Mörderische Liebe

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Aus der Reihe: Vera Roth #2
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8

In der ersten Woche trafen wir uns drei Mal. Luis gab mir viele gute Ratschläge. „Fango darf keinen Zug bekommen.“ Sein Fell sei dünn. „Dafür schwitzt er kaum bei der Arbeit“, sagte Luis, „Ich brauche ihn nicht zu scheren, wenn es kalt wird.“

Luis war immer schon vor mir da, hatte sein Pferd gesattelt und es warm geritten. Wenn ich in die Halle kam, stieg er ab, hielt mir den Steigbügel, damit ich aufsitzen konnte und gab mir Reitunterricht. Ich musste Fango erst kennenlernen, herausfinden, wie er auf meine Hilfen reagierte und wie er geritten werden wollte. Zwischen Luis und mir gab es keine Missverständnisse, seine Kommandos waren klar, und Fango reagierte weich und durchlässig auf meine Hilfen. Unter Luis' Anleitung fühlte ich mich sicher und frei zugleich.

In der Reithalle blieben wir allein und ungestört, da es nicht viele gab, die bei den milden spätherbstlichen Temperaturen in der Halle ritten.

Luis stand in schwarz-glänzenden Reitstiefeln mitten in der Bahn; seine beigen Breeches, die bei jedem anderen lächerlich altmodisch ausgesehen hätten, gaben ihm etwas extravagant Männliches. Manchmal hielt er inne und schob sich mit einer eleganten Handbewegung die Haare aus der Stirn. Luis' starker Bartwuchs und seine buschigen Augenbrauen ließen seinen Teint noch dunkler erscheinen. Ich musste mich zusammen nehmen, um nicht andauernd zu ihm hinzusehen. Irgendetwas an ihm zog mich unwiderstehlich an. War es seine erotische Stimme? Dieser kehlig-raue Ton, der so sanft bei mir ankam? Der wie Bitterschokolade in mir schmolz, zart, süß, herb und mit winzigen Sporen, die tief in meinem Innern ziemlich viel aufwühlten. Ich konnte nicht genug davon bekommen und wurde mit jedem Wort süchtiger. Ich hatte mich schon einige Male dabei erwischt, wie ich das Handy in der Hand hatte, um Luis anzurufen, einfach nur um seine Stimme zu hören.

Wenn wir fertig waren, gab ich Fango die Zügel hin und ließ den Wallach laufen. Er blieb vor Luis stehen und ließ sich von ihm den Hals klopfen. Luis schaute mich an und der Besitzerstolz stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Fango wird unter dir richtig zum Pferd!“, sagte er.

Luis wusste, wie er mir schmeicheln konnte; er lobte Fango, und ich fühlte mich einzigartig und ganz; es war ein Gefühl, das ich kannte, und schon lange vergessen hatte. Jetzt kam es plötzlich wie eine Welle auf mich zu. Es war wie damals, als ich mich in Gerson verliebt hatte. Luis ließ dieses Glücksgefühl in mir wieder aufleben und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Ich beugte mich über Fangos Hals, da spürte ich Luis' Hand auf meinem Arm. Für einen Außenstehenden musste es so aussehen, als habe er mich unabsichtlich gestreift, doch auf mich wirkte es wie eine liebevolle Berührung. Ich schaute Luis verträumt an, doch gerade da zog er seine Hand wie elektrisiert zurück und trat einen Schritt zur Seite. „Vera, es sucht dich jemand!“

Ich erstarrte. Nicht möglich – wer denn? Und warum gerade jetzt?

Auf der Tribüne stand Gerson. „Jetzt zeig mir mal dein Wunderpferd, reite mir was vor!“, rief er mir zu. Er war bester Laune, doch meine Stimmung sank augenblicklich auf den Nullpunkt.

Auf Kommando vorreiten? Unmöglich! Was dachte sich Gerson eigentlich? Ich warf Luis einen schnellen Blick zu, er schien mich zu verstehen, denn er nickte. Dann saß ich ab und übergab Luis die Zügel. Gemeinsam gingen wir zum Ausgang. „Sie sind ein paar Minuten zu spät gekommen“, sagte Luis.

Gerson zuckte die Schultern und lachte. „Ihnen gehört also das Wunderpferd, von dem Vera so schwärmt? Ich habe Sie mir anders vorgestellt, viel ...“

Das hätte noch gefehlt – wenn Gerson ausplauderte, was ich ihm über Luis erzählt hatte! Es wäre mir peinlich gewesen, wenn Luis mitbekommen hätte, dass ich mit Gerson über ihn geredet hatte. Und noch peinlicher, wenn Luis erfahren hätte, was ich über seine berufliche Situation erzählt hatte. Luis hatte mir nicht einmal gesagt, in welcher Branche er arbeitete. Was ich über ihn wusste, hatte ich von Tom, und der Rest war frei erfunden.

„Gibst du mir mal den Hufkratzer?“ Gerson schaute sich um, hob einen Kratzer vom Boden auf und gab ihn mir. Ich hatte mich schnell wieder gefangen und sagte so ruhig wie möglich: „Genau, das ist Luis Maertens, der Besitzer von Fango.“ Während ich mich bückte, um Fangos Hufe zu säubern, gaben sich die beiden Männer die Hand. Ich ließ mir viel Zeit und als ich mit den Hufen fertig war, nahm ich den Besen und kehrte den Sand zusammen.


9

„Ich lade Sie zu einem Glas Prosecco ins Reiterstübchen ein.“, sagte Luis.

„Alkohol? Um diese Tageszeit?“ Gerson konnte Luis nicht ausstehen, und er zeigte es ihm deutlich. Doch Luis ließ sich von ihm nicht einschüchtern.

„Fango ist nicht leicht zu reiten und Ihre Frau weiß ihn zu packen.“

Ich zuckte zusammen, meinte Luis etwa, dass Gerson und ich verheiratet wären?

Gerson lächelte gequält. „Ja, das hat sie mir erzählt.“

„Ich habe Vera vorgeschlagen, Fango zu reiten, selbstverständlich werde ich den Beritt bezahlen“, sagte Luis sachlich wie ein Geschäftsmann. Es ging ihm nur um Fango, das fiel sogar Gerson auf. „Vera hat auf Nine viel gelernt und Iris lobt sie sehr.“ Es klang wie eine Art Friedensangebot.

Erleichtert legte ich den Hufkratzer in den Holzkasten zu den Bürsten und Striegeln, griff noch einmal zum Besen und fegte Fangos Hinterlassenschaften an die Seite. Die beiden Männer schwiegen sich jetzt verbissen an; Gerson trat von einem Fuß auf den anderen und fixierte mich. Die Situation war nicht auszuhalten.

„Ich bringe Fango zum Hänger“, sagte ich, „ihr zwei könnt ja schon mal ins Reiterstübchen gehen.“

Ich brauchte dringend frische Luft. Obwohl es noch nicht einmal 19 Uhr war, war es draußen schon dunkel. Die Abendluft war frisch und klar und mit jedem Atemzug fühlte ich mich wohler. Das war gerade noch einmal gutgegangen! Was war bloß in Gerson gefahren? In den letzten drei Jahren war er schätzungsweise ein- oder zweimal bei Nine und mir vorbeigekommen, aber nur, um Abwechslung in seine Bikertrainingsstrecke zu bringen. Statt nach Weinheim fuhr er die Runde über Schwetzingen, und dabei kam er unweigerlich am Leierhof vorbei. Doch ausgerechnet heute hatte er sich ins Auto gesetzt und war in den Stall gefahren! Warum denn? Um mich reiten zu sehen? Was sah er da schon? Die drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp konnte er inzwischen unterscheiden, doch ihm fehlte ein Blick für Feinheiten, für Übergänge, für das Zusammenspiel von Pferd und Reiterin, kurz, für alles, was mir Reiten bedeutete. Warum also ausgerechnet heute?

Ich führte Fango auf die heruntergelassene Rampe, er ging brav in den Hänger und machte sich über das prall gefüllte Heu-Netz her. Ich stemmte die Rampe hoch und verriegelte die Tür. Morgen würde Iris Nine ins Jura bringen; bevor ich mich zu den beiden Männern setzte, wollte ich schnell noch einmal bei ihr vorbeigehen und nachsehen, ob die Stute gut eingedeckt war.

Am Putzplatz vor dem Stall stand eine neue Einstellerin mit ihrem Pferd. Sie war vor kurzem mit ihrem Friesen, einem massigen, schwarzen Kerl, auf den Leierhof gekommen. Die Frau schaute kurz auf, als ich vorbeiging und nickte mir zu. Sie hatte die Stöpsel eines Headsets in den Ohren und murmelte irgendetwas vor sich hin. Von den anderen Pferdebesitzern ließ sich heute Abend keiner blicken.

Als Roberto noch Reitlehrer bei uns war, herrschte um diese Zeit immer Hochbetrieb. Die Pferdemädchen hatten ihre Hausaufgaben erledigt oder kamen von der Arbeit und Roberto gab eine Reitstunde nach der anderen. Doch nach seinem plötzlichen Weggang hatte sich alles geändert. Zwar waren die meisten Boxen wieder belegt, doch Tom musste sich anstrengen, um die Pferdebesitzerinnen, die immer anspruchsvoller wurden, was das Futter und die Einstreu anging, bei der Stange zu halten.

Im Stall war es wärmer als draußen, die Pferde standen mit gesenkten Köpfen in ihren Boxen und kauten geräuschvoll an ihrem Heu. Ein kurzer Blick in meine Richtung, ein aufgerichtetes Ohr, ein Schnauben, das war alles.

Nines Boxentür stand offen. Wie gut, dass ich noch einmal nachgesehen hatte; es war meinem Pferd zuzutrauen, dass sie die Tür ganz aufschieben und einen Ausflug auf die Stallgasse machen würde. Tom ließ sich beim Füttern immer viel Zeit, er hatte noch nie vergessen, die Gittertür zuzuschieben, doch wer sonst hätte die Tür öffnen können?

Ich blieb wie angewurzelt stehen, was ich sah, rührte mich zu Tränen.

Gerson stand neben Nine, er hatte einen Arm über ihren Widerrist gelegt und seine Wange an ihren Hals geschmiegt. Die beiden schienen so vertraut miteinander, als ob sie jeden Tag stundenlang miteinander spazieren gingen. Nine, die meine Nähe spürte, spitzte die Ohren und streckte mir den Kopf entgegen, und Gerson sagte, sichtlich verlegen: „Sie fährt doch weg morgen, ich wollte mich von ihr verabschieden.“

Ich ging auf ihn zu und dann umarmten wir uns. Nine schnaubte leise, als wolle sie sicherstellen, dass alles in Ordnung mit uns wäre, dann legte sie ihren Kopf für einen Augenblick auf Gersons Schulter. Sie schaute mich an, schnaubte noch einmal und knabberte an ihrem Stroh.


10

„Wenn alles gut geht, sind wir in fünf Stunden da.“ Iris stieg in ihren dunkelgrünen Range Rover. „Ich ruf dich an, sobald ich Nine ihren neuen Stall gezeigt habe.“

 

„Wir bleiben in Kontakt! Informiere mich über alles, was Nine betrifft, auch Belangloses.“

„Versprochen!“

Ich ging um den Hänger herum und kontrollierte die Tür. Wenn es so etwas wie ein gutes Vorzeichen gab, dann war es der Umstand, dass Nine ohne den geringsten Widerstand in den Anhänger gegangen war. Mit Grausen erinnerte ich mich, wie sie sich gegen das Verladen gesträubt hatte, als ich sie wegen einer schweren Kolik in die Tierklinik hatte bringen müssen. Ein Schritt auf die Rampe; Stopp. Reiterstandbild. Zwei Schritte zurück, dann wieder einen Schritt vor und gleich zwei zurück. Und das Ganze noch einmal und dann noch einmal. Ich fuhr zusammen. Iris hupte. Sie wollte los, je früher sie ankämen, desto besser. Das Wetter würde halten, und es war Sonntag, da blockierten die LKWs nicht die ganze rechte Fahrspur auf der Autobahn.

„Also dann, macht's gut, ihr zwei!“

„Bis bald! Ich freu mich auf dich – warte nicht zu lange, bis du uns besuchst – und bring Gerson mit!“

Das Seitenfenster schloss sich geräuschlos, Iris gab vorsichtig Gas und hupte noch einmal zum Abschied. Ich stand am Hoftor und winkte, bis das Gespann hinter dem Hügel am Wegkreuz verschwand.

Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Noch vor einer Woche hätte ich nicht geglaubt, dass ich mich bei Nines Abreise so traurig fühlen würde.

Gerade da kam Tom aus dem Stall. „Hallo Vera, schon so früh unterwegs?“, rief er mir zu. Ich zuckte matt mit den Achseln, weil ich keine Lust auf ein Gespräch hatte. Als er mein langes Gesicht sah, sagte er: „Sie kommt doch wieder und noch dazu mit einem Fohlen.“

Ich seufzte: „Du hast ja recht!“

„Gut, dass ich dich sehe“, sagte Tom. „Luis Maertens hat angerufen, er will heute schon deine Box haben.“

Hätte natürlich auch Zeit bis morgen gehabt, dachte ich, doch warum eigentlich nicht? Die Box war leer und ich tat ihm gern den Gefallen. „Von mir aus“, sagte ich. Ich helfe dir beim Ausmisten, wenn du willst.“

„Nicht nötig, das kann ich schneller als du!“

Innerhalb kurzer Zeit hatte er die ganze Box gesäubert. Dann brachte er frisches Stroh und wunderbar duftendes Heu. Bevor er eine Schippe Hafer in den Trog gab, schrubbte ich noch schnell die Krippe und wischte die Tränke aus.

„Er wird jede Minute hier sein“, sagte er, „Es ist schon zehn durch.“

„Und hier bin ich!“ Luis gab Tom die Hand und mir ein Küsschen auf die Wange. Er warf einen Blick in die Box: „Da wird er sich wohlfühlen, der Dicke!“ Tom hatte weder an Stroh noch an Heu gespart, die Krippe blitzte vor Sauberkeit und das Wasser in der Tränke war glasklar.

„Du erlaubst doch, Vera?“ Doch er wartete meine Antwort gar nicht ab, zog einen Schraubenzieher aus der Hosentasche und schraubte Nines Namensschild ab, das er auf den Boden fallen ließ. Dort blieb es liegen. Ich tat so, als ob ich seine Unachtsamkeit nicht bemerkt hatte und las das neue Schild:

Fango XX 4.6.1997

von Wiesenklee XX aus der Laguna XX.

„Hat er nur Blüter in seiner Verwandtschaft?“, fragte ich.

Luis grinste. „Genau das bedeutet das XX, alles Vollblutpferde“, sagte er in einem belehrenden Ton. „Ich habe nicht alle draufschreiben lassen. Die Stuten sind meistens Trakehner.“

Ich hob Nines Schild auf, das immer noch auf dem Boden lag. „Nine ist eine Nerwa Tochter“, sagte ich leise.

„Was sagst du?“, fragte er, doch ich spürte, dass er mit seinen Gedanken anderswo war. „Willst du ihn heute noch reiten, ich habe Zeit, wir sollten noch einmal die Seitengänge ansprechen.“


11

Am nächsten Tag kam eine E-Mail von Iris, gespickt mit Smileys. „Wir sind gut angekommen und Nine hat sich problemlos eingewöhnt. Das Futter schmeckt ihr. Unser Klima ist rauer als bei euch, wir lassen uns Zeit.“

Wenn Iris zu viel zu tun hatte, schickte sie mir eine SMS:

„Nine fühlt sich wohl. Ihre Box hat einen kleinen Auslauf. Bald kommt der Schmied, er wird ihr die Eisen abnehmen.“

In diesem Jahr ließ der Schnee im Jura auf sich warten. „Meine Pferde stehen noch auf der Weide“, berichtete Iris. „Ich will Nine in die Stutenherde stellen. Sie kommt ohne Hufeisen gut zurecht, wenn du willst, kannst du sie auch später barfuß gehen lassen.“

Mit jeder neuen E-Mail vermisste ich meine Stute mehr. Allmählich realisierte ich, dass ich mich auf eine längere Zeit ohne Nine einstellen musste.

Immer wenn ich auf den Leierhof kam, um Fango zu reiten, schaute ich bei Pepino vorbei. Er stand traurig auf seinem Paddock und brauchte dringend Zuspruch. Ich hatte ein paar Mal versucht, ihn alleine auf die Wiese hinauszustellen, doch der kleine Wilde war nicht zu halten gewesen, hatte den Boden im halsbrecherischen Galopp unter seinen Hufen gepflügt und unentwegt nach seiner Stute geschrien. Ich hatte Angst um seine Sehnen und Gelenke, und Tom um seine Weide. Seit Nines Abreise war Pepino nicht mehr auf die Koppel gekommen.

„Die Koppelsaison ist für dieses Jahr beendet“, sagte ich zu dem Dicken. „Nächstes Jahr finden wir dir ein anderes nettes Mädel.“ Doch jedes Mal, wenn ich unter der Stange hindurch zu ihm auf den Paddock kroch, drehte er mir das Hinterteil zu. Er machte mich für seinen traurigen Zustand verantwortlich, das war mir klar. Wahrscheinlich wollte er gar kein anderes Mädel, er vermisste seine Nine.

„Iris hat angerufen“, sagte Gerson, als ich aus dem Stall zurückkam. „Sie war ganz aufgeregt.“

„Ist was mit Nine?“

„Keine Ahnung, du sollst sie zurückrufen.“ Ich war durchgefroren und sehnte mich nach einer heißen Dusche. Doch zuerst musste ich wissen, was mit Nine los war. Ich schälte mich aus meiner Reithose, wusch mir schnell Gesicht und Hände, zog mir den Bademantel über und griff zum Telefon. Es klingelte nur zwei Mal, dann hatte ich Iris in der Leitung. Gerson deutete auf das Lautsprecherzeichen des Telefons, weil er mithören wollte.

„Ich habe einen Hengst gefunden! Ein kleiner Haken ist dabei, er soll im Januar in Glovelier gekört werden. Er ist der Favorit und wird garantiert alle Preise absahnen. Er gehört Monsieur Poliglott, meinem Kollegen. Ich habe Nine schon mal angemeldet.“

„Wunderbar! Schickst du mir ein Bild von ihm? Wie heißt er eigentlich?“

„Du brauchst nur deinen PC anzuwerfen, dann siehst du ihn!“

Nach meiner Kündigung an der Uni hatte ich mir zu Hause im Gästezimmer ein Büro eingerichtet, mit allem, was ich für meinen Job bei Massimos „Reisen der anderen Art“ brauchte: Einen PC mit Drucker, Fax und Telefon. Seit kurzem hatte Gerson mir sogar Skype installiert. Wenn er unterwegs war, und das kam ziemlich oft vor, konnten wir kostengünstig über den Computer miteinander sprechen und uns auch mal zuwinken.

Gerson stand schon an meinem Schreibtisch und fuhr den PC hoch.

„Da, schau dir ihn an: Paletti, der Hengst für alle Fälle. Der sollte unserer Nine gefallen!“

Iris hatte uns einen Zeitungsartikel gescannt, in welchem die Hengstanwärter für die diesjährige Körung in Glovelier vorgestellt wurden. Paletti wurde darin über die Maßen gelobt. Von seiner Ehrlichkeit war die Rede und von seinem großen Kämpferherzen. Mit 158 cm Stockmaß war er deutlich kleiner als Nine und stämmiger ohne plump zu wirken. Er hatte eine dichte, helle Mähne, die aussah wie ein Büschel Schilfgras, ein lausbübisches, freundliches Gesicht, er wirkte keck und sportlich. So wie er aussah, würde Paletti die Prüfung, von der abhing, ob er als Zuchthengst in das Register aufgenommen werden würde, mit Bravour bestehen.

Ich begann zu rechnen. Die Körung fand traditionell am zweiten Januarwochenende statt. Je nach ihrer Rosse konnten wir Nine dann irgendwann im Februar oder März decken lassen. „Vielleicht dauert es auch länger“, sagte Iris.

„Warum?“

„Wenn unser kleiner Liebling so gut abschneidet, wie wir hoffen, dann darf er den Stationstest machen.“

„Was heißt das?“

„Er bleibt noch 40 Tage in Glovelier. In dieser Zeit wird er angeritten und eingefahren.“

„Dauert das alles nicht viel zu lang? Könnten wir nicht vorher ...?“

„Wie stellst du dir das vor? Wir haben uns doch für den Natursprung entschieden? Das heißt, dass der Hengst selbst in Aktion treten muss, aber das geht nicht, weil er die 40 Tage stationär in Glovelier verbringen muss. Soll ich deine Nine etwa heimlich in seine Box schmuggeln?“ Iris lachte. „Unmöglich! Die Schweizer würden so was glatt als Angriff auf die Reinheit der Zucht ansehen. Nein, jetzt mal im Ernst, ich habe eine Idee.“

Gespannt wartete ich, dass Iris mir ihren Plan mitteilen würde, doch sie sprach nicht weiter.

„Wolltest du mir nicht etwas sagen?“

„Ach, das hat Zeit, Plan B – vielleicht brauchen wir ihn gar nicht.“

Nach der Besamung würde die Zeit des Wartens beginnen. Würde Nine aufnehmen? Wenn alles gut ginge, blieben von da an noch elf Monate, bis das Fohlen auf die Welt käme. In den ersten Monaten blieb das Kleine bei Nine und sie musste es säugen. Diese Zeit des Fohlens bei Fuß würde bestimmt noch einmal ein halbes Jahr dauern. Alles in allem würde Nine gut zwei Jahre wegbleiben. Ich schluckte.

„Okay, wenn du meinst, dass dein Nachbar – wie heißt er doch?“, sagte ich stockend.

„Poliglott“, rief Gerson, der sich an meinem Drucker zu schaffen machte.

„Also, wenn Monsieur Poliglott mitmacht, dann bin ich mit allem einverstanden.“

Ich drückte auf die rote Taste und legte den Apparat in die Basisstation, um endlich unter die Dusche zu verschwinden.

„Halt, stopp! Einen Augenblick noch.“ Gerson wedelte mit einem Blatt Papier durch die Luft. „Muss noch eine Sekunde trocknen.“ Ich tippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Beim Reiten hatte ich geschwitzt und im Bademantel war es mir kalt geworden. Doch Gerson gab mir kein Pardon. Fotos waren sein Ressort mit allem, was dazu gehörte. „Da ist er: Dein Hengst für alle Fälle!“

Es war eine zauberhafte Aufnahme. Paletti trabte mit wehender Mähne auf mich zu, schaute mich aufgeweckt an und rief: „Alles Paletti, oder was?“


12

Ich musste immer öfter für Luis einspringen. Sein Verkaufsstall florierte, mit Sportpferden sei eine Menge Geld zu machen, sagte Tom. Er hatte mir verraten, dass Luis auch noch mit einer Vereinsgründung beschäftigt wäre, es ginge dabei auch um Pferde, doch Tom wusste nichts Genaues. Er sprach mit großem Respekt von Luis, er war glücklich, einen so reichen und erfolgreichen Mann als Einsteller zu haben. Und dass es dazu gekommen war, hatte Tom auch ein bisschen mir zu verdanken.

Ich ritt Fango gerne, besonders, wenn Luis mir dabei zuschaute. Die Bekanntschaft mit ihm entschädigte mich dafür, dass meine alten Freundinnen und Freunde Liberty, Roberto und Carmen nicht mehr auf dem Leierhof waren. Ich hatte mich immer danach gesehnt, einmal einen Mann kennenzulernen, der meine Pferdeleidenschaft teilte und mit dem ich mich übers Reiten austauschen konnte. In unseren Gesprächen standen immer die Pferde im Mittelpunkt und ich freute mich besonders, wenn er sich nach Nine erkundigte:

„Geht es ihr gut? Gibt's was Neues?“

Ich zuckte die Achseln. „Iris hat einen Hengst ausgesucht, aber wir müssen die Körung abwarten.“

„Soll er in Glovelier gekört werden?“

„Du kennst dich gut aus – ich habe zum ersten Mal von diesem Ort gehört, und du tust so, als ob es sich um die Körung im Landesgestüt Marbach handelt.“

„.Ich habe gute Geschäftsfreunde, die mich auf dem Laufenden halten“, sagte Luis. „Was hast du gesagt – wie heißt der Hengst?“

Hatte ich Luis seinen Namen wirklich schon verraten? Wenn ja, musste ich mich verplappert haben, denn ich hatte Iris versprochen, absolutes Stillschweigen über unsere Pläne zu bewahren. Aber warum eigentlich?

 

Ich fand nichts dabei, doch vorsichtshalber bat ich ihn:

„Du sagst ihn niemandem weiter, versprochen? Paletti heißt er.“

„Der diesjährige Favorit? Soll ein ordentlicher Kracher sein. Iris versteht etwas von ihrem Job! Er hat null Prozent Fremdblut.“

Luis brachte mich zum Staunen. Wenn es jemanden bei uns in Baden gab, der sich in der Schweizer Pferdezuchtszene auskannte, dann war es Luis.

„Was soll das heißen – Fremdblut?“

Ein merkwürdiges Wort, das bei mir mit dunklen Assoziationen verknüpft war: Rasse, Blut und Gene und die Reinheit der Zucht – das waren Begriffe, die ich von meinem Großvater her kannte. Ihm war es natürlich nicht um Pferde gegangen. Er war schon als Kind in die Hitlerjugend eingetreten und, obwohl er im Alter die Grünen wählte, war er ein in der Wolle gefärbter Nazi geblieben. Von Rasse und Blut sprach er natürlich nicht offen, doch an seinen Kommentaren zu bestimmten politischen Ereignissen hatte ich seine braune Grundeinstellung unschwer ablesen können.

Luis schien mein Stirnrunzeln nicht zu bemerken und ahnte nichts über meinen gedanklichen Ausflug in unsere dunkle Nazi-Vergangenheit.

„Ganz einfach, es geht darum, das „Original Freiberger Pferd“ zu erhalten. Sein Fremdblutanteil darf 2% nicht übersteigen.“ Luis klang auf einmal ernst. Der freundlich-verbindliche Ton in seiner Stimme war verschwunden. Was er sagte, wirkte streng und ein bisschen oberlehrerhaft.

„Dann wäre Paletti also so ein Original Freiberger Pferd?“

„Genau. Und deine Freundin Iris will ihn mit einer deutschen Stute kreuzen.“

Doch die dunkle Wolke auf seiner Stirn hielt sich nicht lange. „Vera, ich habe meine Kamera dabei – was hältst du davon, wenn ich ein paar Bilder von dir auf Fango mache?“

Natürlich war ich einverstanden. Mein Freund Gerson war Fotojournalist, und trotzdem gab es von mir kaum Bilder zu Pferde. Tierfotografie wäre nicht sein Gebiet, entschuldigte er sich, doch war das ein Grund, es überhaupt nicht zu versuchen? Wenn das Foto gelingen würde, würde ich Luis um einen Ausdruck bitten. Ich würde das Bild rahmen und es Gerson schenken. Schade, dass ich kein Foto von mir und Nine hatte, dachte ich, vielleicht hätte Gerson so ein Foto besser gefallen.