Mörderischer Galopp

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Aus der Reihe: Vera Roth #1
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2



Am nächsten Morgen machte ich Nine mit ihrem neuen Zuhause bekannt. ‚Nine’ passte gut zu ihr, wie ich fand, vor allem, wenn sie, wie gerade jetzt, am langen Strick hinter mir her trottete. Manchmal blieb sie abrupt stehen, streckte den Kopf in die Höhe und schaute sich mit großen Augen um. Besonders interessierte sie sich für die Pferdäpfel, die am Putzplatz vor der Sattelkammer lagen. Sie beschnupperte sie ausführlich. Auf der Stallgasse standen drei Mädchen in Reithosen, die sich aufgeregt unterhielten. Im Vorbeigehen hatte ich den Eindruck, dass sie über uns sprachen.



„Hast du die Neue schon gesehen?“



„Nein! Wo soll die denn stehen?“



„In Windspells alter Box.“



„Oh – ausgerechnet – aber wir sind ja nicht abergläubisch.“



„Meinst du etwa, dass es an der Box gelegen hat?“



In diesem Augenblick nahmen die drei uns wahr und ihr Gespräch stockte. Ich schob Nines Boxentür auf und ließ die Stute hinein.



„Hallo – willkommen auf dem Leierhof!“



Eines der Mädchen streckte mir die Hand hin: „Ich bin Carmen“, sagte sie. „Wir kennen uns schon – ich habe Sie vor zwei Tagen herumgeführt!“



Die Begrüßung wurde von einem lauten Grunzen unterbrochen. Nine hatte sich ins frische Stroh geworfen und wälzte sich genüsslich. Beim Aufstehen schüttelte sie sich schnaubend. Mähne und Schweif steckten voller Strohhalme. Carmen trat einen Schritt vor und gab Nine einen Klaps auf die Schulter. Ein Ruck ging durch die Stute, sie ließ das Weiße in ihren Augen aufblitzen, fletschte die Zähne und reckte den Kopf abwehrbereit nach vorne. Geistesgegenwärtig sprang Carmen zurück und hätte beinah ihre Freundin umgeworfen, wenn nicht die Dritte des Kleeblatts: „Vorsicht, Mascha!“ gerufen hätte.



„Ach du meine Güte, die sieht so aus, als ob sie zu allem fähig ist.“



„Scheint ja ein heißer Ofen zu sein.“ Und zu der Dritten gewandt, sagte Mascha: „Penny – wir müssen die Pferde von der Koppel holen.“



„Was ist denn mit Ihnen los“, sagte Carmen, die neben mir stehen geblieben war. „Sie sehen ja ganz blass aus?“



Ich war ziemlich erschrocken – so wild und aggressiv hatte ich mein Pferd noch nie gesehen.



„Es war meine Schuld“, beruhigte mich Carmen. „Das Pferd kennt mich ja nicht – vollkommen normal so eine Reaktion. Wie hieß sie doch gleich?“



„Nine-Days-Wonder“, sagte ich. Der ganze Name war mir einfach so herausgerutscht, das freundliche „Nine“ hatte mir einfach nicht über die Lippen gehen wollen.



In diesem Augenblick klingelte mein Mobiltelefon. Es war Gerson und über seine Stimmung gab es keinen Zweifel.



„Wo steckst du eigentlich den ganzen Tag? – Ich habe versucht dich anzurufen – hörst du eigentlich noch deine Mailbox ab?“



Dazu hatte ich keine Zeit gehabt. Gerson fühlte sich vernachlässigt. „Ich wollte mit dir heute Abend ausgehen“, sagte er.



„Morgen gerne“, sagte ich, um Schadensbegrenzung bemüht – „Für heute hab ich erst mal genug! Es war doch Nines Umzugstag – sie ist beim Händler nicht in den Hänger gegangen und ein paar Mal von der Rampe gesprungen, deshalb hat alles länger gedauert. – Hörst du mir noch zu?“



Am anderen Ende der Leitung war es merkwürdig still. Das kannte ich nicht von ihm, doch ich ahnte, dass die Funkstille etwas mit Nine zu tun hatte. Sie gehörte mir noch keine Woche und schon jetzt fand er, dass ich zu viel Zeit mit der Stute verbrachte, Zeit, die ich besser ihm gewidmet hätte.



„Übrigens – ich koche gerade Spaghetti mit Tomatensauce“, sagte Gerson, und es klang wie eine Schönwettermeldung nach einem grauen Regentag.



„Ich mache einen Salat dazu. In einer halben Stunde bin ich da“, sagte ich erleichtert.





Ich nahm mir vor, an diesem Abend das Thema „Nines Umzug auf den Leierhof“ so gut es ging zu vermeiden, auch wenn es mir schwer fiel. Aber dann fing Gerson an, von Pferden zu sprechen. Nicht direkt natürlich, wie immer nahm er den Umweg über seine Kamera. Er erzählte von den Photos, die er in der vergangenen Woche geschossen hatte und landete nach kurzer Zeit bei seinem Lieblingsthema, der alten Leica Baujahr 1939.



„Ich muss sie dir mal zeigen, du musst sie mal in der Hand halten – schon allein das Lederetui ist sehenswert.“



Er hatte die Kamera in einem Secondhandladen entdeckt. Es war genau das gleiche Modell, mit dem mich mein Großvater als Kind geknipst hatte.



„Ich habe die Bilder schon entwickelt, du musst sie dir unbedingt mal anschauen!“



An anderen Tagen betrachtete ich mir seine Photos gern, aber heute fielen mir fast die Augen zu.



„Hat das nicht Zeit bis morgen?“, fragte ich, doch er hielt mir die Abzüge so dicht unter die Nase, dass ich einen Blick darauf werfen musste.



„Was für ein tolles Pferd!“ Ich war auf einmal hellwach. „Der geht sicher im ganz großen Sport? Ein Traumphoto! Wo hast du das geknipst?“



„Kennst du das Pferd etwa nicht? Das ist doch Windspell, der berühmte Dressurhengst, der letztes Jahr den Grand Prix auf dem Mannheimer Maimarkt gewonnen hat – ich habe ihn dort auf dem Turnier photographiert. Er stand übrigens auf dem Leierhof“, fügte Gerson hinzu.



„Ja – und?“ Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte.



„Vera! – Das pfeifen die Spatzen doch von den Dächern – wahrscheinlich steht es schon in der Zeitung – Windspell ist vor ein paar Tagen eingegangen. Kolik, Darmverschluss, sagt man, das Übliche, zu spät in die Klinik – na ja, vielleicht war es auch was anderes.“



„Wie schrecklich! Gerson! Dann war Windspell am Ende das Pferd mit der Kolik – ich hatte es völlig vergessen – er ist also doch gestorben – ich habe so etwas geahnt! Kein Wunder, dass sie für Nine so schnell eine Box frei hatten“, sagte ich und ich merkte, wie sich meine Freude über Nines Umzug in Luft auflöste. Gerson schenkte mir ein Glas Rotwein ein. „Du hast Windspell sterben sehen?“ sagte er voller Mitgefühl.



Ich fühlte mich müde und erschlagen und ging früh zu Bett. Aber ich schlief schlecht in dieser Nacht und träumte wirres Zeug. Nicht von dem jämmerlich eingegangenen Windspell, es ging natürlich um Nine. Sie war gewachsen, zuerst die Ohren, dann die Beine, ich würde mir zum Aufsitzen eine Trittleiter ausleihen müssen, dachte ich besorgt. Zum Schluss schoss ihr Widerrist derartig in die Höhe, dass mein alter Sattel nicht mehr passte. Nine verdrehte die Augen, bleckte die Zähne und wieherte mir zu: „Ich muss wachsen, und du musst abnehmen!“ Merkwürdigerweise konnte ich sie problemlos verstehen, doch als ich sie anflehte, endlich mit dem Wachsen aufzuhören, stellte sie sich taub. Sie tänzelte aufgeregt in ihrer Box herum und ich bekam Angst, dass sie sich den Kopf anstoßen und in Panik geraten würde. Es fehlte nicht viel und sie würde auf der Hinterhand kehrtmachen, die Stallgasse hinunter galoppieren, ausrutschen, und sich die Beine brechen. Doch im letzten Moment packte mich jemand an der Schulter und das Pferd verschwand.



„Danke, Gerson“, sagte ich schlaftrunken. „Du hast uns sehr geholfen“, drehte mich um und schlief traumlos bis zum Morgen.





Der erste Gedanke, der mir beim Aufwachen durch den Kopf ging, galt Nine. Ob sie der Pfleger auch ordentlich gefüttert hatte? Ich hatte nur kurz mit dem Mann gesprochen und mir war sein harter russischer Akzent aufgefallen. Aber es war nicht nur seine Aussprache, die mich verstörte. Er war von hünenhafter Gestalt und sein schwarzer Vollbart verdeckte seine Züge fast vollständig, was ihm etwas Verschlagenes gab. Nur seine eisblauen Augen stachen wie zwei kalte Sterne aus dem Gesicht hervor. Und wie er das leidende Pferd mit seinen Fußtritten traktiert hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Plötzlich fiel mir ein, dass ich gestern Abend vergessen hatte, nach der Tränke zu sehen – es kam oft genug vor, dass die Pferde Stroh hineinstopften, dann waren die Tiere die ganze Nacht ohne Wasser. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Wassermangel ein Grund für Koliken sein konnte, wenn Nine anfällig für Bauchschmerzen wäre, dann hätte ich allen Grund zur Besorgnis.



Gerson schlief noch, als ich mich anzog. Unter der dünnen Decke bildeten sich die Formen seines Körpers ab. Er lag mit angezogenen Beinen auf der Seite wie ein Kind, hatte die Finger zu einer Faust geballt und den Daumen über den Mund gelegt. Das Bild rührte mich, aber ich riss mich von diesem Anblick los – auf Zehenspitzen schlich ich in die Küche. Normalerweise frühstückten wir samstags zusammen. Frische Brötchen, Feigenmarmelade, Milchkaffee und Spiegeleier. Gerson holte die Zeitung aus dem Briefkasten, ich schnappte mir das Feuilleton, Gerson den Politikteil und wir lasen uns gegenseitig die Schlagzeilen vor. Doch dazu war heute Morgen keine Zeit.



Als Gerson noch im Pyjama in die Küche kam und sich verdutzt die Augen rieb, stellte ich gerade meine Tasse in die Spülmaschine. „Ich bin schon seit einer Ewigkeit wach“, sagte ich. „Ich bin bestimmt wieder zurück, wenn du mit frühstücken fertig bist!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, packte ich meine Reitstiefel und verließ das Haus. Ich hatte das dringende Bedürfnis, nach Nine zu sehen, schließlich hatte sie die erste Nacht in einer fremden Umgebung verbracht und wer weiß, was ihr da alles hatte zustoßen können.














3



Auf dem Leierhof traute ich meinen Augen kaum. Nines Stalltür war mit einem leuchtend gelben Kranz aus Löwenzahn geschmückt, davor stand ein Sack mit frischen Karotten, in dem ein Fähnchen mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen“ steckte. Nine stand kauend vor einem riesigen Haufen duftenden Heus und lies es sich schmecken. Von mir nahm sie keine Notiz, auch dann nicht, als ich die Schiebetür öffnete und die Stute von oben bis unten musterte.

 



„Stockmaß einssiebzig?“



Ich sah mich um.



„ Hi!“



Vor mir stand Carmen in Reitstiefeln, engen Reithosen und einem kurzen T-Shirt, mit der Aufschrift „Leierhof“. Ihr blondes kurzgeschnittenes Haar und ihre schlanke, aber kräftige Figur wirkten knabenhaft, aber ihre Oberweite erinnerte mich an Marilyn Monroe in „Misfits“, wie sie hinter Clark Gable und den wilden Mustangs her war.



„Mit Ihrer Stute habe ich mich inzwischen bekannt gemacht – es scheint ihr bei uns zu gefallen.“



„Ein Meter achtundsechzig“, sagte ich erleichtert, „sie ist kein bisschen gewachsen.“



Carmen, der die innere Logik meiner nächtlichen Gedankengänge verborgen blieb, sah mich erstaunt an. Ich entschuldigte mich bei ihr, dass ich mich gestern nicht richtig vorgestellt hatte.



„Ich bin Vera Roth und das ist Nine-Days-Wonder

,

 oder einfach Nine. Je nachdem.“



„Doch nicht etwa eine Nerwa-Tochter?“



„Genau.“



„Sie hatten bestimmt schon Erfolge mit ihr?“



Ich tätschelte Nine, die mir einen schrägen Blick zuwarf, den Hals und tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte. Wahrscheinlich war es gar nicht so sehr ihre Frage, als das „Sie“. Warum duzte mich das Mädchen eigentlich nicht? Sah ich schon so alt aus, dass man mich siezen musste? Oder hatte ich mit meinem Uni-Job jetzt endgültig die Fronten gewechselt und gehörte zum Establishment? Ich siezte meine Chefin und ein paar ältere Respektspersonen, die ich an einer Hand abzählen konnte, aber auf dem Reitplatz gab es für mich kein „Oben“ und „Unten“. Uns verband doch alle die Liebe zu unseren Pferden, und das machte uns alle irgendwie gleich.



Aber wenn Carmen mich unbedingt siezen wollte, bitteschön – dann musste ich es auch tun.



„Und welches Pferd reiten Sie?“, fragte ich.



Carmens Stirn verdüsterte sich. Ihr Pflegepferd sei leider eingegangen. Woran wusste sie nicht, die Besitzerin habe mit ihr nicht darüber gesprochen. Sie, Carmen, sei eines Tages in den Stall gekommen und habe das Pferd nicht mehr vorgefunden.



„Das war schlimm“, sagte Carmen. „Aber jetzt kann ich eben wieder besser für die Schule lernen. Ich mache ja auch bald Abitur“, fügte sie hinzu und wollte offenbar noch mehr von sich erzählen, als wir unterbrochen wurden.



„Hallo, ich bin Liberty.“



„Ihr – ich meine dein – Name klingt amerikanisch, habe ich recht?“



Liberty lachte. „Oh, ja, ich komme aus Laramie, Wyoming. Myboy und ich sind schon seit zwei Jahren hier.“ Das Auffälligste an Liberty waren ihre stahlblauen Augen, die sie wie Pfeile auf mich richtete.



„Darf ich?“, fragte sie mit einem Blick auf Nine

.

 Ohne meine Antwort abzuwarten, hielt sie der Stute eine Rübe hin.



Plötzlich wirkte Liberty irgendwie abgelenkt. Ihr breites Grinsen verschwand und um ihren Mund zeigte sich ein bitterer Zug, der ihr etwas Strenges gab. „Ja, ich komme“, murmelte sie, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Richtung Koppeln.



Carmen verdrehte die Augen und atmete tief durch. „Wahrscheinlich hat Myboy gerufen!“ sagte sie mit einem ironischen Lächeln. „Liberty ist Tierschützerin.“



Sie hielt unsere Stallgenossin für nicht ganz dicht, das merkte ich deutlich – aber warum? Eigentlich fand ich sie ganz sympathisch in ihrem karierten Hemd und ihrem roten Halstuch. Ihre blonden, von grauen Strähnen durchzogenen, kinnlangen Haare, die ihr in Ponyfransen in die Stirn fielen, gaben ihr etwas Verwegenes. Sie schien sich mit Pferden auszukennen und viel Zeit auf dem Hof zu verbringen, das zeigte mir ihr sonnengegerbtes Gesicht.



„Ja“, sagte Carmen, „sie geht über Leichen, wenn sie glaubt, dass ein Pferd schlecht behandelt wird. Und sie kann mit Tieren sprechen – wenigstens behauptet sie es.“



„Was es nicht alles gibt.“ Ich schaute zerstreut auf die Uhr. Gerson war natürlich schon mit dem Frühstück fertig. Wenn ich jetzt nicht anfinge, zu satteln, würde ich nicht einmal mehr rechtzeitig zum Mittagessen kommen. Und Gerson hatte bestimmt nicht daran gedacht, einzukaufen, also musste ich auf dem Weg nach Hause noch beim Supermarkt vorbeifahren.



Doch Carmen wich mir nicht von der Seite. Sie zeigte mir die Sattelkammer und erklärte mir die wichtigsten Gebäude. Vom Putzplatz aus schaute man auf die Wohnung des Pferdepflegers Iwan. Der Reitlehrer wohnte nicht auf dem Hof, sagte Carmen, er benutzte dort nur ein Zimmer, um in der Mittagspause zu vespern.



Das Mädchen hatte sich mindestens schon eine Stunde lang mit mir beschäftigt, obwohl sie doch betont hatte, dass sie viel für die Schule lernen müsse und kaum Zeit mehr für den Reitstall habe. Carmen schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie sagte plötzlich: „Okay – ich habe noch etwas zu tun – wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich ruhig an mich!“



Erleichtert nickte ich. Endlich konnte ich mich in Ruhe meinem Pferd widmen. Doch gerade als ich Nine den Sattel aufgelegt hatte, sah ich mich von drei Reiterinnen umringt. Jede schwenkte ein Sektglas und auch mir wurde eines in die Hand gedrückt.



„Willkommen auf dem Leierhof!“ Eine nach der anderen gab mir die Hand und nannte ihren Namen, den ich sofort wieder vergaß. Ich merkte mir nur, dass sie schon seit Ewigkeiten ihre Pferde auf dem Leierhof stehen hatten, auf dem Hof schienen sie den Ton anzugeben. Ich schätzte die drei auf Mitte vierzig, vielleicht sogar ein bisschen älter, ihre Reitwesten verdeckten vorteilhaft die ersten Fettpolster um Oberschenkel und Hüften. Plötzlich knallte ein Sektkorken – Nine zuckte zusammen, sprang zur Seite und zerrte so stark an ihrem Strick, dass er zerriss. Mit dem leeren Sektglas in der einen Hand und der anderen an Nines Halfter versuchte ich mein Pferd zu beruhigen.



„Geben Sie her“, herrschte mich eine der Damen an. „So wird das nichts.“ Sie warf sich in die Brust, als ob sie eine ganze Abteilung Reitschüler zu kommandieren hätte. Ich kam mir vor wie eine Schauspielerin in einem fremden Stück, dessen Sprache ich nicht verstand und dessen Regeln ich nicht kannte.



„Kommen Sie doch später zu uns, wir sitzen unter der Pergola und stoßen schon einmal auf Sie an!“



Die drei drehten sich um und im Vorbeigehen hörte ich, wie eine von ihnen sagte: „Unerzogenes Tier – der Zicke würde ich`s zeigen.“



Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, auf welche Art und Weise ich dieses Kunststück hätte fertig bringen sollen. Meine Stute war immer noch völlig aus dem Häuschen. Sie blieb beim Aufsitzen nicht stehen und ich bekam den Fuß nur mit Mühe in den Steigbügel. Als ich schließlich im Sattel saß, drehte Nine einfach auf der Hinterhand um und tänzelte nervös auf den Pflastersteinen.



„Nehmen Sie die Gerte – energisch!“ Der Hinweis kam von einem großen schlanken Mann in Reitstiefeln, der gerade aus seinem Auto stieg. Es musste der Reitlehrer sein, dachte ich, aber zu mehr kam ich nicht. Der Hinweis mit der Gerte war bestimmt gut gemeint, aber in Nines Fall leider der falsche. Plötzlich ging alles sehr schnell. Wie von einer Bremse gestochen schoss Nine mit mir ab durchs Hoftor. Draußen am Parkplatz stand Carmen und winkte. Sichtlich beeindruckt von Nines Tempo rief sie mir zu:



„Wenn Sie eine Pferdepflegerin brauchen – ich helfe Ihnen gern!“ Sie hatte mich schon wieder gesiezt, es klang so förmlich, oder hatte sie vielleicht Mitleid mit mir? Der Schreck saß mir noch in den Gliedern.



„Ich komme darauf zurück!“, sagte ich. Als ich die Zügel lang ließ, fiel mir auf, dass Carmen immer noch auf dem Hof war, obwohl sie sich doch schon von mir verabschiedet hatte. Ihre Schularbeiten waren wohl doch nicht so dringend, wie sie vorgegeben hatte. Vielleicht hatte sie auf den Reitlehrer gewartet, dachte ich, denn als ich aus dem Hoftor ritt, sah ich die beiden lachend unter dem Nussbaum stehen.










4



Meine Chefin war Kettenraucherin, und in ihrem Dienstzimmer roch es wie in einer Räucherkammer. Auf dem weißen Resopalschreibtisch standen zwei überquellende Aschenbecher neben Aktenstapeln und Leitzordnern. Es gab keine grüne Büropflanze, keine Ferienpostkarten von Kollegen und keine Photos von Familienangehörigen oder Haustieren. An der Wand und den Schranktüren hing kein einziges Bild, wenn man von einem Kalender der Universität absah, der das Konterfei Max Webers zeigte. Nicht einmal der Bildschirmschoner ihres Computers zeigte etwas Eigenes. In den metallenen Bücherregalen standen noch mehr Aktenordner, aus der Unibibliothek entliehene Bücher und mehrere Jahrgänge einer soziologischen Zeitschrift. In dem Zimmer fehlte das Sofa, das allen ordentlichen Professoren zustand, außer ihrem ergonomisch perfekten Schreibtischsessel gab es nur noch einen einzigen Stuhl, den sie als Ablage für Zeitungen benutzte.



Die Soziologieprofessorin stand kurz vor ihrer Emeritierung und ich hatte mir eine freundliche, ältere Dame vorgestellt, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen betrieb, weil sie es nicht mehr nötig hatte, die eigene Karriere zu fördern. Doch Prof. Mäusler war das genaue Gegenteil einer altersweisen Gelehrten, sie wirkte auf mich überaus ehrgeizig und selbstgefällig. Alles an ihr war grau, das tadellos sitzende Schneiderkostüm und der melierte, akkurat geschnittene Pagenkopf, so grau wie die Mappen, in denen sie ihre Notizen und Kopien aufbewahrte. Sie begrüßte mich mit einem schmallippigen Grinsen und überreichte mir eine lange Aufgabenliste. Als sie mir die Hand gab, bemerkte ich den blutroten Nagellack auf den tadellos manikürten Fingernägeln, die so scharf wie Krallen eines Raubvogels wirkten und mich verunsicherten.



Ein Blick auf die Liste zeigte mir, dass ich ziemlich viel Arbeit vor mir hatte. Ich sollte ins Archiv nach Berlin fahren und Akten beschaffen, die sie für ihr großes Werk, eine historische Untersuchung über Adoptionen, benötigte. Ich hatte mich auf eine selbständige Tätigkeit gefreut, die meiner wissenschaftlichen Qualifikation entsprach, aber auf meine Fähigkeiten schien sie keinen Wert zu legen:



„Frau Roth, ich warne Sie, versuchen Sie nicht, eigene Thesen aufzustellen – beschaffen Sie mir die Papiere, die ich benötige und überlassen Sie die Theorie bitte mir“, sagte sie.



Für sie war ich also nichts weiter als eine bessere Hilfskraft – dazu hätte ich eigentlich nicht promovieren brauchen, dachte ich. Und was das Reisen anging – im Vorstellungsgespräch war davon nicht die Rede gewesen. Meine Enttäuschung verbarg ich so gut es ging. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass die Archivreisen ja erst der Anfang waren, bestimmt würde ich, wenn das Material erst einmal zusammen war, einen anderen Auftrag erhalten, der mich mehr forderte.



„Wann soll ich fahren?“



„Am besten schon gestern.“



Unser Gespräch war nach zehn Minuten beendet. Sie hatte mir nicht einmal einen Stuhl angeboten. Und das Dienstzimmer – sie hatte es mir nicht gezeigt. Der Gedanke an ein eigenes Zimmer im Institut hatte mir von Anfang an gefallen. Bisher hatte ich entweder zu Hause oder in der Bibliothek gearbeitet, weil ich mich im Doktorandenzimmer, wo immer ein oder zwei Kollegen ihre Computertastatur bearbeiteten, nicht richtig konzentrieren konnte. Möglicherweise war es noch nicht frei, versuchte ich mir einzureden, doch überzeugen konnte ich mich nicht.





„Stell’ dich nicht so an“, sagte Gerson abends am Küchentisch, „Sie ist die Projektleiterin. Und wenn sie sagt, du sollst erstmal in Akten wühlen, dann gibt es nichts anderes.“



Gerson spielte mal wieder seine Lieblingsrolle „Advocatus Diaboli“. Was nichts anderes bedeutete, als dass er mir in den Rücken fiel.



„Sie hätte mich wenigstens fragen können“, nörgelte ich, obwohl ich zugeben musste, dass er irgendwie Recht hatte.



„Ach du meine Güte“, sagte Gerson, „Fahr’ nach Berlin, mache im Archiv deine Augen auf und schalte deinen Verstand ein. Suche, was du finden sollst und wenn dir sonst noch was Interessantes unter die Finger kommt, musst du es ja nicht gleich herausposaunen. Als Wissenschaftlerin kannst du doch deine eigenen Projekte entwickeln – außerhalb der Dienstzeit natürlich. Und je früher du fertig wirst, desto früher bist du wieder hier und bei deiner Nine.“

 



Fast wäre ich ein bisschen rot geworden, denn Gerson hatte den Nagel auf den Kopf getroffen – der Grund, warum ich nicht nach Berlin fahren wollte, hieß Nine. Ja, so war es, ich machte mir Sorgen wegen Nine, aber das wollte ich Gerson gegenüber nicht zugeben. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass ich für die Reise nichts Sauberes mehr anzuziehen hatte – seit ungefähr einer Woche war ich buchstäblich nicht mehr aus meinen Reithosen herausgekommen und alltägliche Arbeiten wie Wäschewaschen waren liegengeblieben.



Schnell sagte ich:



„Apropos Nine – bevor ich abreise, muss ich unbedingt noch mal in den Stall. Und Sven anrufen, dass er schon mal einen Prosecco kaltstellt.“



„Wer ist eigentlich Sven?“





Wir hatten zusammen in Freiburg studiert, dieselben Vorlesungen besucht, waren zusammen in die Mensa und ins Kino gegangen und unsere Freunde hatten uns für ein Paar gehalten.



Obwohl Sven in Berlin lebte, hatten wir uns nicht aus den Augen verloren. Wenn ich in Berlin war, übernachtete ich bei ihm in Charlottenburg. Sven arbeitete halbtags an der Edition von Karl Mays Werken und schrieb einen editorischen Bericht über die Rezeption von Winnetou Bd.1. Um sein Budget aufzubessern, raste er als Fahrradkurier durch die Stadt und lieferte die verrücktesten Sachen von Haus zu Haus. Fleischfressende Pflanzen, Hormontabletten oder Blutegel. Sogar eine Vogelspinne hatte er schon mal von Charlottenburg nach Friedrichshain gebracht. Sven kannte sich in der Stadt genau so gut aus wie in der Historikerzunft und wusste immer den neuesten Klatsch aus der Archivszene zu berichten.





Mein Zug fuhr pünktlich um 7 Uhr am Heidelberger Hauptbahnhof ab. Die ganze Bahnfahrt über spielte in meinem Kopf ein MP3-Player, der auf „Nine“ eingestellt war. Ich konnte ihn einfach nicht abstellen, in immer neuen Schleifen kam das Endlosband auf das Thema zurück. Carmen hatte sich angeboten, sich um Nine zu kümmern – aber würde sie mit der Stute zurecht kommen? Ich kannte das Mädchen ja überhaupt nicht – war sie wirklich so kompetent, wie sie vorgab? Aber andererseits – was hätte ich sonst tun können? Wie ich es auch drehte und wendete, mir blieb nur eines übrig – ich musste Carmen vertrauen. Es würde schon alles gut gehen, dachte ich.





Am ersten Tag wühlte ich mich durch einen Berg Geburtsurkunden von Berliner Kindern. Die Forscher saßen an langen, altmodischen Bänken, die in Zweierreihen hintereinander aufgestellt waren. Auf den Pulten lagen Stapel von Akten. Blatt für Blatt wurde in die Hand genommen, mit den Augen abgetastet und zur Seite gelegt. Hin und wieder steckten sie einen schwarzen „Reiter“ zwischen die vergilbten Blätter und notierten sich die Paginierung für den Kopierauftrag. Alle Leute arbeiteten konzentriert und schnell, die Luft war staubig und verbraucht. Niemand hob den Blick über die Aktenberge, niemand sprach, nicht einmal ein Wispern war zu hören. Es war, als laufe die Zeit rückwärts. Nach getaner Arbeit verließen die meisten grußlos den Raum, so als wollten sie die Spuren der Vergangenheit so schnell wie möglich von sich abschütteln.



Wie aus einer anderen Welt hörte ich plötzlich die Melodie meines Handys. Wieder mal vergessen abzustellen! Blicke so scharf wie Pfeilspitzen trafen mich von allen Seiten, aber es waren ja keine echten und Blicke können eben doch nicht töten. Ich spürte eine angenehme Erregung und erwischte mich bei dem Gedanken, es sei der Kollege mit der gestylten Igelfrisur, der mir vorhin so aufmunternd zugelächelt hatte. Schnell stand ich auf und verließ den Saal. Auf dem Flur drückte ich die grüne Taste und hielt mir den Apparat ans Ohr. Natürlich war er es nicht – woher sollte er auch meine Handynummer haben? Alles, was ich hörte, war Pferdegewieher, nichts weiter. Auf einmal war die Leitung unterbrochen. Ich ging zurück in den Lesesaal, um meine Akten wegzuräumen und um neues Material für morgen zu bestellen. Dann machte ich mich auf den Weg zu Sven. Unterwegs versuchte ich, Gerson zu erreichen. Vielleicht konnte er sich auf das Pferdegewieher in der Telefonleitung einen Reim machen. Aber ich erreichte nur die Mail Box. Wenn er unterwegs auf Phototour war, stellte er sein Handy ab.



„Ich ha