Abschiednehmen

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Du meinst den Rüger. Wie Herr Adolph, bloß älter.

Horst sagte nichts mehr und ging.

Sie hörten Frau Adolph rufen.

Das mit Herrn Adolph hättest du nicht sagen dürfen, Gustav.

Und wenn jemand die Kisten aufmacht? fragte Johannes.

Die gehören uns nicht.

Nu wisst ihr alles, sagte Gustav, obwohl Horst schon gegangen war. Das mit dem Jungen tut mir leid, Hedwig.

Runter von deiner Kiste, Hannes, ich schließ zu.

Auf der Bank unter den Erlen saß niemand. Gustav zögerte. Sollte er sich setzen? Seit einiger Zeit hatte die Schmidt Anna dort ihren Platz, und wenn sie sich hingesetzt hatte, blieb sie sitzen. Benesch, ein hagerer Mann, der ständig hustete, mit dem sie lebte, setzte sich nie neben sie.

An den Ring binde ich die Ziege an.

Mierisch seiner. Den reißt du nicht ab.

Sind von dem die Briefmarken, die ich ausschneide?

Ich wusste nicht, dass du den Papierhaufen durchwühlst.

War der Ring zum Pferdanbinden?

Da gab es Mierisch noch.

Ist der fort?

Hat sich erhängt.

Warum?

Wegen Schulden. Der konnte nicht zahlen. Dass der Weickersdorfer die Mühle von Mierisch gekauft hat, sagte Gustav nicht. Die müssen nicht alles wissen. Ich geh hoch. Die Schmidt Anna krachte die Tür zu, weil sie dort nicht sitzen konnte.

Das Fenster stand offen. Hedwig sah, dass Johannes im Teich zu den Betonpfeilern watete. Die haben dran Flaschen zerknallt, die Soldaten, rief sie, pass auf! Er drehte um. Über den Pfeilern Balken und Bretterstapel, als das Sägewerk noch arbeitete.

Den Lehrer hab ich in guter Erinnerung, sagte Gustav, hereinkommend, Adolph mit seiner Trillerpfeife, Turnhose, weißes Hemd. Alles spielte Handball.

Lassen Sie die Halmamännel stehn, Frau Richter, sagte der Lehrer, wir spielen andermal weiter. Hat er geglaubt, dass er wiederkommt, als er das sagte? Die Todesnachricht hatte das Dorf aufgeschreckt. Ob sie sich aus ihrer Trauer herausfinden wird? Solche Fragen kommen einem, meinte Gustav, je mehr Zeit vergeht.

Seitdem standen die Halmamännel bei ihr im Schrank.

Ich hab se nich angerührt.

Viele im Dorf waren gestorben, bis der Lehrer drankam. War Georg am Leben? Die Kurlandarmee hatte kapituliert. Warum sollte er nicht am Leben sein? Warum nicht auch Dietrich? Sein Brief lag, wie eine unbezahlte Rechnung, auf dem Schreibtisch. Der Brief war zurückgekommen. Die Zeit lief rückwärts.

»Du weißt, dass ich mich zur SS gemeldet habe, ohne so kerngesund zu sein, wie nötig. Der Eintritt in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt ist die ganz natürliche Folge dieser Bereitschaftserklärung. Glaubst Du nicht auch, daß mir da, wenn ich eine NPEA nicht besucht habe, jeder andere vorgezogen wird, der dort war?« Das hatte er seine Mutter gefragt.

»Jetzt ist die Stelle in meinem Leben gekommen, wo ich mich das erste Mal zu entscheiden habe, will ich einmal etwas werden oder mich immer mit kleinen Posten und Pöstchen zufrieden geben. Denn diese Gelegenheit wird mir ein zweites Mal in meinem Leben nicht geboten. Ich würde später mich ohrfeigen. Dass ich die Sache bestehe, davon bin ich überzeugt. Eine Aufnahme zu späterer Zeit ist nicht möglich. Denn dann bin ich schon wieder weit hinter den Kameraden zurück. Bitte, liebe Mutti, überlege das alles noch einmal und dann unterschreib. Du tust es in Vatis Sinn! Ach, hättest Du den Brief schon erhalten und unterschrieben, damit ich wieder froh werden kann. Wenn Vati wirklich einmal etwas zustoßen sollte, was wir aber nicht hoffen wollen, ist es für uns auch noch in finanzieller Hinsicht ein Vorteil. Denn durch eine NPEA bin ich später besser gestellt als durch den Besuch einer gewöhnlichen Oberschule.«

Die Liste war fertig, dafür lagen die Brücken unten, das Schicksal nahm seinen Lauf. Meins auch, dachte Gustav, damals, wie ich mit den Kameraden vorgerückt bin und die Tanks ankamen.

Johannes saß noch auf dem Pfeiler, die Füße im Wasser. Wie ein blaues Stäbchen blieb eine Libelle über den Schachtelhalmen stehen.

Unversehens war das Boot, das die Zeit befährt, aufgetaucht und in den nächsten Krieg hineingefahren.

16

Horst suchte den Einstieg ins Sägewerk über das Wasserrad

Gustav schnitt Brotrinde in die Mehlsuppe, ermahnte Johannes, ehe er abschwirrte, mehr zu essen. Hedwig hielt Horst für den Anstifter und verwünschte die Kisten.

Die beiden verschwanden auf der Steintreppe. Sie blieben stehen, wo die Treppe endete. Niemand da. Auf Arbeit. Horst suchte den Einstieg ins Sägewerk von unten über das Wasserrad. Das Untergeschoss aus Stein mit einer langen Fensterreihe war mit Eisenstangen gesichert, davor Wagen, die Misthaufen, Benesch seiner, für ein Pferd, und der große Pferdemisthaufen von Rönisch. An der Durchfahrt zum Hof hatten die Sägewerker Räume, die waren jetzt Ställe. Das Untergeschoss trug eine große Halle, die war lang, grau, aus Brettern und hatte ein flaches Pappdach. Seit der Dampfbetrieb aufgehört hatte, stand die Maschinerie im vergitterten Unterbau wie vergessen da. Fast nichts mehr erinnerte an die Wassermühle, die in Zeiten davor abgebrannt war. Hinter der ewig nassen Treppe war ein Zugang dorthin, voller Gerümpel, und ständig tropfte es, weil der Teich durch den Damm drückte.

Neben dem Sägewerk und Mauerresten hatte Benesch Gemüsebeete angelegt, unten drunter steckte das Wasserrad. Wenn die Schmidt Anna ihre Beete goss, lief es durch, ohne dass sie das wissen konnte.

Horst ging voran. Sie stiegen über verrostete Eimer, andres und von den Soldaten zurückgelassenes Eisenzeug.

Wie’s tropft, flüsterte Horst.

Die gießt.

Leise!

Die hört uns nicht.

Trotzdem.

Horst sah das Wasserrad.

Sie gewöhnten sich an die Dunkelheit. Wie glitschige Zöpfe hingen Schlingpflanzen herunter von den Schaufeln.

Sie staunten über die Größe der Anlage.

Dreht sich das?

Horst kletterte auf etwas rauf, kroch über glitschiges, vermoostes Holz. Mensch, mei Latsch! Siehst du den?

Johannes fand den Pantoffel.

Die Achse. Horst richtete sich auf. Das muss die Achse sein.

Horst stieg über die nächste Schaufel, kletterte auf den höchsten Punkt und langte an die Decke.

Alles zu.

Das Wasserrad war eingemauert, offen bloß der Zugang, oben drüber waren die Beete, und wenn sie gießt, läufts durch. Horst flüsterte wieder.

Die kann uns nich hören.

Das Wasserrad käme ihm vor, wie die Uhr in der Kapsel. Die zeigte Horst vor, wenn der Neugersdorfer Großvater bei Adolphs zu Besuch kam und die Sprungdeckeluhr aufspringen ließ.

In dem Moment fiel Johannes ein, dass der Großvater mal sagte, die warn rot, die Adolphs, bloß der Walter hielt sich zu Hitler.

Zugemauert.

Ja. Johannes hatte schon wieder vergessen, was ihm eingefallen war. Ins Sägewerk von unten her war kein Reinkommen. Sie drehten um.

Später, wenn Johannes auf diese Zeit zu sprechen kam, redete er, wenn er von dem Wasserrad erzählte, in dem sie herumgekrochen waren, von einem Ungeheuer, das wie eingesperrt in seinem Bau saß, Schlingpflanzen vertilgte, und das Mädchen im Blauhemd, dem Johannes davon berichtete, weil er sie liebte, hieß Franziska, damals, gleich nach dem siebzehnten Juni war das. Das Rad dort unter der Erde holt niemand raus, dachte er, so oft er an dem Teich und der Valtenmühle vorbeigefahren kam, bloß das Gießwasser von der Schmidten lief nicht mehr durch, neue Besitzer waren da, neue Autos, die herumstanden, dahinter die Pappeln, die Rönisch auf seine Koppel gepflanzt hatte, als er den Fuhrbetrieb aufgab, bloß riesenhoch waren sie inzwischen geworden.

Zu dem Wasserrad war Gustav nie durchgekrochen, er wusste, dass es da war, seit er das zu Pacht und Miete ausgeschriebene Grundstück samt Sägewerk und Villa an der Eisenbahnlinie übernahm. Übrig geblieben von Mierischs Villa war die Gasheizung mit den dunkelgrünen emaillierten Heizkörpern, aber geheizt wurde mit Kohle. Das Sägewerk lief elektrisch. Im Maschinenhaus verrottete die Dampfmaschine. Das störte die Silberpappel nicht, die reckte sich und schüttete jedes Jahr mehr Blätter aufs Pappdach. Geteert wurde im Herbst, da war die neue Fahne schon hochgegangen. Es begann die Zeit, die eine vorläufig allerletzte Farbe zeigte, die ohne Zirkel und Ährenkranz.

Horst war als erster aus der Öffnung hinter der Treppe aufgetaucht, die Holzpantoffeln in der Hand rannte er über den Hof und von der Durchfahrt zur Straße. Diese überquerten sie, schlugen einen Bogen, danach hingen sie für eine Weile die Füße in den Teich und ließen sich von der Sonne bescheinen. Sie sahen, wie die Schmidt Anna ins Haus ging (die Vertriebene war inzwischen Umsiedlerfrau), dann kehrten die beiden über die kalte Treppe in den Hof zurück. Horst schmiss Wagenbretter hinter den Misthaufen, denn barfuß wollte er in die hochgeschossenen Brennnesseln nicht reinsteigen. Bei Rönisch war die Deichsel vom Gummiwagen ins Fenster gekracht. An den Eisenstangen vor diesem Fenster zog er sich hoch.

Siehst du was?

Schwungräder, Treibriemen. Er zeigte Johannes, was das für große Räder waren.

Jetzt ich. Horst verschränkte die Hände, damit Johannes hochsteigen konnte.

Mensch!

Sag ich doch. Siehst du die Treppe?

Keine, sagte Johannes, der sich wieder heruntergelassen hatte und in den Brennnesseln stand.

Du sagst, die lagen auf Zeltbahnen.

Auch.

Sie hörten Frau Scholz rufen. Hertl!, Erika!, verflixt nochmal! Kommt rein!

Die Scholz Ella wohnte bei Adolphs zur Untermiete, im Stockwerk oben hatten sie Frau Schmidt mit Benesch eingewiesen. Eigentlich gehörte das Zimmer von den Mädchen Horst. Sind Umsiedler, sagte Horst, Schlesier.

 

In der Durchfahrt liefen beide dem Fuhrmann Rönisch in die Arme; manchmal ließ der sie aus dem Flössel Wasser holen für die Pferde, die Wiese vom Galoppschuster fing hinter dem Flössel an. Jungs!, rief er, sie blieben aber nicht stehen.

Als Rönisch auf seinem Gummiwagen sitzend losgefahren war, kletterte Horst die Bretterwand zur Durchfahrt hoch und Johannes hinterher, mühsam, und der Freund sagte, wo er hintreten sollte. Der Oberboden lag voller Sägemehl und Sägespäne. Ein Pferd schnaubte. Rönisch sein Hengst, sagte Horst. An der Decke war eine Öffnung zu sehen, aber zugestellt. Der Deckel ließ sich nicht anheben. Auch von dort kein Zugang ins Sägewerk. Da fingen sie an, in die Sägespäne und das Sägemehl hineinzuspringen, als wäre da Wasser. Sie waren plötzlich mit Sägemehl überzogen, das nicht abfiel, während die Späne abfielen, wo was offen stand an der Kleidung, am Körper Sägemehl, in den Nasenlöchern, den Ohren, unterm Hemd, überall. Sie fluchten, bis sie merkten, sie sollten besser leise sein.

Beim Runterklettern kam ihnen niemand in die Quere. Sie verdrückten sich. Beim Stutendecken hatten die Männer Horst weggeschickt. Die wollten nicht, dass ich zugucke. Er wusste trotzdem, wie das ging, wenn der Hengst hochsteigt. Weiß ich von Mutscher, sagte Horst, der bleiben durfte. Mutscher hätte ganz alleine einen Panzer »geknackt«.

Im niederen Garten an der Scheune blieben sie sitzen, machten sich sauber, es hörte nicht auf zu kitzeln, und immer wieder entdeckten sie Sägespäne. Läuse kitzeln so ähnlich? Die beißen, sagte Johannes. Warm wars an der hohen Bretterwand. Am Gerüst kletterten die Stangenbohnen, die hatten kleine rote Blüten.

Vielleicht passt ein Schlüssel, die Idee hatten sie plötzlich, von den vielen Schlüsseln ein übriggebliebener, der über die Zeit, in der sie sich bewegten, weggegangen war.

Ho-orst!

Diesmal musste Horst zuerst rein.

Dinge beladen sich mit Sinn.

Wie schnell verging die Zeit. Die niedergetretenen Brennnesseln richteten sich auf, unverändert alles, vielleicht.

Sie probierten, durchsuchten die ganze Masse Schlüssel, die sich angesammelt hatte, in den Schuppen, der Scheune, der Durchfahrt, auf dem Boden, in Lederbehältnissen, an Haken, in Büchsen. Johannes stellte sich vor die Tür und gab Deckung, Horst probierte, immer so viele Schlüssel, wie in die Hosentasche passten. Die Schmidten kam nicht dahinter, die merkte nichts, obwohl sie am Teich auf der Sitzbank saß, nur ab und zu bekreuzigte sie sich.

Johannes fand einen letzten Bund Schlüssel, keiner der Schlüssel passte.

17

Ich bin die Gertrud. Sie sind von Breslau, höre ich

Gustav erkannte sie sofort, als sie auf ihn zulief.

Sie sind’s!

Wen hat er da hergelockt, dachte Hedwig.

Als sie Hedwig sah, ließ sie Gustav stehn. Ich bin Gertrud, sagte sie, mit schnellen Schritten auf sie zugehend. Sie sind seine Frau? Er stand mit dem Rad auf der Leiter.

Ach, Sie sind das. Hedwig gab ihr die Hand.

Die Scholz Ella hatte Wasser geholt, die Tür einen Spalt offen gelassen. Gertrud bemerkte es. Seit sie auf der Flucht war, verhielt sie sich wie ein Soldat.

Gustav trug ihr Köfferchen hoch, während sie den taillierten Mantel ablegte. Ob sie bleiben dürfe, bis sie einen Handwagen habe. Bittend sah sie Hedwig an. Gustav brachte Mehlsuppe. Die junge Frau löffelte, sah in den Teller. Ich geh nach Breslau. Hedwig saß ihr gegenüber. Sie hatte Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Es sind schon welche zurück. Hedwig widersprach. Eins macht dem andern Mut. Den Leiterwagen bau ich ihr zusammen, dachte Gustav. Mehlsuppe mit Milch hätte sie lange nicht mehr gegessen.

Sie wissen, was die Frauen fürchten?

Die haben welche erschossen, die so was gemacht haben.

Es klopfte. Ich bin die Ella, die vollen, hellen Haare frischwaschen, sagte sie das. Frau Adolph hat uns aufgenommen. Ich warte drauf, dass ich heim kann.

Ich bin die Gertrud.

Sie sind von Breslau, höre ich. Ich war beim Wickellegen, sagte sie, das Haar zurückstreichend und schloss die Augen. Ich hab das Gefühl, ich kenn Sie, dich, bin auch von Breslau, und dich hab ich schon gesehn, wenn ich bloß wüsste, wo.

In Breslau hat’s viele Menschen. Sie könne sich nicht entsinnen. Egal, wir sind füreinander jetzt Heimat.

Johannes mit Stirnband, in dem eine Gänsefeder steckte. Du wohnst hier!? Sie hatte ihn nach dem Teich gefragt.

Du sitzt auf dem Postamt, rief Ella dazwischen.

Sie kamen ins Erzählen. Die Kinder schlafen, sagte Hedwig, Hertha und die kleine Erika.

Gertrud, die vermutlich keine Kinder hatte, ging nicht darauf ein. Was hab ich für eine schöne Arbeit auf der Post gehabt, bis es mich in den Harz verschlagen hat. Sie nahm die Schultern zurück, wie nach langem Bücken, die schickten mich aufs Feld.

Du bist eine von der Post, ich erinnere mich.

Hedwig goss Kaffee ein, den üblichen. Gustav rauchte eine von den kostbaren Zigarren, Gertrud eine Zigarette.

Dass eine Frau rauchte, überraschte die Hausfrau. Als müsse sich Gertrud verteidigen, sagte sie: Die Flucht hat alles verändert, Ella. Uns auch, sagte Hedwig.

Immer kamen wir irgendwo an, wo wir nicht hingehörten. Im Zimmer, das uns zugewiesen war, sah ich einen Spiegel hängen, und mir fiel ein, dass ich in keinen Spiegel mehr geguckt hab, den Spiegel hab ich nicht mal vermisst. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin vor mir selber erschrocken.

Manchmal nickte Ella oder sagte, hast recht.

In Schweidnitz sind wir am letzten Januar von Niederlangenbielau angekommen. Mit dem Schlitten.

In Schweidnitz sind wir auch durch, sagte Ella.

Dort habe ich das letzte Mal richtig in einen Spiegel geguckt, im Kino, in der Kinogarderobe. Drei Tage später kampierten wir in Bunzlau. Dorotheenschule hieß die Schule. Kreuzlahm sind wir vom Pferdewagen in Tillendorf auf die Strohsäcke gefallen, einsortiert, auf dem Tanzsaal. An der Decke die wundersamste Aufmachung. In die war ein Frühlingsball hingemalt. In Görlitz legten sie uns neun Breslauer und die neunzehn Grünberger in ein leergeräumtes Schulzimmer. Hintransportiert hat uns ein Wehrmachtsauto. In den Toilettenspiegel hat jemand, der sich nicht mehr ersehen konnte, ich hätte das sein können, reingehaun. Wie zerschnitten sah ich aus. Die Soldaten hielten den Fahrtwind ab. Die saßen an den Seiten, sagten kein Wort. Es sieht ordentlich schlecht aus für uns, wenn ich so richtig nachdenk, sagte eine von uns, der Russe kommt näher, der Ami bepflastert die Städte. Die Soldaten, Gewehr zwischen den Knien, sagten nichts. In der Neißschule kriegte alles die Scheißerei. Wasser gabs. Die Kinder wurden weitergeschickt. Ständig entschied jemand. Morgen geht’s weiter. Gezeigt hat sich keiner. Sie werden hier untergebracht. Punkt neun abfahrbereit, am Stellplatz bei den Kruppwerken, ein Auto von der Wehrmacht! Alles ist runterzubringen! Pro Kopf für jeden sechs Eier. So ging das. Ella nickte. Zu Ostern gabs in Görlitz noch Eier und Lebensmittelkarten für drei Wochen. Es gibt Nummern, die Nummern werden aufgerufen.

Hat die ein Mundwerk, dachte Hedwig.

Da wir nun so weit weg sind von der Heimat, hätte sie die Hoffnung aufgegeben, dass wir schnell wieder nach Hause kommen, sagte eine von den Frauen. Da bin ich wirklich erschrocken. Im April brach der Russe durch. Da saß ich im Zug. Alles raus auf den Bahnsteig! Ich versteckte mich in einer Gartenlaube. Hab mir die Zudecke organisiert, wer steht auf der Leiter? Ihr Mann. Mit einem Lastwagen bin ich weiter, bloß Soldaten, habs bis Dietensdorf geschafft. Sagte ich, glaube ich schon, Ella, dass das im Harz ist. Bei dir werde ich mir die Haare waschen. Mit gewaschnem Haar heimkommen, wär das nicht wie im Märchen? Als wäre eine Erklärung nötig, sagte sie, wir sind aus der Ordnung, wochenlang hab ich in keinen Spiegel geguckt. An Gustav sah sie, dass ihm das einleuchtete. Ella meinte, wäschst die Haare bei mir, der Mensch darf sich nicht gehen lassen.

Als Margot Ungeziefer aus der Schule mitbrachte, fing ich mit Haarewaschen wieder an. An dem Tag ließ der Kommandant die amerikanischen Ausweise ausgeben.

Du hast Kinder? Margot hat zwölf Jahre, Inge neun, sagte Gertrud, die hatte die Läuse zuerst.

Ella war anzusehen, dass sie nicht fertiggebracht hätte, ohne die Kinder loszufahren.

Haare sauber kriegen, wenn man nichts zum Waschen hat, mach das mal.

Die Nachricht, dass der Kindertransport inzwischen im Harz gelandet war, hatte Gertrud in Görlitz erreicht. Bei einer Kartenlegerin war sie auch gewesen.

Verrückt, was? Lass mir Karten legen. Sie drehte die Zigarette zwischen den Fingern, ohne sie anzuzünden. Wie die sagte, ich solls ohne die Kinder versuchen, wenn ich nach Breslau will, hab ich mich so entschieden. Dass ich zwei Töchter hab, und was sie sonst noch aus den Karten rauslas, stimmte. Sie rennen ihnen die Türe ein. Dieses Warten auf die Männer. Ob sie leben. Mit Margot bin ich früh schon in den Wald. Es hat viel und trocknes Holz.

In den Steinhübelhäusern, sagte Ella, gibt’s eine Kartenlegerin, die kann in die Zukunft sehen, ich wills nicht glauben. Oswald, mein Mann, tät mich auslachen, wenn ich mir tät Karten legen lassen. Sie drehte am Trauring. Ich verlier den Verstand, wenn die Karten mir Unheil verkündigen, mein bissel Lebensmut wär weg, den ich für die Kinder gerettet hab.

Gertrud Lenz sah in ein Gesicht, dem Weinen nahe. Traurigkeit überfällt die Leute. Ein Wort genügt. Sind Männer dabei gewesen, unterdrückte sie die Tränen, wie in Dietensdorf, als der Bürgermeister im Haus von der Witwe Kolbe verhandelte, bis sie Quartier bekam. Hinterher liefen mir die Tränen. Im Zimmer zwei Bettstellen, Tisch, die Stühle abgezählt, als käme niemand mehr zu Besuch. Seither weiß ich, was ich verloren habe. Ich riskiers, sobald ich den Leiterwagen habe.

Sie wird nicht die einzige sein. Gustav fand, dass die Fremde beharrlich war und gut aussah.

Als die Flucht aus Schlesien begann, konnte niemand ahnen, was ihnen bevorstand. Sie glaubten, sie würden in Sicherheit gebracht und zurückkehren. Ja, wann denn? Immer weiter hatten sie sich von zu Hause entfernt, bei jedem Halt die Tasche und den Koffer umklammert. Gertrud hatte sich am Koffer festgebunden, um die Hände für die Kinder freizuhalten. Hedwig sah Gertrud an, und die wurde an Frau Kolbe erinnert. Störte Hedwig die Jungsche im Haus? Die hatte keine Kraft mehr, ihrem Mann zu schreiben. An eine Feldpostnummer. Ihr Ernst verlor sich in diesem Russland. Außer Schnee nichts, wenn er erzählte, was er gesehen hatte, Birkenwälder, Steppe, Gleise, auf denen Militärzüge irgendwohin an die Front fuhren. Ich brauche meine Kraft, um zu leben. Sie dachte seltener an ihn. Zu den Geburtstagen war er mit Blumen nach Hause gekommen. Es starben so viele. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Ein Schritt genügte, der den Menschen in den Tod beförderte. Sie riskierte einen Blick an Hedwig vorbei und stieß mit dem Blick von Gustav zusammen, ohne zu erröten.

Grund dazu wäre gewesen, als sie eng umschlungen tanzten, die Frau aus dem Rheinland, die auch Ella hieß, und sie auf dem Tanzsaal in Dietensdorf, einmal die Woche, wenn ihre Mädels eingeschlafen waren. So ein Drang, dass die Woche schnell vergehe, die Musik wieder spiele. Sie saßen einander gegenüber, boten sich Zigaretten an, wenn Ella das Etui aufspringen ließ, rauchten, bis die letzte aufgeraucht war. Sie verständigten sich mit den Augen. Aus den Augen heraus, ohne Verbeugung, erging die Aufforderung, sie genossen sich zu drehen, zu schweben, die Musik entrückte sie. Als Ella das erste Mal von ihr geküsst wurde, auf die Wange, beim Nachhausegehen auf den Mund, wunderbar. Sie hätte erröten müssen, die Rheinländerin, die damit angefangen hatte, erst recht. Im Saal die Jugend, mit sich beschäftigt, und junge Frauen. Kein Wunder, dass sie sich beguckten? Dass sie Blicke tauschten? Dass sie aneinander Gefallen fanden und über Männer nicht mehr redeten. Sie hatte mit Ella ziemlich den ganzen Abend getanzt. Martha Kolbe war nicht begeistert, als sie uns kommen sah, und doch, mit der Zeit, irgendwie, stellte sich die Schicksalsverbundenheit ein. Gertrud hatte kein zusätzliches Bett zum Zudecken, als sie die Rheinländerin mitbrachte.

Als Hedwig von Frau Kolbe erzählen hörte, schwieg sie. Frau Kolbe hatte Kartoffelsuppe gebracht. Am Sonntag drauf stand der transportable Herd da. Da hab ich mich aufgerafft, sagt Gertrud, und gewischt. Sogar ein Sonntagsessen gabs, Fleisch, Soße, wie eine Belobigung.

 

Ich muss wissen, was mit Oswald ist? Die Scholz Ella dachte an nichts anderes. Wenn sein Schicksal nun doch in den Karten verborgen ist?

Wie sie vor dem Kartenlegen die Tischdecke abnahm, sich steif hinsetzte und mischte, Gertrud machte das vor. Ich hab sie mir dann doch nicht legen lassen.

Die machen Schmu, meinte Hedwig. Bloß Gustav, der seit seiner Soldatenzeit ein Horoskop hatte, glaubte, es gäbe Menschen, die einem sagen, was in den Sternen steht. Bei ihm wäre das eingetroffen.

Hast du nachgeforscht, fragte Ella.

Wieder erzählte Gertrud, wie sie am dreiundzwanzigsten Januar, morgens halb elf fort sind, vom Südpark aus, den kennst du. In Langenbielau sind die Kinder noch Schlitten gefahren, da hatte ich seinen letzten Brief in der Tasche, hab geschrieben, dass die Kinder Schlitten fahren. Als könne jemand bezweifeln, dass sie regelmäßig geschrieben hatte, sagte sie, ich dachte anfangs, die hätten die Poststelle anderswo hingesetzt, bis Breslau wieder sicher ist. Bin ins fremde Bett gekrochen, die Kinder rodelten. Die Gegend dort ist wunderbar, der viele Schnee, sagte sie zu Gustav. Wir standen am Fenster, die andre Frau und ich, hinter uns vier Betten für fünf Kinder und uns zwei Erwachsne. Die Deckbetten hätten wir am liebsten mitgenommen.

Solche Betten hat Frau Richter uns geschenkt, Gertrud. Hedwig winkte ab. Es erfreute sie trotzdem, dass sie das erwähnte, sie hatte nichts eingebüßt.

In Görlitz hab ich wieder geschrieben. Bei Ernst waren sicher schon die Russen. Ich soll einen Brief einwerfen, der liegenbleibt, und bin bei der Post?

Wenn Georg lebt, sagte Hedwig zu Gertrud, mein Schwiegersohn, wird er in Gefangenschaft sein.

Das Mädchen, das hereingestürmt kam, sah verschämt zu der Fremden und schmiegte sich an.

Ich bin die Gertrud, wir sind beide von Breslau, wenn du die Hertl bist. Sie streckte die Hand aus, und du sagst mir, wie alt du bist.

Hedwig setzte Kartoffeln auf.

Ich denke, ich schaffs, wenn uns der Russe reinlässt. Alles macht nach Hause, die Rheinländer, die fielen sich als erste um den Hals, die beglückwünschten sich, dass der Krieg aus ist, und ich sitze in Dietensdorf. Die aus dem Osten guckten belämmert zu. Der das Motorrad gerettet hatte, hat die Briefe mitgenommen nach Köln. Die stellt er den Evakuierten zu. Warum habe ich kein Motorrad zum Auskundschaften?

Gustav sagte weder ja noch nein. Hedwig zögerte.

Sie sind skeptisch, ich merks, bins vielleicht selber.

Aus Hirschberg die Frau, mit der ich mich zusammengetan hab, bevor ich losgemacht bin, sagte: Aus dem Westen sind die meisten zurück nach der Heimat, sie hätte auch Lust, da laufen wir eben. Was ich gelaufen bin, hat die, die ich meine, zu mir gesagt, die Blasen heilen nicht mehr zu, die ist dann in Stollberg bei der Kartenlegerin gewesen. Die fünf Pfund Reis und soviel Erbsen haben wir auch gleich in Empfang genommen, die Arme taten mir ordentlich weh vom Tragen, denn zwei und eine halbe Stunde braucht man bis Stollberg, zurück dasselbe. In Breitungen sind wir, meinte Gertrud, als sie davon berichtete, nochmal bei einer Kartenlegerin rein, und in Sittendorf hab ich Frau Biskuz und Frau Miskalla besucht, die Namen weiß ich, die hab ich noch nie gehört.

Johannes unterm Tisch spielte an den Zipfeln der Fransendecke und hörte zu, was spannender war als das Buch, auf dem er lag. Mit nichts ist die Tochter von Frau Miskalla von Chemnitz gekommen, sagte Gertrud, die hat beim Bombenangriff die letzte Habe eingebüßt.

Wird Dietrich mich finden? Im Sägewerk stehen die Kisten. Er wird in Gefangenschaft sein, sagte Hedwig, damit das Fragen von Johannes aufhörte.

Alle wollen sie zurück, das war genau zur Kirschenzeit, sagte Gertrud, da sind die Amerikaner abgerückt, und die Russen kamen an.

Sind dort die Kirschen eher?

Ich muss die Kartoffeln abgießen. Hedwig stellte Gertrud Teller hin.

Den Russen schmeckten die Kirschen, wunderbare schwarze Knorpelkirschen, die dort wachsen.

Die Kartoffeln dampften.

Genau in dem Moment sehe ich, wie das Auto mit der roten Fahne anhält.

Fang an zu essen, Johannes. Sonst redet der Junge in einem fort, bei ihr sagt er nichts, verschlingt von ihr jedes Wort. In Gedanken nannte Gustav sie Gertrud.

Der Bürgermeister, der uns die Decken zuteilte, den Ofen aufstellte, den hatten die Amis abgesetzt, wie ich ihn treffe. Von dem hab ich gehört, dass in Agnesdorf, auf Motorrädern, Russen sind, auch welche, die deutsch können, da hat er die Parole ausgegeben, dass geflaggt wird und geschmückt. Na, die Begeisterung, sagte sie zu Hedwig, können Sie sich vorstellen, dass das schon wieder damit anfängt. Die dachten hier alle, der Ami bleibt, die Russen sind Gerücht.

Die machen das Fahneraushängen vor lauter Angst, denke ich. Mit einem Blick streifte sie ihn, als könne Gustav auch Pg. gewesen sein. Er nahm eine Messerspitze Salz auf die Kartoffel. Nach einer Weile sagte er: Sie denken wohl, ich bin auch einer gewesen.

Russen hab ich auch gesehen, sagte Johannes, der eine hat mir den Kinderwagen geschoben, in dem Jürgen saß.

Die Russen kamen auf Mittag zu, und an drei Stellen gabs eine Fahne, berichtete Gertrud. Von uns hat die niemand rausgesteckt, ich bin aufs Rübenfeld.

Gibt’s hier im Dorf auch Russen, fragte sie?

In der Gerberei sind welche.

Wenn das Valtental Rabatz macht, geb ich Ihnen ’ne Trillerpfeife, Gertrud. Hatte Hedwig gehört, dass ihm der Name rausgerutscht war?

Die kommen nachts, das sind Versprengte. Fenster und Türen sind verrammelt. Gustav hatte Balken vorgelegt.

In Dietensdorf sind sechs Mann geblieben, über Nacht, die Nachbarin schlief bei mir.

Zuletzt hat der Kunstmaler Busse in der Kammer geschlafen, die ich für Sie vorbereitet habe, sagte Hedwig, Herr Busse malt inzwischen wieder in Wilhelmshaven seine Schafe. Für die Lüneburger Heide, hab ich ihm gesagt, damals, geb ich die Kammer her.

Gertrud sah das Bildchen, lachte. Sie fing einen Blick auf, als sie sich über den Teller beugte. Gefühle sind stillgelegt, sagte ihr schneller Blick, wenn du das denkst. Denkst wohl, ich hab keine Brust.

Der Krieg hat die Männer ausgedünnt, dachte Hedwig. Sie zeigte Gertrud die Bodenkammer, und wieder zog Alltag ein.

18

An der Neiße bin ich umgedreht, und wie ich mich durchs

Gebüsch zwänge, höre ich schießen

Tage vergingen, doch es regnete. Die Polen lassen Flüchtlinge aus Oberschlesien nicht zurück, heißt es. Gustav stand am Fenster, sah in den Regen. Sie nehmen mir auch allen Mut, sagte die junge Frau. Die Leute werden nach Mecklenburg verpflanzt, nichts zu essen, hundertfünfzig Gramm magres Rindfleisch pro Person, hundert Gramm Butter. Zwei Zentner Kartoffeln für jedes Jahr, wir werden hungern. Die Hälfte von der Ernte verlangt der Feind, keine Pferde, keine Zugmaschinen, alles durch Menschenkraft schaffen. Ich muss roden, den Klötzerplan urbar machen.

Gertrud stellte sich an das andere Fenster, als sei sie schon weit weg.

Wir haben die Ziege, bloß gut, sagte Hedwig.

Danke für alles.

Ich habs gern getan. Hedwig nannte die Fremde Gertrud.

Wir haben wenigstens eine Bleibe. Du beklagst die Weltläufte, Gustav. Gertrud war auf die halbe Treppe gegangen, die hatten in Breslau Wasserspülung, Gustav. Sie machte Wasser warm.

Gertrud wusch sich die Haare. Wie lebt eine junge Frau ohne Mann? Wie lebte Edith damit? Von den Amerikanern hatte sie flüssige Seife zum Haarewaschen bekommen.

Abends machte Hedwig den Mädchen Badewasser. Johannes brachte die kleine Zinkwanne vom Boden. Gertrud wunderte sich über die Betten in der Bodenkammer, die vollgestopft war mit Betten. Wo die her sind? Aus der Mühle, geerbt. Mit einem Bett fängt es an, sagt die Oma, und als er mal fragte, für wen die Betten bestimmt wären, hat sie gelacht, na, für dich, und wenn du Kinder hast, für die. Zuerst wurde Erika gebadet, im selben Wasser Hertha, und weil er nicht weggeschickt wurde, blieb er sitzen und besah sich, während er tat, als male er mit Herthas Buntstiften, das nackte Mädchen, das den Bauch herausdrückte. Er hatte noch nie Gelegenheit, eine Mädchenpflaume so genau anzugucken. Als Ella die Mädchen schlafen legte, in die Kammer, die vorher Horst gehörte, fragte Gertrud, was er sich so gründlich angesehen hätte. Johannes tat, als verstehe er nicht, da sagte sie, na, was die Mädels haben, wo bei dir ein Schwänzel hängt, das möchte ich hören. Musst nicht dumm tun, mir kannst du’s sagen. Er zögerte. Dafür guck ich dir in die Hand. Aus der Hand lesen, machte ihn neugierig. Pflaume, sagen die Jungs, antwortete er verschämt, Pfläumel. Huch, Pfläumel. So was Süßes. Gib mir deine Patsche. Sie streckte die Hand aus. Fremd war ihm das Wort nicht. Kinder gaben Patschhändchen. Na, gib sie schon her. Nicht die, die andre. Sie tippte auf seinen Handteller, zog Johannes zum Fenster. Da sah er, wie schmal sie war. Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie gleich was sagen, als Ella hereinkam.

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