweise verändert hat und vielleicht sogar weiter verändern wird – auch was seine Motive betrifft.“

Witzbold runzelte die Stirn und schien nachzudenken.

„Er fühlt sich auf jeden Fall sehr sicher. Vielleicht ist das der Grund, warum er Spuren hinterlässt. Verhöhnt er uns, weil er davon ausgeht, dass man ihn nicht kriegen kann?“

„Möglich. Vielleicht hat er aber auch im Fall Zeller keine Zeit gehabt, sein Vorgehen so wie früher akribisch zu planen, und hat deshalb Spuren hinterlassen – oder er ist gestört worden.“

Witzbold stutzte. „Moment, das verwirrt mich jetzt. Hast du nicht gesagt, Abraxas geht willkürlich vor? Also, was jetzt, willkürlich oder geplant?“

„Das habe ich so nicht gesagt. Es stimmt, er sucht seine Opfer willkürlich aus. Damit meine ich, dass er keine Affinitäten zu bestimmten Personengruppen hat. Bisher! Vielleicht hat sich auch das geändert – wir werden sehen. Doch die eigentliche Tat war immer akribisch geplant. Um seine Opfer in Szene zu setzen, muss er ihre Gewohnheiten genaustens ausspionieren.“

„Das heißt also – die Person erregt zufällig Abraxas’ Interesse, und erst dann entwickelt er den Plan, wie er sein Ziel umsetzen kann?“

„Genau.“

Heribert nahm einen Schluck von seinem Kaffee und dachte einen Moment nach. „Deine Anmerkung, dass Abraxas sich sehr sicher fühlt, ist ein wichtiger Punkt!“

„Okay, was sagt uns das?“

Witzbold gab sich selbst die Antwort. „Vermutlich, dass er sich an einem Ort versteckt, wo niemand ihn vermutet.“

„Ein Ort, zu dem er ohne Gefahr immer wieder zurückkehren und unsichtbar werden kann“, ergänzte Heribert.

Witzbold zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster. „Was denkst du, was könnte in dem Schließfach gelegen haben, dass es für Abraxas so wichtig war?“

„Keine Ahnung, vermutlich Wertsachen, Geld. Abraxas ist vermutlich pleite.“

Witzbold nahm einen Zug von seiner Zigarette, inhalierte und atmete den Qualm aus, während er den Kopf vehement schüttelte und eine abwinkende Geste machte.

„Zellers Portemonnaie lag gut gefüllt auf seinem Küchenblock.“

Heribert erinnerte sich an das Tatortfoto mit dem Portemonnaie in der Küche.

„Stimmt – dann scheidet dieser Aspekt wohl eher aus.“

„Also muss es etwas Wertvolleres gewesen sein. Das könnte dafür sprechen, dass er gezielt danach gesucht hat.“

Heribert gab Witzbold recht. Es stellte sich also die Frage, wer Abraxas die Sache mit dem Schließfach gesteckt hatte. Konnte es jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld sein, Kumpels aus dem Gefängnis? Oder gab es tatsächlich eine Verbindung zwischen Zeller und Lemm? Heribert fröstelte plötzlich und zog sich seine Jacke über, während er registrierte, dass Witzbold sofort aufstand und das Fenster schloss.

„Und was ist mit der Frau?“ Heribert reichte ihm das Foto herüber, „sie wurde gefoltert, die abgeschnittenen Körperteile wurden arrangiert – das passt auf jeden Fall zu Lemm.“

„Sehe ich genauso, aber warum ermordet er sie ausgerechnet an diesem Ort? Und vor allem, wie ist die Frau überhaupt dorthin gekommen?“

„Ihr habt keine Autospuren gefunden?“

„Nein. Dafür Fußabdrücke – jede Menge.“ Witzbold deutete auf die Fotos.

Heribert fischte eins der Fotos vom Stapel und betrachtete es. Auf dem Waldboden waren quaderförmige, metallene Absperrungen verteilt, die alle durchnummeriert waren. Dies war normales Prozedere der Spurensicherung. Um jeden kleinen Fußabdruck wurden diese Absperrungen verteilt, damit nichts verwischt wurde.

„Die Analyse der Gipsabdrücke liegt noch nicht vor. Wird schwierig werden – die Zuordnung, meine ich.“

„Ist es gesichert, dass die Frau vor Ort getötet wurde?“

Witzbold nickte. „Sie wurde nach ihrem Tod nicht mehr bewegt, das ist sicher. Aber erklär mir mal, warum er sich ausgerechnet für diesen Ort entschieden hat?“

Heribert antwortete nicht sofort. Er wusste, Lemm hatte Sinn für Dramatisches. Einmal hatte er eins seiner Opfer direkt auf der Frankfurter Zeil ausgestellt und damit viele der morgendlichen Passanten verstört. Das Opfer war erdrosselt worden. Vom linken Ohr über den Mund bis zum rechten Ohr war ein tiefer Schnitt ausgeführt worden – eine lächelnde Fratze. In der rechten Hand hatte das Opfer einen Hut gehalten, wie beim Betteln. Warum also nicht einen geschichtsträchtigen Ort, eine frühere Kultstätte, für derartige „Schreckensinszenierungen“ nutzen?

Heribert war müde und gähnte.

„Wir werden es noch herausfinden, Olav!“ Doch er war keinesfalls so optimistisch, wie er sich den Anschein gab. Plötzlich fiel ihm etwas ein, es hatte schon die ganze Zeit in ihm gearbeitet.

„Hast du schon ein Ergebnis zu dem Zigarillostummel vorliegen, den ich dir zwecks DNA-Abgleich habe zukommen lassen?“

„Ähm – noch nicht. Die werden sagen, dass sie viel zu tun haben, ich werde denen mal Beine machen.“ Sein Gesicht sprach allerdings Bände, und Heribert ahnte, dass Olav es vergessen und das Zigarillostück noch nicht weitergereicht hatte. Diese Nachlässigkeit ärgerte ihn.

„Wenn beide Morde auf das Konto von Lemm gehen und sich an diesem Zigarillo ebenfalls seine DNA-Spuren finden lassen, dann hat er bereits seine nächsten potenziellen Opfer im Visier, verstehst du? Meine Freunde in Kassel! Und das wäre dann auch ein Indiz dafür, dass er seine Opfer inzwischen gezielt aussucht. Botho Lange fühlt sich seit Walter Zellers Ermordung verfolgt!“

Witzbold blickte alarmiert auf. Genau das hatte Heribert erreichen wollen. Olav konnte, von ihm aus, schlafen, wenn der Fall gelöst war. Er würde ihm Dampf unterm Arsch machen. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein.

„Weißt du schon, wer die mögliche Sonderkommission leiten wird?“

Witzbold machte ein erstauntes Gesicht. „Na, ich vermutlich und ein Kollege, ein Fallanalytiker aus Wiesbaden!“

Er registrierte Heriberts skeptischen Blick.

„Und wenn nicht ich, dann werden zumindest alle Fäden bei mir zusammenlaufen, sprich, ich werde über den jeweiligen Ermittlungsstand genaustens im Bilde sein. Muss ich dir doch nicht sagen, du kennst doch den Ablauf.“

„Das tue ich. Bloß, wozu brauchst du dann noch mich?“

„Du weißt es – du hast es selbst gesagt. Niemand kennt Abraxas Lemm besser als du.“

Heribert musste plötzlich über Olavs harmloses Gesicht grinsen.

„Aber vor allem brauchst du mich, weil du dir Rückendeckung erhoffst, wenn die aus Wiesbaden anrauschen.“

 

Witzbold antwortete nicht. Stattdessen legte er verschwörerisch seinen Zeigefinger an die Lippen und grinste zurück.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?