Abschiednehmen

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Mensch, Dietrich, sag ja, nach dem Sieg braucht Deutschland Männer, die was können.

Der Leutnant, dünn, Brille, während er sich erhob: Deine Mutter muss sowieso erst zustimmen, Du musst ihr schreiben.

Dietrich hatte noch eine letzte Frage, was es kostet.

Der Einarmige wollte längst fort sein mit den Unterschriften. Nichts. Wird alles gestellt. Also, ja? Sie nickten, nahmen Haltung an. Kannst die Kreisleitung anrufen, der Leutnant saß schon hinter dem Fahrer.

Rüger als Untersturmbannführer bestätigte, dass am Bodensee, wenn der Kriegsverlauf es erlaubt, Napola-Schulen eingerichtet werden.

Du stehst vor der Entscheidung, HJ-Führer zu werden, schreib ihr das, drängte Manfred, dass du in der Entscheidung stehst.

Dietrich schüttete den Tornister aus, konnte die Tintentablette nicht finden. Gustav brachte Tintenstift und Blaupapier.

»Mutti, liebe Mutti, Du brauchst Dir keinerlei Sorgen zu machen, denn Latein fällt in einem großen Teil der Anstalten weg. Wohin wir kommen, weiß ich noch nicht sicher. Soviel ich gehört habe, werden in der Bodenseegegend neue Anstalten errichtet. Wir freuen uns schon riesig auf die NPEA und das pfundige Leben dort. So schnell als irgend möglich bitte ich Dich, das beigefügte Formular ausgefüllt und mit Deiner Unterschrift zurückzusenden, damit ich rechtzeitig zur Prüfung einberufen werde.«

Hedwig nähte. Dass Edith nicht ankam, was versprochen war, beunruhigte sie. Meine Mutti unterschreibt, hoffte Dietrich. Dass seine Mutter unterschreiben wird, davon war Manfred, Manne, überzeugt: Deutschland braucht Männer, hättest du noch schreiben können. Sie wird schon unterschreiben, sagte Hedwig.

Ostern sollen wir eintreten.

Wenn der Brief ankommt.

Gustav sah, wie Hedwig die Augen schloss. Nicht weiterreden hieß das, du kannst nicht helfen.

Das wird dir kein zweites Mal geboten, hat der Leutnant gesagt, Dietrich wiederholte das, oder willst du, dass ich immer nur mit kleinen Posten und Pöstchen zufrieden sein soll? – das schreibe ich noch hin, und wenn sie sagt, dass erst Vati einwilligen muss, sage ich ihr, sie darf in seinem Namen auch unterschreiben.

Noch geht die Post, sagte die Postfrau, als sie die Briefe mitnahm.

Hedwig wollte das bisschen Hoffnung nicht zerstören. Wenn’s so ein Lager am Bodensee gibt, wird’s schon klappen.

Sollen sie die Jungs hinbringen, sagte Gustav, als sie allein waren, vielleicht bleiben sie da am Leben.

Sag nicht so was!

Post kam, die allerletzte vielleicht überhaupt, die bei ihnen ankam. Die Briefträgerin winkte. Post, rief sie über die Wiese. Gustav war beim Grabenräumen, damit die Wiese nicht versauerte.

Dietrich hatte den Umschlag zwischen den Lippen. Manfred öffnete den Brief. Sie unterschreibt nicht, nicht ohne Vati. Dietrich fluchte: Die sollen mir den Verband abnehmen, damit ich kämpfen kann.

Schreib, dass ihr ausgebombt seid, sagte Gustav, um überhaupt was zu sagen, er sah, wie der Junge schluckte.

Fritz musst du anrufen, wenn einer helfen kann, dann er, sagte Manfred. Fritz Rüger brachte den Anruf zustande. Die Verbindung zur Kreisleitung stand, aber der Leutnant war abkommandiert.

»Du schreibst, ich soll keine politische Laufbahn einschlagen. Aber ist das ein Grund, mir die Unterschrift nicht zu geben? Außerdem stehe ich sowieso vor der Entscheidung, HJ-Führer zu werden und die Schule sausen zu lassen. Gehe ich auf die NPEA, umso mehr kann ich im Beruf später erreichen. Entweder Nationalsozialist oder Christ, das ist die Entscheidungsfrage. Die Wetterfahnen, die Unentschiedenen, die Lauen, bloß die stehen dazwischen, und das kannst Du nicht wollen. Also, liebe Mutti, ich warte sehnsüchtig auf Antwort. Ach, hättest Du den Brief schon erhalten und unterschrieben. Vor einem halben Jahr habe ich mich zur SS gemeldet, freiwillig, ohne so kerngesund zu sein, wie nötig, der Eintritt in die NPEA ist die ganz natürliche Folge dieser Bereitschaftsmeldung. Bitte, liebe Mutti, überlege das alles noch einmal, dann unterschreibe, du tust es in Vatis Sinn.«

Wochen später brachte die Brieffrau die Post, der Brief war liegen geblieben. Jemand muss ichs ja geben, sagte sie.

5

Jahrgang dreißig stellt sich zum Schanzen von Panzergräben bereit

Der Bann war angetreten. Fritz Rüger, feines Gesicht, wie Hedwig fand, wartete auf Panzerfäuste und Spaten. In der Küche hat er kaum gesessen. Persönliches vermied er, bis auf das eine Mal, als er von Dresdner Hinterhof-Festen schwärmte, vom Indianerspielen da. Ich hatte einen Indianerkopfputz aufgesetzt, sagte er. Die Erinnerung brachte einen Moment Glanz in seine Augen. Hedwig empfand das so. Die Mädchen gingen anders, sagte er, spitze Papierhütchen hatten die auf, das war drollig.

Aufgefrischtes Uniformzeug wurde am Sägewerk ausgegeben. Jahrgang dreißig stellt sich zum Schanzen von Panzergräben bereit, rief jemand. Der Arzt, der die Freiwilligen auf SS-Tauglichkeit untersuchte, das Stethoskop vor der Brust, was er nicht benutzte, sagte: Nicht zittern beim Abziehn, Pflaster reicht, sagte er und warf einen schnellen Blick auf Dietrichs Hand. Mich brauchen sie nicht, maulte Manfred, das Hemd hätte ich anlassen können. Dietrich bekam Uniformhose, Jacke, Unterzeug, gebrauchtes Zeug, passte nicht zusammen. Einige hatten einen Stahlhelm ergattert. Keine Stiefel? Dem Russen ausziehn, scherzte einer. Hedwig verging das Lachen. Johannes mit Wintermütze, die ihm über die Ohren gerutscht war.

Einen Spiegel! Manne zog Dietrichs Uniformjacke über, hüpfte durch die Stube. Verdammte Krücken, rief er und lachte, als Gustav seinen Rasierspiegel brachte. Er hatte das Glasauge nicht drin, und du sagst nichts, Hedwig.

Jetzt eine MPi. Manne legte die Krücke an, rrrratata, rrrratata.

Hör auf, herrschte Hedwig den Jungen an.

Ist bloß Spaß, Frau Richter.

Am Sägewerk übten sie den Gebrauch der Panzerfaust. Neben Gustav Fritz Rüger. Sie sagen nichts, Herr Richter. Ja, was sollte er sagen? Männer, die sich vorm Maschinengewehr um die eigene Achse drehten, sah er, und wenn er im Traum redete, wachte Hedwig auf und fragte: Is was, Gustav?

Der mit der Panzerfaust wollte ans Ziel kriechen, sprang auf.

To-ot, du Nase.

Aus der Deckung musst du anlegen!

Irgendwann war Schluss damit.

Gegen Abend sammelte sich Rügers Trupp am Waschhaus. Sie hatten ein Schwein abgestochen.

Wo wird der Leutnant rumschwirren mit seiner Liste? Am Bodensee kommen wir nicht zum Einsatz, dachte Dietrich.

Hedwig kam. Was haben wir für Schweineschlachten veranstaltet, sagte sie, der Vater und ich, aber nicht so.

In der Waschhausküche waberte Schweinernes. Der das Schwein abgestochen hatte, wartete auf seine Portion. Schmeckt mir nicht mehr, sagte einer und rührte im Kupferkessel.

Gustav schnitt Wellfleisch in Portionen. Kriegst das erste, Kamerad, für deine Leistung.

Tot ist tot, sagte der Schweineschlächter.

Mädels werden gebraucht, rief Manfred, dem die Stimme überschlug, als in tailliertem Mantel eine junge Frau erschien, mit ihrem Kind auf dem Arm, das ein weißes Wollmützchen aufhatte.

Ich bins, Vater.

Bloß gut, dass du da bist.

Manfred stand auf Krücken, kaute, kam auf Edith zugehinkt.

Dir bin ich böse, Kind, sagte Hedwig.

Es hat gedauert, alles ging ja rasend schnell.

Dir bin ich böse, Hedwig wiederholte sich, da standen sie schon auf der Treppe. Sie sprengen die Brücken. Ich bleib noch, sagte Edith, damit dem Johannes nicht schlecht wird, den muss ich erst mal suchen.

Schmeckt bloß mit Salz, Wellfleisch. Schön, dass du da bist. Johannes schmiegte sich an seine Mutter. Esst euch satt, sagte sie zu den Jungs, die herumstanden und sie nicht kannten, als der, der das Kommando führte, die Kabelleuchte an der Waschhaustür hochhielt: Wir kommen zum Einsatz, Kameraden!

Ich bin die Mutti, sagte sie zu Dietrich, auf den Johannes einredete, aber der hörte nicht mehr zu.

6

Diese Jugend opfert sich für Deutschland! Sie waren Soldat, Ihnen übergebe ich den verletzten Kameraden in Ihre Verantwortung. Rüger gab das Zeichen zur Abfahrt

Bei Anbruch der Nacht in der Küche begegneten sie dem SS-Untersturmführer Rüger zum letzten Mal. Auf Hedwig wirkte er entspannt. Sie werden erlauben, er setzte sich zu Gustav an den Küchentisch, Sie waren Soldat, Ihnen übergebe ich den verletzten Kameraden in Ihre Verantwortung. Diese Jugend opfert sich für Deutschland!

Hedwig suchte Gründe, damit Dietrich bleiben konnte. Rüger verabschiedete sich. Gustav begleitete ihn bis an die Treppe. Sie brauchen jeden, Hedwig, sagte er, nichts zu machen, die sind zu allem entschlossen.

Sie konnten beide nicht einschlafen.

Gustav, ich hab Angst.

Schlaf jetzt.

Wie denne?

Schlafe, Hedwig.

Niemand weiß, was wird. Sie deckte Johannes zu, der aufgedeckt lag. Edith schlief mit dem Kleinen in Vaters Stube auf dem Kanapee. Ich hoffe, Georg lebt.

Wie ich bei ihr war, beim letzten Besuch, Muttel, wie ich auf der Messergasse war und ich nach Alfred fragte, fing die Mutter an zu weinen, und Georg? Georg, hat sie gesagt, lebt, ich spürs.

Ich muss nachsehn, was mit Christiane ist; die räumen die Stadt vor dem Russen. Ich nehm das Rad, sagte Gustav. Ich bin in Gottes Hand, hatte die Mutter zu Edith gesagt.

Hedwig erinnerte an Georgs letzten Urlaub, als Johannes in die Stiefel stieg und umkippte. Weil der nicht bis runter reichte, sagte Gustav, inzwischen passt er rein, der ist gewachsen.

Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, deswegen erzähl ichs, nicht wegen der Stiefel: Russland, hat er gesagt, Hedwig, Russland, so richtig vorstellen kann sich das niemand von euch.

 

Ich hab das vergessen, sagte Gustav.

Ich nicht, ich kriegte Angst, wie er das sagte.

Sie schwiegen. Adele sagt, wenns nötig wird, gehen wir auf die Flucht.

Adele ist meschugge.

Das kommt nicht von Erwin.

Von der Selma, Gustav, die bereden das, wenn sie beim Erwin Skat spielen im Herrenzimmer.

Glaub ich nicht, Hedwig, schon wegen Rafeld.

Entscheiden tut Adele.

Denkst du, dass Edith mit fort will?

Das werde ich ihr verbieten.

Sie redete nicht weiter, sagte nichts mehr. Seid doch beide so, hätte sie sagen können, sinnlos, wir könnten die Mühle noch haben, wenn du auf mich gehört hättest, aber sie schwieg.

Sollen Sie den Herrn Poike fragen, den sie ausgeflogen haben, ob sie flüchten soll.

Hedwig erwachte in Sorge. Inzwischen ängstigt mich alles. Werden die kämpfen müssen, die Jungs? Auf dem Flur hörte sie die Krücken. Hast du dein Auge?

Johannes sprang aus seiner Besucherritze. Die sind schon unten. So schnell hatte er sich noch nie angezogen. Die haben bestimmt alles eingepackt. Meine Sperlinge fliegen fort. Er verstand, was sie meinte.

Dietrich stopfte Verbandszeug in die Tasche. Den Wecker hol ich später mal, die Tintentabletten, Manne, sind für dich, wenn du mir schreibst.

Manfred hüpfte ans Fensterbrett, blieb stehn, auf einem Bein, sah in den Teich, der von Entengrütze überzogen war. Die Weiden ließen die Äste hängen, die hatten schon einen gelben Schimmer.

Die Jungs vom Infanterie-Ersatz-Bataillon stellten sich am Lastwagen auf. Dietrich schob sich die Mundharmonika in die Brusttasche.

Weil Platz fehlte, entschied Rüger, dass die Kisten zurückbleiben. Die werden später geholt. In so einem Moment, dachte Hedwig, die dabei stand, sagt man besser nichts. Die Jungs hockten sich auf der Ladefläche hin, aneinandergedrängt, kaum dass sie redeten. Manfred ließ die Krücken fallen, schnellte hoch. Rüger gab das Zeichen zur Abfahrt, da beugte sich Dietrich in seinem viel zu langen Mantel herunter zu Johannes, gab ihm was, und Rüger setzte den Jungen in den Beiwagen. Was Rüger rief, als er sich aufrichtete, rauschte vorbei. Bis zum Wald! Einer von den Soldaten hatte die Maschinenpistole vor der Brust hängen. Auf der Ladefläche sahen die Jungs mit ihrem Seitenscheitel und den ausgeputzten Ohren aus wie in ein Gesicht zusammengefasst.

Die Straße war leer, als Johannes die Tränen abgewischt hatte und ankam. Hedwig sah als erste, was der Junge mitbrachte, den Dolch.

7

Die Kurlandarmee ist längst eingeschlossen, Post von Georg kommt nicht mehr an

Schmieröl riecht. Der Karabiner lag auf dem Esstisch.

Gustav war zuerst aufgestanden, hatte das Auge eingesetzt, die Fransendecke zusammengelegt und Feuer gemacht. Hedwig saß auf der Ofenbank. Die Jungs hatte der Krieg verscheucht, bis auf den einen, der Wasser einlaufen ließ. Das weckte Edith, die in Vaters Zimmer geschlafen hatte, Jürgen im Gitterbett, Johannes bei den Großeltern in der Besucherritze, solange die Schule ausfiel.

Die Tür zwischen den Stuben stand offen.

Zudrehn, rief Edith.

Sie nahm Jürgen aus dem Bett.

Hast du Georgs Mutter nochmal gesehn, fragte Hedwig?

Sie sagt, ich bin in Gottes Hand. Sie fürchtet sich nicht.

In großer Eile war sie auf der Messergasse die steile Treppe hochgestiegen. Die Engigkeit, Muttel, in der Georg groß geworden ist.

Vater ist mit dem Schiff von England zurückgekommen, bei den Kriegszeiten damals, der Krieg ist zurück. Dass der Untermieter bei Edith eingewiesen wurde, wusste sie, der Eisenbahner, der eine Art Soldat war, verheiratet war und eine Tochter hatte.

Muttel, ich hab mich wieder an die Strahwälder Mühle erinnert gefühlt, die war das reine Paradies, verglichen mit der Messergasse, in der Georg groß geworden ist.

Kind, ich getrau mich nicht zu fragen.

Nichts, Muttel. Georgs Mutter hat auch keine Nachricht.

Die Kurlandarmee ist längst eingeschlossen, meinte Gustav, Post von Georg kommt nicht mehr an.

Bei den Schwiegereltern hatte sich Georg wohlgefühlt, jung wie sie waren, frisch verheiratet, in der Valtenmühle mit viel Platz, den durchgehenden Zimmern, dem gefangenen Zimmer ohne Ofen, zwei Kammern für Besuch, die Speise- und die Bodenkammer. Georg hatte sich nützlich gemacht, beim Kohleholen oder wenn er Äpfel holte, Eingewecktes heraufbrachte, die Ziege fütterte, den Hühnerstall aufmachte und Körner hinwarf. Die Messergasse war sein erstes Zuhause. Du kennst Vaters Mühle nicht, unsre Mühle, schwärmte sie, als ob Platz haben alles gewesen wäre. Jürgen weinte. Der Junge weint zu oft, dein Kriegskind muss mehr an die Luft, Edith, sobald es warm wird, bloß gut, dass Vater Feuerung rangeschafft hat.

Seit allenthalben Fahnen wehten, war es nicht mehr wie früher gewesen auf dem Finanzamt, unter Beamten, zu denen Georg jetzt gehörte.

Die dumme Hochzeitszeitung, in der das von der Uniform stand, für die er sich schämte, ich hätte vorher was sagen müssen, du hast nicht wissen können, Hedwig, dass ich kein freier Mensch mehr bin seit der SA. Hedwig bekümmerte, dass Georg deswegen so wütend werden konnte.

Die Wohnung mit Verbindungstüren, den breiten Fenstern, dem Teich, dem Gartenland, Hedwig konnte nicht sagen, dass ihr die fast herrschaftliche Wohnung zuwider war, die Gustav gemietet hatte, statt vom Rest des Vermögens ein Haus zu kaufen, ein schönes kleines Haus. Lässt sich stattdessen mit einem Gutbesitzer ein, diesem Fettsack, der Gustav als seinen Verwalter einsetzte. Weil er die Valtenmühle kaufen wollte, von allem, was er noch besaß, was die Lebensversicherung bringen würde und der Handel mit den Mühlen- und Bäckerartikeln eintrug. Hedwig, die diesen Schlussstrich zog, erschrak. Am Ende war die Krise schuld, dass Gustav die Mühle nicht halten konnte, er selber hatte sie zu groß werden lassen. Gustav konnte das Geschäft nicht erbremsen, das Rad nicht anhalten, das dann die Krise anhielt.

Vielleicht hätte Edith zu einem anderen Mann besser gepasst als zu Georg, so einem Verwaltungsmenschen, Umstandskasten, Beamten. Ich tu ihm Unrecht, ich weiß, dachte sie, er steht bloß dort, wo er hingestellt worden ist in diesem unendlich fernen Russland.

Gustav baute den Karabiner auseinander, seinen Weltkriegskarabiner. Kaum dass der Trupp auf dem Laster abgefahren war, hatte er sein Gewehr ausgewickelt, durchgeladen, im Sitzen angelegt. Patronen hatten sie genug, Johannes hatte sie gesammelt, wie Pilze, der schlief noch. Entlang der Züge lagen sie wie gesät, an den Verwundetenzügen, die immer länger wurden, je langsamer sie fuhren. Die Soldaten leerten die Taschen aus. Was hätten sie mit dem Zeug auch anfangen sollen, wenn das Signal hochhing, bei diesem Warten? Patronen lagen auf dem Trampelweg, und seit Schluss war mit dem Zugverkehr, musste auch der Weichenwärter nicht mehr hin.

Gustav trocknete die Patronen im Schuppen, wie Pilze waren sie auf seinen alten Kuchenbrettern ausgebreitet. Hedwig, sagte er, da passiert gar nichts, ich als alter Soldat weiß das. Den Ledersack, den aus der Mühle, den er leergeräumt hatte, seit die Pferde verkauft waren, die Striegel, das Riemenzeug, hatte er beiseitegelegt, er war mit Johannes losgezogen, und unterwegs wurde erzählt, am meisten von seiner Mühle, die er in eine moderne elektrische Mühle verwandelt hatte, umgekrempelt, wenn er von Mehlfuhren redete, von Brotfuhren, den Kutschfahrten über die Dörfer und dass am Sonntag zum Frühstück selbstgebackne, knusprige Semmeln aufgeschnitten wurden; alles das und viel mehr erzählte er, und zwischendurch sammelten sie Patronen auf. Sein Handel mit Bäckerartikeln stockte, das Motorrad war beschlagnahmt und ihm weggenommen worden.

Du wirst uns alle umbringen, wollte Hedwig gestern noch sagen, während Gustav an einem dieser Tage im April, an dem Hitler Geburtstag hatte, sein Gewehr durchlud, das er bei sich hatte, meist in der Bodenkammer, seit er im Krieg Viehaufkäufer gewesen war. Das Schloss klickte.

Kein Gespräch hatte stattgefunden; sie hatte nachgedacht. Hedwig war dabei, ihre Ratlosigkeit zu überwinden, und sie tat das mit einem Lächeln, wie es in diesen Tagen selten war.

8

Die überrennen die Stadt, Hedwig, und schwenken nach Berlin

Feindliche Verbände haben die Neiße überschritten. Die Radiostimme verstummte im Satz.

In die Stadt geht’s erstmal nicht zurück, Mädel. Hedwig sagte es, sie war erleichtert. Sie blieben am Tisch sitzen, Manfred spürte, dass in seiner Gegenwart nicht über alles gesprochen wurde.

Mit jedem Tag, an dem die Autobahnbrücke am Abgott nicht gesprengt worden war, hatte sie einen Tag mehr. Der Eisenbahner leitete Züge um. Untermiete für die Eisenbahn zählte wie Einquartierung, sonst hätte Edith Flüchtlinge aufnehmen müssen. Gleich, hatte der Eisenbahner gesagt, die Hände abgeseift, die nach Schmieröl rochen, bevor er die junge Frau anfasste. Ich hab Liebe gebraucht.

Die Kurlandarmee ist eingeschlossen, wiederholte Gustav.

Du schreibst trotzdem. Ob Muttel was ahnte?

Und Dietrich?

Kämpft.

Die überrennen die Stadt, Hedwig, und schwenken nach Berlin.Soll er’s hören, dachte Gustav.

Manfred stand auf, ging vor die Tür.

Der wird eine rauchen, Hedwig.

Die Eisenbahner sind die letzten, sagte Gustav, ehe gesprengt wird.

Frau Busse wird in Wilhelmshaven sein, sagte Hedwig. Von den vielen Koffern ist einer angekommen.

Da verkehrten noch Züge, als Busse abdampfte mit dem Rucksack und seinem Malköfferchen, sagte Gustav.

Busse hat mit Bildern bezahlt, sagte Edith, die Jürgen auf dem Schoß hatte.

Den Busses gings gut.

Du musst wissen, Johannes, die Busses hatten die hintere Stube, vergnügte Leute waren das. So eine Lüneburger Heide hätte mir der Busse gemalt, der malte dir den allerschönsten Himmel, und die Farbe duftete.

Die allerschönsten Birken, Hedwig.

Beim Busse rücken die Amerikaner vor.

Wenn die ihm keine Bombe auf die Nase geschmissen haben.

Gustav!

Manfred blieb draußen. Dann eben nicht.

Muttel, manchmal hab ich Angst.

Hedwig räumte ab.

Johannes fragte nach der anderen Oma.

Die kann ganz schlecht laufen.

Sitzt sie im Keller, wenn geschossen wird?

Bestimmt.

Dietrich auch?

Vielleicht.

Die Ordnung war am Zerbrechen, aber was bedeutet das, die Ordnung zerbricht? Heißt das: nichts mehr pflanzen, den Feind lieben oder sich verkriechen? Gustav hatte Dünger gestreut, die Gräben auf der Wiese gesäubert, seit der Winterschnee weg war, Stecksalat im Frühbeet ausgepflanzt, umgegraben, Mist gefahren, die mittelfrühen Kartoffeln gesteckt. Es sah nach Regen aus. Das Dorf läuft über von Flüchtlingen. Der alte Milius hatte seine Töchter, die beide ausgebombt waren, in Chemnitz, ins Geschäft genommen, seitdem ging seine Gärtnerei aufwärts. Die Tochter mit dem hellen Gesicht ist verwitwet, der Mann auch Beamter, die andre hofft noch, dass ihr Mann lebt. Meine Enkel vermissen die Stadt nicht, soll er gesagt haben.

Ich habe Angst vor den Russen, Vater.

Der Gärtner sagt mir, dass Leute haben Rauch aufsteigen sehen, vom Kleebusch aus, das kann bloß Bautzen sein. Das war gestern, Hedwig. Edith war am Weinen.

Hedwig, ich werde zum Kleebusch fahren.

Unmöglich, ihn umzustimmen. Beleibt, wie sie war, stand sie da. Gustav, du drehst rechtzeitig um. Versprich der Muttel das.

Er pumpte das Fahrrad auf, zog die Joppe über, setzte die Ledermütze auf.

Sie sahen vom Fenster aus, wie Gustav das Fahrrad am Teich vorbei zur Straße schob.

Sie warteten. Die Zeit verging nicht, und es wurde dunkel. Hedwig hatte Kartoffeln gestampft, Schmerz spürte sie, der auf die Galle drückte.

Sie glaubte, er käme, war eingenickt, als er durch die Tür trat.

Rauch über der ganzen Stadt, das war heute, am einundzwanzigsten April, an diesem späten Sonnabend, sie redeten über nichts andres. Zum Brechen übel war mir, Hedwig, vom Magen stiegs in den Kopf, wie ich das sehe. Die Ordnung ist am Zerbrechen. Ich bin übers Rittergut hoch zum Kleebusch, berichtete er, und weit draußen im Lande die Stadt, Bautzen, die Straße zog sich in die Länge wie eine Binde beim Abwickeln, dort hab ich lange gestanden und gesehen.

Die Flüchtlinge strömen in die Täler. Die Dörfer sind wie Eimer am Überlaufen.

 

Im Regen waren die Rauchfahnen über der Stadt zergangen, nichts mehr davon zu sehen, anders als vor Tagen, als er von der Kleebuschkuppe ins Land hinaussah. Hedwig, sagte er, ich will wissen, ob sie lebt. Sein Entschluss stand fest. Diese Verwegenheit erfasste ihn manchmal, wie seinerzeit, als er seine Maschinengewehrschützen herunterführte, rechtzeitig, bevor das Regiment im Beschuss unterging. Du riskierst, dass du das Leben verlierst. Trotzdem, ich fahre. Angeblich hat sich der Russe zurückgezogen. Hedwig hatte ein Säckchen Kartoffeln in den Rucksack gesteckt, Brot eingewickelt, Wischtuch, Kerzen, Streichhölzer, den Löffel, sein Taschenmesser. Die Luftpumpe ließ er rausgucken. Hedwig hatte er umarmt, in den Kinderwagen geguckt, dem Großen ein Zeichen gegeben, Edith gedrückt und war dann losgefahren.

Verlassen lagen die Felder. Es nieselte. Wie wird sich das Land ernähren? Weiße Tücher heraushängen wurde bestraft, es hingen auch keine. Barchentnachthemden, kragenlose, wie er welche hatte, ohne Bewegung auf der Leine. Hemden, die nicht mehr abgenommen wurden. Er fuhr den Berg runter ins flache Land. Mit diesem Tempo. Stützte sich auf den Lenker. Hultsch Robert, Hedwigs Schulfreund, hat Recht behalten, ich habe ihm nicht geglaubt, wie’s enden wird. Er hatte Georg vor Augen, plötzlich, wie der aufs Fahrrad stieg, umständlich, als hätte er nie auf einem Fahrrad gesessen, Beamter, wie der erste Mensch, das Beamtengesetz regelte sein Leben. Jetzt schien die Friedenszeit zusammengedrängt wie auf einen kurzen Tag. Was war übrig geblieben von der Volksgemeinschaft? Gustav war zum Abschied mitgegangen, wo sich Georg an der Kantkaserne anstellte, mit Edith, Johannes im Sportwagen. Mit Pappkarton und Köfferchen Georg. Edith tailliert. Jürgen noch nicht geboren. Georg in seiner Schreibstube, von der er berichtet hatte, wenn es sein Büro noch gab, als sie Leningrad belagerten.

Gustav ließ das Rad rollen. An der Straße weggeworfenes Zeug, weggeschmissen, weil den Leiterwagen keiner mehr die Berge raufzog, mit allem was die Menschen aufgeladen hatten. Die Behälter zum Aufsammeln hätten riesenhaft sein müssen. Das Rad lief. Von dort, wohin er fuhr, von wo der Menschenstrom gekommen war, der hatte sich verflüchtigt. Bei Sonnenschein sahen die Oberlausitzer Berge aus wie in Blau getaucht, heute waren sie nassschwarz unter niedrigem Himmel.

Ein Laster blockierte die Kreuzung, das Fahrerhaus zerschossen. In der Ferne die Stadt, drüber der Dom.

Der Posten, Helm auf, jung, sehr blass. Gustav bremste.

Halt!

Lass ihn in Ruhe; der hinterm Laster hervorkam, knöpfte die Hose zu.

Erst herzeigen.

Na, mal langsam.

Schneid dir was ab vom Brot, sagte Gustav. Wie siehts aus bei dir da hinten?

Wie die Teufel haben die gekämpft, bis wir zugemacht haben.

Und?

Der Junge schwieg, redete dann doch.

Sie sagten Gustav, wie er über die Spree drüber konnte.

Der Brückenbogen lag zerschmettert im Fluss. Es hatte Häuser zerquetscht. Die Wolken zerteilten sich, und Gustav entdeckte die Michaeliskirche, die ihre schlanke Spitze verloren hatte. Die Holzbrücke an der Hammermühle lag im Wasser. Eine Frau auf der Leiter, an der Ufermauer, angelehnt, die stieg die Sprossen rauf, mit einer Hand hielt sie sich fest, mit der andern was Zusammengeschnürtes. Sie stand auf der Mauerkrone, wandte sich um, entdeckte ihn, winkte.

Er bugsierte das Fahrrad, wie sie das Bett bugsiert hatte, lachte. Das erste Lachen an diesem Tag, und stand einer jungen Frau gegenüber.

Von Breslau bin ich. Der Russe hatte uns eingeholt, und jetzt erst sah er den schwarzen, engen Mantel, den sie anhatte.

Viel war nicht zu sagen inmitten von solchen Trümmern. Falls Sie nicht weiter wissen, finden Sie uns, lachend wiederholte sie die Adresse. Die Mühle merke ich mir. Ich komme bestimmt.

Wenn die Welt noch steht.

Sagte er das, sie, beide gleichzeitig?

9

Sie haben Besuch! Sie spürte den Luftzug. Du lebst, Christel

Glas knirschte. Gefangene mit eckigen Mützen hantierten mit Schaufeln, es klirrte. Die Bewachung in Abstand. Wirklich, ein Pole lächelte. Vielleicht weil Gustav das Fahrrad trug. Ein Panzer war aufgerissen. Wenn Granit brennen würde, wäre nichts übrig, dachte Gustav, am Mauerwerk Einschüsse, ein zweiter Panzer, die Kanone zur Brüdergasse gedreht, an der Zufahrt zur Schloßstraße. In die Messergasse sah er hinein, Brandruinen auf der Seite der Schloßschenke, auch die Schenke war ausgebrannt. Das schmale Haus mit dem dreifachen Spitzgiebel aber, die lange Fassade, die dem winzigen Gärtchen zugewandt endet, stand unversehrt. Ihr Küchenfenster mit Packpapier zugeklebt, ein Guckloch.

Die schmale Tür stand offen, kalt kam es heraus aus dem Durchgang, und der Salpeter an der Wand, den niemand wegbekam, klebte wie Gift.

Halt!

Ich bleib ja stehn.

Sie sind gewarnt, sagte die Stimme.

Ein Uniformierter versperrte den Zugang zur Treppe, zum Abort, zu einer Abstellkammer, davor die Tür zum Gärtchen.

Gustav redete.

Sie hört schwer. Besuch, Sie haben Besuch!

Sie spürte den Luftzug, der von der Tür über der schmalen Steintreppe ausging. Sie stand in der winzigen Küche, erkannte ihn an der Schirmmütze.

Gus-tav!

Zog sie an sich, schrie ihr ins Ohr: Du lebst, Christel!

Hinter dem Papier vom Küchenfenster schimmerte es hell, sie hatte die Strickjacke bis hoch zugeknöpft, das Haar unbedeckt, hatte kein Kopftuch, trug nie eins, seit sie Stadtfrau war, das wusste Gustav von Georg, als er ihm das erzählte, das war noch zu Friedenszeiten.

Mir hat geträumt, Georg lebt, ich will auch glauben, dass Alfred lebt, setz dich zu mir, Gustav. Sie schwiegen, Christiane fasste Gustav an den Händen, wartete, bis sie plötzlich sagte: Mein Alfred ist in großer Gefahr.

Sie wollte nicht glauben, dass ihm das geglückt war mit dem Fahrrad. Sie schlug die Hände zusammen. Er bemerkte, dass er das Fahrrad auf der Gasse hatte stehen lassen. Sie hatte den Ofen angefeuert, als er zurückkam. Du hast dich für mich in große Gefahr begeben.

Am Sonntag hatte sie zwei Hauptleuten Kaffee gekocht. Im Engegässel standen sie und staunten, dass sie Knochen auf den Sims legte. Für die Vögel. Am Abend waren beide gefallen. Die Russen hatten vom Petridom geschossen.

Gott sei Dank, Wasser, Gustav, die Quelle ist im Keller, das ich von draußen bei Dunkelheit hole.

Sie betraten den winzigen Garten, ja, sagte sie, die Schmerzen gehen mit, sie ging mühsam und brachte Gustavs Jacke zum Trocknen, wollte sich nicht helfen lassen, setzte Wasser auf. Die Bombe im Haus beim Malermeister Wobst ist nicht explodiert, die Tante wäre nicht mehr, ich auch nicht. Er kehrte Schutt weg. Die Tante war ihre Schwester, sie kann die Treppe nicht mehr steigen.

Von Hedwig. Er legte den Rest Brot hin.

Was du geschleppt hast.

Musst laut reden! Das Hörgerät, auch kaputt.

Donnerstag hatte sie in der Gasse noch Brot holen wollen, da sagte Frau Linak, von gegenüber, Kriegsalarm. Sie dürfen nicht mehr raus. Da hab ich die Kristallvasen vom Alfred und die Weingläser in den Keller geschafft. Ein Schlagkrach. Sie schloss die Augen. Meine Kerze löschte aus. Von der Kellertreppe hat es die Tür zugeschmissen. Mir war, gottlob, nichts passiert. Bloß Rauch, Gestank. Sie nahm ein Schlückchen Kaffee. Hat der Hauptmann mir gegeben. Mich hat der liebe Herrgott geführt, denn wie ich die Kellertür aufmache, seh ich das Loch in der Wand bei Wobstes. Das Loch im Grasplatz ist von der Bombe, hat der Soldat gesagt, der nach mir gucken kam. Die Scheiben sind raus. Die Fenster hängen nur locker drin.

Gustav sah sie an. Züge fahren keine mehr.

Du musst dich um mich nicht sorgen … Die Tante hat eine Schmarre an der Stirn, der Soldat hat sie zugepflastert. Sie berichteten, was sie in der fensterlosen Kammer erlebt hatten, in der sie saßen, in der winzigen Schlafstube von der Tante. Die Soldaten schossen, die Russen auch.

Später sagte die Tante: Die schmissen Handgranaten, das sind die Löcher in den Dächern.

Gustav zerlegte Kartons, verschloss, so gut er konnte, die Fenster zum Grasplatz und zur Gasse.