Witterung – Lauf so schnell du kannst

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3

„Juna, beeil dich!“

„Bin gleich fertig, Mama!“ Die Kleine stellte die Zahnbürste in ihr Glas und sauste aus dem Bad. Schnell die Jacke, den Ranzen und los. Ihre Mutter wartete bereits ungeduldig an der Tür.

Michaela Schubert musterte ihre Tochter. Seit der Scheidung von Robert, ihrem Mann, verhielt sich Juna merkwürdig introvertiert. Michaela machte sich Sorgen. Robert nahm es mit den Zeiten, die er mit seiner Tochter verbringen sollte, nicht so genau, und Michaela hatte ihn mehr als einmal um Verbindlichkeit gebeten. Es machte sie wütend, wenn Juna auf ihren Vater wartete, nur um enttäuscht zu werden. Und sie hasste Roberts fadenscheinige Entschuldigungen, die alles noch schlimmer machten. Robert lebte seit zwei Jahren in Ägypten und arbeitete dort als Ingenieur bei einer Baufirma. Sie strich Juna übers Haar.

„Weißt du was, am Wochenende machen wir zwei etwas richtig Schönes – du darfst entscheiden, wie findest du das?“

Das Mädchen strahlte. „Au ja, Mama!“

Unten, vor dem Wagen, wartete bereits Rebecca, Junas neue Schulfreundin. Alles war seit der Scheidung neu. Die Schule, die Wohnung und Michaelas Arbeitsstelle.

Sie startete den Motor und blickte in den Rückspiegel.

„Ihr zwei kommt, wie abgesprochen, nach der Schule zum Frauenhaus. Es sind nur wenige Meter. Ihr kommt nicht herein, sondern wartet gegenüber bei der Bäckerei. Dann fahren wir zusammen nach Hause, okay?“

Die Mädchen nickten, und Michaela sauste los. An ihrem ersten Arbeitstag als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für verfolgte und misshandelte Frauen mochte sie nicht zu spät kommen – heute würde Frank Lindner, der mit ihr bereits vor Wochen das Einstellungsinterview geführt hatte und ihr neuer Chef war, ihr das gesamte Team vorstellen. Sie spürte den Anflug einer plötzlichen Panik, doch sie ging vorbei.

4

Er rappelte sich hoch und sprang von der Krankenhausbahre, stieß die Pflegekraft beiseite, schlug den verdutzten Wachmann nieder und rannte weiter. Er registrierte, dass jemand aufschrie und dass sich der Wachmann wieder aufrappelte, doch Abraxas hatte im Gefängnis trainiert und war gut in Form. Auf jeden Fall besser als der alte Sack, der ihn bewachen sollte. Jetzt musste er nur noch den schmalen, langen Flur entlang, dann war er am Ausgang. Warum zum Teufel musste ihm diese fette Kuh ausgerechnet jetzt den Weg versperren und auch noch dermaßen laut kreischen? Er schubste sie grob zur Seite. Als sie jedoch anfing, um Hilfe zu schreien, drehte er um, packte sie und schlug ihren Kopf mehrmals gegen die Wand. Na bitte, endlich war sie still – das hatte Spaß gemacht! Wie gerne hätte er die fette Sau noch zusammengetreten. Schade, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er konnte sich später immer noch irgendwo an irgendwem abreagieren. Der Gedanke hatte etwas Beflügelndes, und ein Gefühl von Freude durchströmte ihn plötzlich, als er den Ausgang passierte.

Er sprintete weiter in Richtung Parkplatz zum ausgemachten Treffpunkt. Wo zum Henker stand der Wagen? Konnte man sich denn auf niemanden mehr verlassen? Sein Kopf ruckte herum – ja, das war schon besser und klang wie Musik in seinen Ohren! Das schwarze BMW-Cabriolet bog gerade mit quietschenden Reifen um die Ecke, und Abraxas hastete los, als die Autotür bereits aufflog. Er stieg ein und stutzte enttäuscht, während der Fahrer das Gaspedal durchtrat. Abraxas wurde in den Sitz gepresst. Einem Automatismus folgend, stemmte er sich gegen die Schwerkraft und zog die Wagentür zu, während er dem Fahrer einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

„Ich dachte, mich holt ’ne Möse ab?“

„Bitte was?“ Der Kopf des Fahrers ruckte herum und blickte Abraxas einen winzigen Moment geringschätzig an.

Lemm machte eine obszöne Geste. Der Mann nickte genervt. „Später, alles zu seiner Zeit, okay?“

Abraxas merkte auf, alles zu seiner Zeit? Er rückte seine Brille zurecht und musterte den Fahrer abschätzend. Machte sich diese Schwuchtel etwa über ihn lustig? Sein Blick fiel auf die gepflegte Hände, und der Gedanke war sofort da – wie schön es sein könnte, ihm die Fingernägel herauszuziehen, einen nach dem anderen, ganz langsam. Er schloss die Augen und gab sich für einen Moment dieser angenehmen Vorstellung hin, während der Polizeifunk gerade die Flucht eines Serienmörders durchgab.

Abraxas verzog das Gesicht, während er sich die Kanüle aus seinem Arm zog. Anschließend presste er Zeige- und Mittelfinger auf seine Armbeuge und warf seinem Fahrer einen auffordernden Blick zu.

Der reagierte prompt. „Im Handschuhfach ist Pflaster.“

Abraxas verarztete sich. Sein Blick fiel auf die Packung Zigaretten, die auf der Ablage lag.

„Scheiße, keine Zigarillos?“

„Gedulde dich, die bekommst du später.“

Abraxas griff nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine an und inhalierte tief.

Sichtlich genervt suchte er einen anderen Sender. Ein alter Vicky-Leandros-Schlager dudelte etwas von einem Theo, der nach Lodz fuhr oder so.

Durch den Rauch musterte Lemm eine ganze Weile den Fahrer. Dieses Abschätzen hatte etwas Gefährliches. Es glich dem Lauern eines Raubtieres. Doch der Mann am Steuer schien diesen Umstand überhaupt nicht zu bemerken. Wusste diese Pfeife überhaupt, wer gerade neben ihm saß? Lemm gab ein verächtliches Geräusch von sich, nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung seines Nachbarn, dann ließ er den Stummel aus dem Spalt der heruntergelassenen Fensterscheibe gleiten.

„Du hast recht, alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit!“

Er grinste und spürte sofort dieses angenehme Gefühl, diese heftige Adrenalinausschüttung – so wie sie ein Jäger kurz vor dem entscheidenden Schuss verspürte. Euphorisch summte er den Schlager im Radio mit, den zunehmend genervten Gesichtsausdruck des Fahrers ignorierend. Sollte er sich doch ärgern!

Aus der Ferne hörte man plötzlich Polizeisirenen. Augenblicklich gab der Fahrer Gas und raste in die Dunkelheit einer Unterführung, während Abraxas in seinen Sitz gedrückt wurde und vergeblich versuchte, sich umzudrehen.

5

Sie hielt sich am Waschbecken fest, um nicht umzufallen, und blickte ihr Spiegelbild an. Michaela sah es selbst – sie sah schrecklich aus.

„Nimm dich zusammen“, flüsterte sie, „du ziehst den Job durch!“

Sie kämpfte gegen den plötzlichen Schwindel an und gegen das heftige Gefühl, bewusstlos zu werden. Ausgerechnet in diesem Moment betrat Sigrid Klossek, die Teamleiterin, den Waschraum der Toilette.

Sie warf Michaela einen besorgten Blick zu.

„Ist Ihnen nicht wohl, kann ich irgendetwas für Sie tun, Frau Schubert – wollen Sie vielleicht nach Hause gehen?“ Michaela riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Nein, nein, alles gut. Kleiner Migräneanfall, es geht gleich wieder, habe schon eine Tablette eingenommen.“

Sigrid nickte. „Oje, Sie Arme, das kenne ich.“ Damit suchte sie die Toilettenkabine auf.

Michaela betupfte sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und ließ den Wasserstrahl über ihre Handgelenke laufen.

Immer noch raste ihr Puls.

Sigrid kam von der Toilette zurück, trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände, während sie Michaela über den Spiegel mitfühlend anlächelte.

„Also, dann bis gleich.“

Michaela nickte und erwiderte das Lächeln. „Ja, bis gleich.“

Sigrid verließ den Raum, und Michaela betrat hastig eine der Toilettenkabinen und verschloss sie – dann sackte sie zusammen und bekam einen Heulkrampf. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Sorgfältig verschlossene Erinnerungen – Flashbacks – jagten plötzlich wieder und wieder durch ihren Geist und quälten sie. Sie versuchte, es zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht. Dann bekam sie Schüttelfrost. Die Luft schien verbraucht, und sie atmete heftig, während ihre Hände zu kribbeln begannen. Dann musste sie sich übergeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit wurde ihr Atem ruhiger, und die Panik legte sich allmählich. Sie überlegte fieberhaft – was konnte sie tun? Aufgeben? Das kam nicht infrage! Sie überlegte weiter. Niemand außer Sigrid Klossek hatte ihren Zustand bemerkt. Weder ahnte sie den wahren Grund noch wussten die anderen etwas. Was also diese Sorge betraf –, war alles bestens.

Dann fiel ihr etwas ein. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche. Nach einem Moment des Zögerns tippte sie eine Nummer ein, und als sich eine Stimme meldete, löste sich alles. Nicht ein einziges Mal wurde sie unterbrochen – dann hörte sie eine lange Weile nur zu, während sie sich allmählich beruhigte. Zum Schluss bedankte sie sich und drückte die Aus-Taste. Das hatte gutgetan, sie fühlte sich leichter und gestärkt. Noch einen Moment, dann würde sie nach draußen gehen und sich weiter um die traumatisierten Frauen und deren Kinder kümmern. Sie würde ihr altbewährtes Pokerface aufsetzen, doch dabei sehr wachsam sein. Es gab eine Lösung. Diesmal war sie im Vorteil. Gleich war Mittag, dann war sowieso für heute Dienstschluss – Juna und Rebecca würden draußen warten. Sie putzte sich die Nase, legte neues Make-up auf und atmete tief durch, dann verließ sie den Toilettenraum.

6

Eine heruntergekommene Villa, die aus der Welt gefallen zu sein schien und mit Efeu überwuchert war, kam in Sicht.

„Na endlich“, Abraxas' Laune war auf dem Tiefpunkt, „kannst du mir mal sagen, warum wir uns nicht versteckt haben – warum sind wir nicht nachts weitergefahren?“

Der Fahrer antwortete nicht.

„He? Ich meine nur, anstatt das Risiko einzugehen, von den Bullen erwischt zu werden!“

„Was beschwerst du dich, ist doch alles gut gegangen, oder?“

 

Abraxas' Kopf ruckte herum.

„Was ich mich beschwere? Was ich mich beschwere?! Ist das dein Ernst? Wir sind dem Bullenauto nur ganz knapp entkommen – das beschwere ich mich! Anfänger!“

Abraxas griff nach der Zigarettenpackung und zündete sich eine an. Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich und schloss sich sofort wieder, nachdem der Wagen die Einfahrt passiert hatte und nun den schmalen Kiesweg entlangfuhr. Der Fahrer verlangsamte das Tempo und hielt schließlich an. Abraxas schaute ihn fragend an, als er ein leises Summen vernahm. Das Vibrieren kam vom unteren Teil des Wagens. Die seitlichen Büsche und das Haus, alles glitt plötzlich nach oben weg, während sie offensichtlich mit einer Art Aufzug nach unten fuhren. Etwas später vernahm Abraxas das Summen eines Mechanismus, und etwas rastete ein.

Der Fahrer startete den Wagen erneut und fuhr von der Plattform herunter.

Abraxas blickte sich um. Sie befanden sich in einer Art unterirdischer Halle. Er beobachtete, wie die Plattform langsam nach oben schwebte und die Deckenöffnung wieder verschloss. Weiter ging die Fahrt – einen schmalen Tunnel entlang, der in einem großen Raum, einer Art Kellergewölbe, endete. Neben einem alten, roten Lieferwagen kam der BMW zum Stehen, und nach einem kurzen Moment des Innehaltens grinste der Mann Abraxas vielsagend an. Der reckte sich und grinste zurück.

„Na gut, sieht so aus, als wäre meine Flucht geglückt.“

7

Der Kriminaltechniker verschloss den Beutel, in der sich die Finger- und Fußnägel befanden, die der Täter seinem Opfer während der Folterung herausgerissen hatte.

Er wartete, bis Kriminalhauptkommissar Witzbold das Telefonat beendete, das über den Festanschluss des Getöteten gerade hereingekommen war.

Witzbold machte sich eine Notiz und blickte dann sein Gegenüber fragend an.

„Wir sind hier fertig und schaffen den Mann jetzt in die Gerichtsmedizin. Den abgeschnittenen Zeigefinger haben wir allerdings nirgends finden können. Vielleicht hat ihn der Täter als Trophäe mitgenommen.“

Witzbold nickte nachdenklich und betrat die Terrasse. Die beiden Kriminaltechniker hoben die Leiche des etwa Sechzigjährigen, der immer noch im Garten neben seinem Swimmingpool lag, auf die Bahre.

Witzbold wendete sich ab und marschierte zum Ausgang – auch für ihn gab es hier zunächst nichts mehr zu tun.

„Herr Witzbold, können Sie schon Näheres sagen?“

Die junge Reporterin der hiesigen Lokalzeitung versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, als der Kripo­beamte, der gerade dabei war, in seinen Wagen einzusteigen, sich ihr zuwandte. Auch ihr Kollege war am Feixen.

Witzbold war längst an die Wirkung gewöhnt, die sein Name auf andere ausübte. Schon in der Schule hatte man gelacht, wenn sein Name, Olav Witzbold, bei der Anwesenheitsfeststellung aufgerufen wurde. Er hatte sich angewöhnt mitzulachen – jeden Morgen –, so lange, bis sich seine Mitschüler an seinen ungewöhnlichen Namen gewöhnt und dieser seine Attraktion verloren hatte. Doch es gab Schlimmeres – zum Beispiel, wenn man Annegret Schweinebraten hieß. Die schöne Kollegin war ihm vor zwei Jahren über den Weg gelaufen. Inzwischen waren sie seit über einem Jahr verheiratet. Alle möglichen Kombinationen ihrer Namen waren sie durchgegangen: Schweinebraten-Witzbold, Witzbold-Schweinebraten oder doch nur Witzbold oder Schweinebraten?

Olav Schweinebraten – damit hatte er sich überhaupt nicht anfreunden können. Gott sei Dank war seine Angetraute unkompliziert und hieß nun ebenfalls Witzbold.

Er musterte die Reporterin einen Moment, bevor er antwortete.

„Zu den laufenden Ermittlungen kann ich Ihnen derzeit nichts sagen. Wir müssen noch die gerichtsmedizinischen Untersuchungen und Auswertungen abwarten.“

„Verstehe. Können Sie uns denn wenigstens den Namen des Getöteten nennen, und gibt es bereits einen Verdacht hinsichtlich eines Täters?“

Olav antwortete zögernd: „Bei dem Getöteten handelt es sich um den sechzigjährigen, alleinstehenden Walter Zeller, der hier aus Wolfhagen stammt und vermutlich auch hier in seinem Haus getötet wurde.“

Er nickte dem Reporterduo knapp zu und bestieg seinen Wagen.

8

Heribert Falk öffnete langsam die Augen und reckte sich. Das Fiepen in seinen Ohren war leise – noch. Eine Hand legte sich auf seinen Bauch.

Anita lächelte verschlafen, drängte sich an ihn und nuschelte, während ihre Hand unter die Bettdecke glitt: „Herr Kommissar, ich glaube, ich muss von Ihnen noch mal ganz genau durchsucht werden.“

Er grinste. „Hauptkommissar, wenn ich bitten darf.“

Sie lachte und gab ihm einen Kuss. „Na gut, Herr Hauptkommissar.“

Die dunklen Locken hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Anitas ganze Erscheinung, wie sie lächelte, wie sie ihren Kopf beim Lachen nach hinten warf und dabei ihre großen Zähne entblößte, die Grübchen in ihren Wangen – das alles übte einen ungemeinen Reiz auf ihn aus.

Er zog sie an sich. „Aber zuerst muss ich dich verhaften.“

„Au ja – und verhören und anschließend bestrafen.“ Sie kicherte.

Er spürte ihre Rundungen und ihre geschickten Hände, die zaubern konnten. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag. Sein Verlangen war unbezwingbar, als sein Smartphone summte.

Verdammt, wer zum Teufel musste ausgerechnet jetzt stören? Das heiße Pochen in seinen Lenden war fast schmerzhaft. Doch es war gar nicht sein Handy, das summte. Er sah, wie Anita nach etwas tastete, das kurz darauf im Sektkübel neben dem Bett landete. Er hörte noch das leise Platschen, und augenblicklich verstummte das Summen.

Am nächsten Tag verstaute Heribert seine Reisetaschen im Kofferraum seines CLK’s. Die Zeit hier war wie im Flug vergangen. Das mit Anita war, was es gewesen war – Sex. Sie hatten sich wie zwei gute Freunde verabschiedet – Anita war glücklich verheiratet.

Den ärztlichen Befund verstaute er in der Ablage. Und los! Heribert startete seinen Wagen und freute sich auf sein Zuhause in Markkleeberg bei Leipzig. Er war inzwischen ein Wossi, ein Wessi, der sich vor fast zehn Jahren für den Osten Deutschlands entschieden hatte – für Leipzig. Das heißt, zunächst war er zum Landes­kriminalamt nach Dresden versetzt worden. Er hätte sich zwar dagegen wehren können, doch er hatte dieses Angebot begrüßt. Allerdings war ihm Dresden unwirklich, irgendwie tot vorgekommen, und er hatte sich nicht einleben können. Wann immer es die Zeit erlaubt hatte, war er seinem Einzimmerappartement entflohen und nach Leipzig gefahren. Leipzig, die lang unterschätzte Stadt, die immer schöner wurde. Heribert liebte die vielen kleinen Cafés und Pâtisserien – manche mit eigener Kaffeerösterei, und gelegentlich versackte er am Wochenende in einer der gemütlichen Kneipen auf der „Karli“, der Karl-Liebknecht-Straße – eine der Amüsiermeilen Leipzigs. Heribert grinste in sich hinein: Sachsen, wo die hübschen Mädchen auf den Bäumen wachsen – das wusste doch jeder.

Später hatte er direkt in Leipzig gearbeitet. Man hatte ihn versetzt, auf eigenen Wunsch. Er bewohnte ein gemütliches Historiendenkmal aus der Kaiserzeit – eine sanierte Dreizimmeraltbauwohnung in Markkleeberg, mit Seeblick von der Terrasse. Alles noch günstig erworben – damals, doch diese Zeiten waren vorbei. Markkleeberg gehörte genau genommen nicht zu Leipzig und wehrte sich bis heute entschieden gegen die Eingemeindungsbestrebungen. Heribert war es egal, er fühlte sich dort sauwohl – eingemeindet oder nicht, für ihn war Markkleeberg Leipzig, doch das behielt er für sich.

Sein Smartphone summte.

„Na endlich“, meldete sich eine männliche Stimme, „Mensch, Berti, ich versuche dich schon seit drei Tagen zu erreichen.“

„Botho! Was gibt’s denn so Dringendes?“

„Ich brauche deine Hilfe. Etwas sehr Unangenehmes.“

„Aha?“

„Ja, vor drei Tagen ist mein Steuerberater bei sich zu Hause ermordet aufgefunden worden. Ich war mit ihm in meinem Kasseler Geschäft verabredet gewesen. Als er nicht kam und ich ihn auch auf dem Handy nicht erreichen konnte, habe ich bei ihm zu Hause auf dem Festnetz angerufen. Da hatte ich plötzlich einen Kripobeamten am Telefon!“

„Botho, ich bin nicht mehr im Dienst, das weißt du doch.“

„Ja, ich weiß. Ich will dich als Privatschnüffler engagieren – vielleicht auch zu meinem Schutz.“

„Schutz – was, wieso Schutz?“

„Jemand verfolgt mich, und das nachdem mein Steuerberater ermordet wurde, das ist doch irgendwie merkwürdig, findest du nicht?“

„Nicht unbedingt.“

„Bitte, Berti, tu deinem alten Freund den Gefallen!“Heribert seufzte. „Wo bist du denn?“

„Ich habe in meinem Leipziger Geschäft nach dem Rechten gesehen und komme gerade wieder in Kassel an.“

„Und ich befinde mich auf dem Rückweg von meiner Reha nach Leipzig und bin nicht so weit weg von Kassel. „Bist du im Geschäft?“

„Nein, zu Hause.“

„Okay, bin gleich da.“

In Bothos Stimme war die Erleichterung deutlich zu hören.

„Danke!“

Es waren fast immer dieselben Erinnerungen, die aufblitzten. Hier war er geboren und aufgewachsen.

Später, nach dem Gymnasium und seiner Zeit in Frankfurt, war er wieder hierher zur Kripo nach Kassel versetzt worden – für zwei Jahre.

Heribert blickte in den Rückspiegel – ein Porsche fuhr ihm dicht auf, drängelte eine Weile und hupte dann. Früher hätte es ihn geärgert, doch er blieb ruhig, setzte den Blinker und bog ab, auf die Wilhelmshöher Allee.

Sofort eröffnete sich der weite Blick auf Kassels Wahrzeichen, den Herkules und die dazugehörigen künstlichen, treppenartig angelegten Kaskaden, die Heribert aus dieser Entfernung nur erahnen konnte und die sich nach unten vor dem Schloss Wilhelmshöhe in ein großes Auffangbecken stürzten. Die kupferne Skulptur, die den griechischen Halbgott Herakles darstellte und über und über mit Grünspan überzogen war, stand auf einer Pyramide, die wiederum auf einem Oktogon stand.

Das gesamte Bauwerk ragte über siebzig Meter in die Höhe. Es war beeindruckend – immer wieder –, besonders bei Sonnenschein, wenn das Bauwerk sich aus dem üppigen Grün des Parks erhob, so wie jetzt. Doch wenn die Figur des Herakles – dunkel wie ein Schatten – durch leichte Nebelschwaden waberte, fühlte sich Heribert in die Welt griechischer Mythen versetzt, die von Helden und Göttern flüsterte. Wieder bog er ab, auf das Königstor, jetzt musste er noch einmal nach rechts, dann war sein Ziel erreicht.

Während er nach einem Parkplatz Ausschau hielt, dachte er plötzlich an Anne, mit der er fast sieben Jahre liiert gewesen war. Einmal, noch in ihrer Kennenlernzeit, waren sie, nachdem alle Kneipen bereits dichtgemacht hatten, die Herkuleskaskaden hinaufgelaufen – sexuell aufgeladen und ziemlich betrunken. Der Sonnenaufgang hatte das Schloss Wilhelmshöhe in oranges Licht getauft. Kein Verkehr hatte sich unten auf den Straßen geregt. Alles war still und friedlich gewesen, eben ein anbrechender Tag. Anne hatte ihn von hinten umarmt und eine ganze Weile mit ihm auf die schlafende Stadt geblickt – da hatte er sie „gefragt“. Etwas später waren sie zusammengezogen. Doch das alles schien eine Ewigkeit her zu sein. Heribert war nach Dresden versetzt worden, und Anne hatte nicht mitgewollt.

Er stellte den Motor ab und blickte sich zufrieden um. Sein Wagen stand direkt vor der Altbauvilla seines Freundes Botho Lange – Glück musste man haben, bei der Knappheit von Parkplätzen.

Der Türöffner summte. Ayumi stand oben am Treppenaufgang. Sie sah blass aus und deutete höflich eine Verbeugung an. Dann machte sie eine einladende Geste, dass er ihr folgen sollte. „Danke, dass du gekommen bist.“ Sie drehte sich nach ihm um und lächelte knapp.

Während Heribert ihr folgte, bewunderte er heimlich ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt. Sie trug ein kurzärmeliges T-Shirt und eine weite, lange Leinenhose – alles in Schwarz, so wie immer. Es betonte ihren blassen, feinen Teint.

Vor ein paar Jahren hatten sein Freund und Ayumi Jónsdóttir sich während der „dokumenta 14“, gleich am ersten Tag bei der Eröffnung, kennengelernt. Diese Veranstaltung war die weltweit berühmteste Kunstausstellung für zeitgenössische Kunst, die alle fünf Jahre in Kassel stattfand und ganze hundert Tage dauerte.

Botho hatte Heribert erzählt, dass Ayumi Isländerin, ihre Mutter allerdings Japanerin war. Er schwärmte von ihrer Intelligenz, von ihrer Zurückhaltung – einer Zurückhaltung, die seinen Jagdtrieb beflügelt hatte. Ihre Eigenwilligkeit und Selbstbestimmtheit reizten und forderten ihn immer wieder aufs Neue heraus.

 

Heribert hatte es nicht glauben können. Sein Schulfreund war doch ein bequemer Typ, ein fauler Sack und vor seinem Zusammentreffen mit Ayumi ausschließlich mit Frauen zusammen gewesen, die sich anzupassen pflegten. Nie musste er sich bemühen. Schließlich war der Tisch reichlich gedeckt – Frauen machten es ihm leicht, diesem charmanten und verwöhnten, dabei nie ganz erwachsen gewordenen Einzelkind reicher Eltern.

Okay, Ayumi war also besonders, wenn nicht gar speziell, und dieser Umstand übte auch auf Heribert einen gewissen Reiz aus.

Wenn sie sprach – gepflegt mit nordischem Akzent –, gestikulierte sie lebhaft mit den Händen. Dann bekamen ihre grünen Augen so einen Schimmer und ruhten konzentriert auf ihrem Gegenüber, wenn sie zuhörte.

Das Einzige, das Ayumis asiatische Wurzeln offenbarte, waren ihre hohen Wangenknochen und ihr glattes rabenschwarzes Haar, das sie kurz trug – und natürlich ihr Vorname und die Angewohnheit, niemandem die Hand zu geben. Stattdessen deutete sie zur Begrüßung oder beim Abschied traditionell japanisch lediglich eine höfliche Verbeugung an.

Heribert unterdrückte sein Faible für sie – schließlich war sie die Frau seines Freundes.

Unter dem Pseudonym „Fin Wala“ veröffentlichte Ayumi Krimis, die in Island spielten, inzwischen sogar übersetzt wurden und sich auch in Deutschland gut verkauften. Ziemlich harte und verstörende Brocken, wie Heribert fand. Wie konnte so ein zartes Wesen derartige Schreckensszenarien entwerfen? Sie hatte über Heriberts konsternierten Gesichtsausdruck gelacht.

„So zart bin ich gar nicht, und sag mir jetzt bitte nicht, dass du noch nie Gewaltfantasien hattest – gerade in deinem Job.“

„Schon“, hatte Heribert eingeräumt, „besonders von Menschen, die es verdient hätten. Doch wenn man dich anschaut, traut man dir solche Fantasien einfach nicht zu.“

Sie hatte mokant gelächelt und sich Tee nachgeschenkt.

„Glaub mir, es ist für mich ein reines Vergnügen, diese Tasse Tee zu genießen, während ich“, sie hatte eine ausladende Geste gemacht, „inspiriert durch meine Umgebung, hier oben“, sie hatte auf ihren Kopf gedeutet, „meine Geschichte für den nächsten Roman weiterspinne und dabei nach Belieben Morde begehe. Es macht Spaß, probier‘s aus.“ Genüsslich hatte sie einen Schluck von ihrem Tee genommen und ihn vielsagend angeschaut.

Heribert hatte höflich gelächelt und ihr seine Eindrücke aus der Gerichtsmedizin erspart – all die Körper von Menschen, die aufgrund von massiver Gewalteinwirkung und Brutalität zu Tode gekommen waren, von den Geruchserlebnissen ganz zu schweigen. Ihm drehte sich bereits der Magen um, wenn er nur daran dachte.

Er musste plötzlich grinsen, während er Ayumi folgte. Ausgerechnet Botho, der Kunstbanause, hatte sich diesen besonderen „Leckerbissen“ an einem Ort geangelt, wo ihn normalerweise keine zehn Pferde hinbekamen. Hundert Tage „dokumenta“ und noch mal weitere hundert Tage, und die beiden hatten in Reykjavik Ringe getauscht. Tja, Liebe auf den ersten Blick, das schien es tatsächlich zu geben.

Irritiert registrierte Heribert das leicht aufsteigende Gefühl von Neid und unterdrückte es sofort, während er sich schämte und plötzlich die Stimme von seinem Schulfreund aus dessen Arbeitszimmer hörte. Botho beendete offensichtlich gerade ein Telefonat. Die Tür wurde geöffnet.

„Da bist du ja, alter Freund.“

Botho klopfte Heribert auf die Schulter und schob ihn ins Arbeitszimmer.

Ayumi lächelte. „Tee?“

Heribert nickte. „Sehr gern, danke.“

Botho setzte sich und legte die Füße auf seinem Schreibtisch ab. Heribert platzierte sich ihm gegenüber und musterte ihn. Es war nicht zu übersehen, wie angespannt sein Freund war. Er sah merkwürdig verbraucht, fast alt aus. Vielleicht dachte Botho dasselbe auch von ihm – sie beide waren gleichaltrig, fünfundvierzig Jahre.

Botho holte zwei Gläser hervor und schenkte sich aus einer bauchigen Flasche Branntwein ein.

Heribert lehnte ab, als er auch ihm einschenken wollte. „Ich muss noch fahren. Also, leg los.“

Botho kippte das Glas hinunter und schenkte sich umgehend nach.

„Vor drei Tagen ... ich hatte gerade den Wagen geparkt und bin noch ein Stück gelaufen. Es war schon spät.“

„Wie spät?“

Heribert griff nach dem gelben Block auf dem Schreibtisch und machte sich Notizen.

„Das weiß ich nicht genau. Ich denke, vielleicht so gegen Mitternacht.“

„Du warst genau um ein Uhr zehn zu Hause“, meldete sich Ayumi und servierte den Tee. Dann setzte sie sich auf das Sofa, das am Fenster stand, und fuhr fort: „Das weiß ich deshalb so genau, weil ich noch an meinem Roman gearbeitet hatte und gerade dabei war, den Rechner herunterzufahren.“

„Also, ich hatte schon vorher das Gefühl, dass jemand meinem Wagen folgt“, erklärte Botho. „Dann dachte ich mir, dass es vielleicht nur Einbildung sei. Ich parkte, stieg aus, und als ich Schritte hinter mir hörte, blieb ich stehen. Es war plötzlich ganz still. Ich blickte mich um, niemand schien da zu sein. Ich muss sagen, das war irgendwie unheimlich. Ich fühlte mich beobachtet. Als ich weiterging, verfolgten mich auch die Schritte wieder. Ich ging immer schneller, und die Schritte beschleunigten sich ebenfalls. Dann war ich an unserer Haustür. Ich öffnete sie und verschloss sie sofort, machte aber kein Licht und beobachtete den Gehweg. Eine dunkle Gestalt – vermutlich ein Mann – tauchte nach einer Weile auf, blieb kurz stehen und ging dann weiter ... zügig weiter.“

Heribert blickte von seinem Schreibblock auf. „Okay, das klingt jetzt nicht so verdächtig oder irgendwie gefährlich.“

„Das dachte ich auch“, erwiderte Botho, „doch dann klingelte immer wieder das Telefon. Wenn wir das Gespräch entgegennahmen, war niemand dran.“

„Wie sah denn dein Verfolger aus?“

„Keine Ahnung! Es war ja dunkel. Allerdings schien er zu rauchen, denn ich sah die Rauchfahne.“

Heribert nickte nachdenklich. „Wenn du jemandem etwas antun wolltest, würdest du dann rauchen? Das klingt mir zu gemütlich.“

Botho zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht wollte dir jemand Angst einjagen“, meldete sich Ayumi, „gesetzt den Fall, du wurdest tatsächlich verfolgt.“ Und nach einer Pause fuhr sie fort: „Ich konnte diese Person etwas besser sehen.“

Botho blickte sie erstaunt an.

„Ja! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich gehört habe, und schaute dann aus dem Fenster. Doch du warst schon im Haus, aber ich habe die Gestalt gesehen, deutlich, als sie unter der Laterne stand.“

Heribert stutzte. „Unter der Laterne – wieso stand sie unter der Laterne?“

„Die Person hat sich einen Zigarillo angezündet, keine Zigarette.“

„Wieso angezündet? Botho sagt doch, dass die Person bereits am Rauchen war.“

„Das stimmt vermutlich auch, denn ich sah, wie sie etwas wegwarf. Doch die Person zündete sich erneut einen Zigarillo an – ich sah es deutlich, als das Feuerzeug auf­flammte. Es war eins von diesen Dingern – Gasfeuerzeuge oder so, die eine riesige Flamme erzeugen.“

Sie stand auf, lehnte sich an die Wand, direkt gegenüber dem Schreibtisch, und blickte auf die Männer hinab, während sie ihre Arme verschränkte.

„Die Person war männlich – etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß.“ Sie stutzte. „Irgendetwas war allerdings merkwürdig – vielleicht sein Gang, ich weiß es nicht mehr genau, denn ich habe dem Ganzen ja keinerlei Bedeutung beigemessen.“

Heribert nickte und dachte nach, während er einen Schluck von seinem Tee nahm.

„Ist dir sonst noch was aufgefallen?“, wollte er von Ayumi wissen.

Ayumai dachte nach. „Er trug einen Trenchcoat.“

„Farbe?“

Ayumi zuckte mit den Schultern. „Wie sehen Trench­coats aus – auf jeden Fall war es kein Beige, vielleicht Schwarz, vielleicht Dunkelblau, das konnte ich nicht genau sehen. Und er trug ein rotes Halstuch.“

„Und weiter? Haarfarbe, Alter, andere Auffälligkeiten?“, wollte Heribert wissen.