Abschiednehmen

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Grube meinte, der Bäcker käme nicht billiger. Ich muss an meine Männer denken, die Buden haben doch alle dicht gemacht. Also gut. Ohne die Bläser.

Aus meiner Klasse sind die meisten in Vorruhe, der Arzt nicht, der Bäcker nicht, ich.

Vergessen Sie den Töpper nicht, der Töpfer kauft die Lederfabrik, die Gerberei, die von Lehmann, vom VEB.

Grube gab Johannes das Formular samt der Ledertasche, auf der es lag, zur Unterschrift, sie saßen auf dem Bettrand.

Der? Die Lederfabrik? Hör ich zum ersten Mal, sagte Jürgen.

Der vergrößert sich, der Töpper, ich gönn’s ihm ja. Die haben drei Söhne, Töpper, bloß der Jüngste nicht, bringts genauso, vielleicht noch besser. Das steckt bei denen so drinne, wenn du mit dem Scherbelzeug groß wirst. Die sind ihm manchmal böse, weil er den Einheimischen nichts abgelassen hat, als die Ware knapp war, aber ehrlich, wer hat das nicht gemacht? Staatsbewirtschaftet das meiste. Die sind von Berlin gekommen, haben im Auto geschlafen, gezeltet, bloß für ein Service, Kaffee, Tee, egal, wegen Wandtellern, geschwämmelten Vasen, Schüsseln, den kleinen Krügen. Bloß die Puppenstuben sterben aus. Wenn die um Achte früh aufmachten, Mittag war alles raus. Die Gerberei, denke ich, hat er für ne Mark gekriegt. Von der Treuhand. Als erstes haben sie den Speisesaal hergerichtet, in dem stehn die Trockenbretter. Zuerst muss das Tonzeug trocknen, dann wird bemalt, zum Schluss gebrannt.

In meinem Beruf hört man viel, meinte Grube.

Seine Frau erschien in der Tür. Ich hab vom Töpper erzählt. Da weiß ich noch was, sagte sie. Als der Lehmann die Fabrik baute, hat der einen Häusler nach dem andern aufgekauft, bloß zweie nicht, an die ist er nicht ran gekommen, nicht für gutes Geld, nicht für gute Worte. Das vom Töpper und vom Steinmetz, das lag auf der andern Seite vom Wasser, dazwischen die Wesenitz, die Grundstücke sind geblieben, die hat nicht mal der Sozialismus weggekriegt, da war der Töpper wichtig für den Export. Mit einem Gesicht, das zu ihrem traurigen Geschäft passte, ging sie wieder hinein.

Grube setzte die Unterhaltung fort. Den Gerber Lehmann hat der Umsturz enteignet, der hat für die Wehrmacht produziert. Jetzt keeft der Töpper für ne Mark den VEB von der Treuhand. Ist die Welt nicht verrückt? Das Wasser war vom Gerbersalz fast schwarz. Seit die Gerberlake reinlief, kein Schwänzel Fisch, bis sie die SED rausgeschmissen und die Bude dicht gemacht haben. S’ Wasser wird wieder reene.

Und die Maschinen?

Grube verdrängte sein Lachen. Sind längst fort, über die Grenze. Die Polen haben die Gerberei ausgeräumt, die Maschinen abgebaut, in Polen wieder zusammengesetzt. Die arbeiten mit diesen Maschinen. Von der Gerberei einer hat das beaufsichtigt. Die werden uns Konkurrenz machen, warten Sie ab, das hat schon angefangen.

Haben Sie einen Plastesack?

Was Mutter am Leibe hatte, lag vermutlich in dem Betttuch, das Bündel, das Frau Grube in den Sack stopfte, den Jürgen aufhielt. Nehm ich mit. Sie ging in die Küche. Sie können reingehn. Sie hörten Wasser laufen.

Es war Mutter, und es war sie auch nicht. Sie brächten in vielleicht einer Stunde den Sarg und den Wagen.

Im Sarg-Album zeigte Grube das Angebot.

Tränen in den Augen, wählte Jürgen aus. Sie begleiteten Grubes zur Straße, als Eichler kam, den Helm abnahm und vom Moped stieg. Mein herzliches Beileid, unser Beileid. Wie blass Eichler aussieht. Falten hatten sich ins Gesicht gegraben. Johannes konnte nicht weggucken. Ich komm vom Haareschneiden, sagte Eichler, ergraut, der Blick schmerzlich. So gingen sie auseinander. Er hätte Mutter lieber im Altenheim gesehn, als sie noch laufen konnte. Wegen seiner nicht unbegründeten Sorge, dass was passieren könnte, mit dem Gas, wenn sie allein war oder in der Adventszeit lichtelte. Seit Mutter zum Liegen gekommen war, hatte sich das erledigt.

Als Grube vorfuhr, dunkelbraunes Auto, kein so rabenschwarzes, fragte er, ob Kinder im Hause wären. Ronny, Mutters kleiner Freund, war auf einer Geburtstagsfeier. Dann bleiben Sie in der hinteren Stube. Grubes waren die Treppe heraufgekommen. Er begriff, sie trugen Mutter im Betttuch über die Treppe. Johannes erblickte sich im Spiegel. Das dunkelblaue Jeanshemd stand offen. Er entdeckte Augenringe. Im zersprungenen Seitenspiegel, dem aus der Russenzeit, sah er die Haare dünner werden. Bist auch alt geworden, mein Junge, hätte Mutter gesagt. Weihnachten hatten sie gemeinsam die Gans gebraten. Wie ist ihr Leben dahingeeilt. Hatte ihm über die Schulter gesehn, wie er die Gans füllte, den Beifuß abgemessen hat.

Grube klopfte und öffnete, ohne einzutreten. Es ist soweit. Der Ernst war nicht aufgesetzt, er stellte sich ein. Man hat sich ja gut gekannt, mal geplaudert, wenn Johannes Wäsche abholte.

Wärme strömte ins Treppenhaus. Er sah die aufgereihten Holzschuppen, Mutters rote Holzbank unter der Eiche, den in die Wiese getretenen Weg zum Bahnhof. Sie gingen an dem gelben Medaillon an der Tür vorbei, auf dem ein gelockter Knabe saß, das hatten die Eltern Ronny geschenkt.

Die Bahre stand an der Haustür. Mehr Platz war nicht. Mutters Füße waren draußen, der Sarg offen. Später erinnerte er sich, dass Frau Grube vom letzten Gesicht gesprochen hatte, das man festhalte. Er erblickte die gefalteten Hände, auf weißem Grund Röschen, auf einem Deckblatt rote Blüten, angesteckt mit Nadeln. Johannes und Jürgen stellten sich draußen auf, Grubes seitlich mit deutlichem Abstand. Johannes wollte sich zu dem Gesicht beugen. Die Heimbürgin mit einem Ausfallschritt hielt ihn zurück. So standen sie in einer Stille, die keine war, denn um sie herum und über ihnen war alles laut und belebt, die Vögel zwitscherten, Flügelschlag war in der Luft, am Bahnhof fuhr ein Zug ein.

Kann ich zumachen?

Jürgen sah Johannes an, Tränen in den Augen.

Ja, zumachen.

ERSTES BUCH: EIN ANDENKEN

Dieses Buch berichtet von Abschiednehmen. Vom Krieg. Was er mit uns anstellte, mit Gustav, der eine Sägemühle mit Haus, Teich, Garten, Wiese, Feld verwaltet, mit Hedwig, den anderen. Da steht ein Junge vor uns, Johannes, behütet von den Großeltern. Unser Held, nennen wir ihn so, erlebt, bevor der Krieg ganz aus ist, wie HJ-ler die Mühle besetzen. Er findet Freunde. »Diese Jugend opfert sich für Deutschland.« Übrig bleibt das Andenken, ein Dolch, den Johannes in den Händen hält. Ein Schwein wird abgestochen, auch das gehört zu dieser Geschichte. Wellfleisch wird gekocht, als Edith ankommt, die Mutter von Johannes. Der »Russe« hat die Neiße überschritten. Bautzen wird geräumt. Christiane (Christel), das ist die Mutter von Georg, Soldat; Edith ist seine Frau. Die andere Oma überlebt den Brand in der Altstadt. Die »Russen«, wer das auch war, bleiben. Die abgeschossenen Panzer am Bahnhofsvorplatz erinnern, was war. Johannes glaubt fest daran, dass sein Vater lebt. Irgendwo aus Russland, viel später, kommt Nachricht. Da ist längst wieder Schule. Die neue Zeit (so heißt sie) hat angefangen.

Die Flucht mit den Verwandten auf dem grünen Dreirad – mit Adele, Erwin, Siegfried, der Siggi gerufen wird – war nicht vergessen. Polnische Truppen besetzten Sebnitz, nicht die »Amerikaner«. Zahllos die Flüchtlinge. In Gegenrichtung Autokolonnen der Sieger auf dem Weg nach Prag. Hedwig war der Tochter in der Nacht gefolgt. Auf dem Rückweg hatten die Verwandten sie im Stich gelassen. Muttel hat sich auf der Flucht den Tod geholt, sagt Edith. Sie muss die Wohnung in Bautzen aufgeben und mit den Kindern zu Gustav ziehen.

Mit den Alten beginnt das Abschiednehmen. Bei Barthel Martin, der aus Gefangenschaft heimkehrt, wandern Granatsplitter durch den Körper. Zertrümmerte Familien. Lebt Georg? Langsam fahren Züge über Brücken aus Holz.

An einem Tag im März, als die Jungs ankamen, die in der neuen Zeit nicht mehr HJ-ler heißen werden, beginnt dieses Buch. Es gibt keinen Ich­erzähler. Es fängt an.

1

Ach, hätte Mutter gesagt, du konntest nicht einschlafen. Weil du selten zu Besuch kommst

Obwohl kühle Luft aus den niedern Wiesen durchs Fenster strömte, das er geöffnet hatte, konnte Johannes nicht einschlafen. Neben der Liege auf Vaters Bett stapelten sich Inlets, dunkelblaue, blassblaue, mit Wasserflecken welche und dunkelrote. Niemand brauchte diesen Bettenberg, der sich angesammelt hatte, wie alte Post. Mutter hatte Federn reinigen lassen. Die hellblauen Inlets, erzählte sie, waren noch aus der Mühle, die ihnen gehört hatte, Betten, die Muttel, ihre Mutter, gestopft, Federn, die sie an Winterabenden geschlissen hatte. Von den Gänsen wurden nur die feinen Daunenfedern genommen; Betten, die Mutter in die Ehe mitbekommen hatte. Die ziegelroten Inlets stammten von Vaters Cousine und vom Minchen, Gretes Köchin aus dem Kindergarten. Länger als ein halbes Leben hatten sie gemeinsam zugebracht und sich mit diesen Betten zugedeckt. Die langbeinige Grete stand dem evangelischen Kindergarten auf der Bahnhofstraße vor, bis sie Anfang der sechziger Jahre herausgedrängt wurde. Die Stadt hatte im Kronensaal den Volkszorn über sie ausgegossen. Auch Minchen, die an den großen emaillierten Kochtöpfen stand, schied aus, als die Kirchenoberen das Problem, dass in der kirchlichen Dienstwohnung zwei Frauen in einem Zimmer schliefen, und vielleicht in ein und demselben Bett, aus der Welt schafften.

Die Deckbetten waren schwer. Vater lehnte es ab, sich mit diesen Ziegeln aus Gretes Erbe zuzudecken. Außerdem war da noch das Zudeckbett seiner Mutter, das er benutzte, wenn die Betten zum Sommern über der Leine hingen. Die Federbetten von Bartsches, die kinderlos geblieben waren, gab es auch noch. Als Sache von Wert hatte Mutter die Zudecken aufgesammelt. Betten wurden in der Familie weitergegeben. So war es bei ihren Eltern gewesen, und so setzte sie es fort. Arthur Bartsch, früher Lehrer in Meißen am Gymnasium, hatte seinem Cousin auch Tafelsilber hinterlassen, dekorative Meißner Teller, dreißigtausend Mark Bargeld, das mit der Einheit zwei zu eins umgetauscht wurde, wo dem Enkel, der es in Aktien anlegte, ein schöner Rest blieb.

 

Später, im Leipziger Neubau­block, mit zweieinhalb Zimmern war für Mutters Betten kein Platz, Jürgen kam damit auch nicht zurecht, weil er das Altstadthaus auf der Messergasse mit dem hohen spitzen Giebel, das er von seiner Patentante, von Grete, geerbt hatte, aufgab; der Sturm hatte Dachziegel heruntergeweht, die er nicht beschaffen konnte, während Grete, solange sie lebte, ihre Kindergartenkinder von früher, die Handwerker waren, für Reparaturen eingespannt hatte. So war der Bettenberg am Ende bei Mutter liegengeblieben.

Unterm Bett fand er Werkzeuge, die keiner mehr angefasst hatte, seit Großvater tot war, Zangen, ausrangierte Messinghähne, alles nur Mögliche. Den Brieföffner mit Geweihgriff, ein Hochzeitsgeschenk, werde ich mitnehmen. Vater, damals, hatte den Karton geöffnet, sich bedankt und die Schreibgarnitur nie mehr angefasst, die den Krieg überstand, die Umzüge, seinen Tod, ihren. Mutter erwähnte den Geweihschmuck nie. Unpassende Geschenke werden totgeschwiegen.

Auch in der hinteren Stube standen die Fenster offen. Wo der Regen anschlug, am Rahmen, war das Holz verbraucht, ausgewaschen. Über Mutters Nähmaschine das Foto. Auf einer großen Wiese pflückte sie Margeriten. Johannes fand keinen Schlafanzug, bloß Nachthemden, zog eins an und legte den Dolch unter den Hemden wieder auf die Frisierkommode.

Ein Zug. Der Wald warf die Schienenstöße zurück. Es gab Zeiten, da hatte er diese Geräusche nicht mehr gehört, dieses Rauschen, das die in ziemlicher Geschwindigkeit durchrollenden Waggons erzeugten, es war immer da, wenn Züge durchfuhren, der Wind um den Bahnhof fauchte, ein Güterzug bremste, die Wagen aufeinanderstießen und die Puffer krachten. Ach, hätte Mutter gesagt, du konntest nicht einschlafen. Weil du selten zu Besuch kommst. So war er in Gedanken wieder bei ihr.

2

Trittbretter fuhren vorbei, Beine, an denen Stiefel steckten. Gib mir Bratkartoffeln, sagte der Junge

Ein Zug kam zum Stehen, fuhr wieder an. Die Geräusche enteilten und mischten sich neu mit denen der Nacht, die längst begonnen hatte. Wieder Züge, die in seinem Kopf herumfuhren, bis er in einen einstieg, nachdem er auf dem Bahnsteig lange gestanden und gewartet hatte, dass sein Zug käme. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit erfasste ihn, weder stand noch saß er. Ein Schmerz, der sich zusammenzog, je nachdem, nach welcher Seite des Bettes er sich drehte, war zu spüren.

Wie oft hatte er auf Züge gewartet. Der Zug, der ohne zu halten durchfuhr, hatte keine Fenster zum Herunterlassen, draußen der Wald. Trittbretter fuhren vorbei. Beine, an denen Stiefel steckten, Männer, die rauchten, aber weder ein Gesicht hatten noch Augen. Er sah keine Nasen, die müssen da sein, denn die Männer rauchten, nur er entdeckte die rauchenden Männer nicht, als hielte er die Augen geschlossen, das war aber nicht so. Ich hab die Augen aufgerissen, was ich sehe, erschreckt mich, die eingewickelten Köpfe, verkrustete Verbände, eingetrocknetes Blut. Kein Halten. Weder auf Bahnhöfen, die er kannte, noch auf freier Strecke. Das gelbe Haus, in dem Mutter wohnte, das sich in der Sonne gespiegelt hatte, die Villa unter dem roten Walmdach, verschwand. Entengrütze legte sich auf den Teich vor dem Bahndamm. Ein immerwährendes Durchfahren hatte begonnen, nicht so eins wie gestern, als er ankam, das Signal klappte, der Zug hielt, als die Valtenmühle durchs Fenster guckte, bis der Zug einen Pfiff ausstieß, dieses fast lautlose langsame Anfahren, bei dem sich die Puffer zentimeterweise ausein­anderzogen, bis die Räder zu rollen anfingen. Er sah Männer herumsitzen, andere stehen, winken oder fast unbeweglich verharren, sah sie ihre Taschen umdrehen, ihm Seifenstücke zuwerfen, Drops, und entfernt davon, was das Kind nicht sah, Stahlspitzen, die sie wegwarfen, als hätten sie für ihn ein Zuwerfgeschenk gesucht und keins gefunden. Patronen, einzelne oder im Rahmen liegen auf einem Kuchenbrett. Das gelbe Haus mit dem Walmdach wie einen Sehnsuchtspunkt vor Augen, vor Eichen, die allen Winden standhielten, wartete er auf ein Ziel.

Ihm träumt, dass er in einem von diesen wurmlangen Zügen sitzt, die von einem Bahnhof zum andern fahren, als lagere an dieser Strecke überall Wehrmacht. Das Herz, das ihm gegen die Brust schlug, schmerzte. So nahe fuhr man aneinander vorbei, dass man sich hätte die Hände geben können. Da hätte er umsteigen können, vorausgesetzt die Schiebetüren standen offen. Doch niemand öffnete. Jetzt sah er auf Bremsschuhen Kanonen, unter geschecktem Grün und Grauplanen.

Im letzten Wagen tippte ihm jemand auf die Schulter.

Zwei Jungs, Riemen über der Brust, die Gesichter wie zugeklebt, so sehr er die Augen auch aufriss, sie blieben unsichtbar, obwohl es taghell war und er sich am helllichten Nachmittag hergesetzt hatte, um zu warten. Was Essbares? Der Kleinere, als halte er sich am Türrahmen fest, mit erhobenen Armen, aber da war keine Tür. Brot? Gib mir Bratkartoffeln, sagte der Junge, welche mit Speck, von deinem Teller. Mir auch. Der Größere hob die Schultern, als wolle er drohen. Wo soll ich Bratkartoffeln mit Speck hernehmen? Durchgeriebene, richtige Reibekartoffeln? Mit ausgebratenem Speck? Johannes durchwühlte die schweinslederne Aktentasche, mit der er auf Arbeit fuhr. Gib her, Kamerad, wir teilen, was du auf dem Teller hast. Wie heißt du?, fragte der Kleine. Du hast doch einen Namen. Jeder hat einen. Dietrich, das bin ich, Manfred, sagte der andere, du darfst auch Manne zu mir sagen. Beim Auspacken entdeckte Johannes die Monatskarte der Deutschen Reichsbahn, seine Fahrkarte, die nach dem Siebzehnten Juni aber ihren Preis behielt, hin und zurück acht Mark fünfzig. Was sie kosten sollte, hatte er vergessen. Die Brotbüchse flog in die Ecke. Der Kleine pfiff zwischen den Zähnen, sah das Barchentnachthemd aus der schweinsledernen Tasche gucken, riss dran. Gucke an, sagte der Größere, was Spitziges, während der Kleine durch die Zahnlücke pfiff. Manne, mein Dolch! Er warf, und zack, das Stahlding steckte. Es hatte sich in eine Wandzeitung gespießt, die auf dem Bahnhof West hing, von der Arbeitsgemeinschaft Lokomotive was, abgekürzt Lok, und an der Wandzeitung klebten Artikel der SED-Parteigruppe. Mein Dolch, sagte Johannes. Ein Personenzug fuhr ein. An den Fenstern Jungs, keine Mädchen, sie lehnten, sie hingen aus den Fenstern, lauter Jungs mit Haartolle, die Ohren freigeschnitten. Die neue Gemeinschaft war eingestiegen. Kein Rauskommen. Der Wald flog vorbei. Unter der langgestreckten Brücke die Wesenitz. Bloß reden hörte er nicht. Vollgestopfte Abteile. Viele Köpfe. Kurz geschnittenes Haar, Seitenscheitel. Die Gesichter weg, nicht auffindbar. Wie radiert. Ich vergesse die Namen. Sehe den Himmel so klar, wie ich ihn mir zum Geburtstag wünsche. Die Wesenitz klar, seit sie die Lederfabrik zugemacht haben. Die Produktion ist eingestellt. Das kann nicht sein. Leibriemen werden gebraucht, Koppel, damit die Uniformhose hält, Kommandotaschen, das ganze Lederzeug, das sie herumschleppen, wird gebraucht bei diesem Tross von Pferden, Kanonen, Tarnbezügen, den Taschen, die an die Kräder geschnallt sind. Nein, bei Gerbers ist Hochbetrieb. Rrräder müssen rrrrollen für den Sieg, und plötzlich ist Plansilvester angesagt, Leute, das Planjahr geht zu Ende, bloß der Plan ist nicht erfülllt. Ich muss raus, die Tür springt nicht auf. Die Klinke sehe ich, nicht die Tür. Ich sehe die Klinke, nicht die Tür. Als rage die Klinke aus der Wand. Er sieht Mutter Margeriten pflücken. Sie fahren ein auf dem Bahnhof, den er von allen Bahnhöfen am besten kennt. Die Maße wie mit dem Lineal gezogen. Bahnhofsmaße. Das Blechdach auf gusseisernen Säulen. Ich schlage an die Scheibe. Nicht abfahren. Ich habe die Tasche vergessen. Da reißen mich die Jungs hoch, ziehn mich durchs Fenster. Der Zug nimmt Fahrt auf. Mutter winkt. Im weiß blühenden Wiesenschaumkraut steht sie und schwenkt lang­stielige Margeriten, entschwindet. Wo ist die Tasche? Ich steige über Jungsbeine, dränge mich durch, stoße an Kochgeschirre, werde das Ziehen in der Herzgegend nicht los. Sitzen die Bratkartoffelesser, die ich suche, im allerletzten Wagen? Wie lang die Züge sind, die an die Front fahren, von der Front kommen. Türen krachen. Der Blick umgreift Gesichter. Wir stehn uns gegenüber. Ich muss den Dolch einwickeln. Sie aber, als wären sie nicht im Zug, tun so, als könnte sie keiner ertappen mit so einem Dolch, den keiner mehr haben darf. Sie lassen die Klinge fliegen. Zack, sagt der Kleinere und wirft. Zwischen Brust und Oberarm fährt die Klinge ins Holz. Mensch, das saß! Der mit den Kulleraugen reißt die Klinge heraus, und, zack, saust der Stahl zurück, bleibt stecken. Gebt die Tasche her! Der Zug bremst. Das Herz schmerzt. Die Lok stößt einen Pfiff aus, und der Kleine holt schon wieder aus, wirft, sieht, wie der Dolch dem Kameraden in die Brust fährt. Wo warst du die ganze Zeit, fragt mich der Kleine. Hättest mitspielen können, sagt der Getroffene. Schluss, Manfred, wir hören auf. Sprachlos sieht er zu, wie sich der Junge das Messer aus der Brust reißt. Das tut doch weh, Dietrich. An verschlossenen Türen vorbeilaufend, sucht er die Tür. Findet sie nicht, wacht auf.

Am Bahnhof West bleibt der Zug stehen.

3

Der bei den Großeltern auf Krücken in die Küche hopste, Heil Hitler sagte und die Tür nicht zubrachte. Ihm rutschte ein Messer heraus

In kurzen Hosen und Kniestrümpfen, die zur Uniform gehörten, war Dietrich hereingekommen, den Arm bandagiert. Viel zu kalt für diese Jahreszeit der März, sagte Mutter später, die nicht dabei war. Vielleicht gehörten solche Hosen zu diesem Vorfrühlingstag. Ein Hauch von gebratenem Speck zog durch den Flur.

An der Bodentreppe stand die Blechbadewanne.

Ist noch Zeit?

Setz dich. Gustav rückte den eisernen Topf zur Seite. Tropfen zischten.

Magdeburg wird bombardiert.

In Magdeburg bin ich über die Elbe geschwommen, lange her.

Die Strümpfe kratzen.

Lass sie kratzen, Johannes.

Herein!

Der auf Krücken in die Küche hopste und Heil Hitler sagte, brachte die Tür nicht zu. Ihm rutschte ein Messer heraus.

Gustav war schneller.

Sie waren sich nicht einig, was passiert war, als der Dolch auf dem Tisch lag.

Sind wir Kameraden?

Du lässt das liegen, Johannes!

Der gehört mir.

Freunde seid ihr nicht, dachte Hedwig.

Dietrich war Melder. Der Aufhänger ist durchgerissen, sagte der andere, der Manfred hieß, haben Sie was zum Annähen?

Esst, dann sehen wir weiter.

Nun saßen drei Jungs am Tisch, von denen zwei erzählten, wie das ist, wenn Phosphor auf der Straße brennt. Johannes lauschte. Hedwig hatte die restlichen Reibekartoffeln ausgeteilt.

Den sie Dieter nannten, ließ den Dolch nicht aus den Augen.

Was zum Umbringen.

Mir gefällt eure Unterhaltung nicht, und jetzt verschwindet, da ging das Licht aus.

Gustav suchte Streichhölzer.

Endlich.

Ihre Finger, fragte Manfred, haben Sie die Finger im Krieg eingebüßt.

Das Auge, die Finger mit der Motorsäge.

Was gehen diesen Jungen deine Finger an. Nichts passt mehr zusammen, fand Hedwig, und dann lag noch dieses spitze Ding auf dem Fußboden. Bei so viel Unglück. Martha war tot, verbrannt, das konnten sie nicht wissen, als sich Hedwigs Geburtstagsrunde versammelte, am dreizehnten, Blumen hatten sie gebracht, Bernhard das Alpenveilchen, wie jedes Jahr, Anna und der Eichen-Alfred waren mit einer großen Azalee gekommen, Adele mit was Süßem, bloß Selma sagte, meins hab ich bei Adele dazu getan. Stimmung war nicht aufgekommen, das lag am Krieg, der schon ganz nahe war. Vor dem Dunkelwerden war der Himmel überzogen mit einem schwachen Licht auf Dresden zu, das nicht hingehörte am Himmel, das stärker wurde. Ich glaube, Dresden brennt, sagte Gustav, und Hedwig fing gleich an zu weinen. Ihr müsst ni glei ans Schlimmste denken, sagte der Stein-Erwin, der so hieß, weil er einen Steinbruch bewirtschaftete. Dann standen sie auf dem Dachboden. Das muss schlimm sein, dort, der Himmel ist so ganz anders ausgeleuchtet. Gustav hatte Johannes ans Bodenfenster gehoben, damit er das auch sah.

Die Jungs blinzelten ins Kerzenlicht, waren mit sich beschäftigt.

Wie Wasser verlief sich die Zeit. Der gehört mir, den hat mir der Vati geschenkt, hatte Dietrich gesagt. Der war doch noch ein halbes Kind, dachte Hedwig. Wer verschenkt so was.

Ja, wenn der Schwager, Alfred, nicht gekommen wäre, sie hätten in Ediths Wohnung vom Wehrbezirk welche reingesetzt. Das konnte Alfred abwenden. Hedwig hatte die Tochter vor Augen, vielleicht hatte sie am Klavier gesessen und dem Untermieter die Capri-Fischer vorgespielt.

 

Das Licht ging an.

Nu aber raus, eh ich euch fortscheuche, rief Hedwig.

Die Kerze war fast runtergebrannt. Gustav brachte die Blechwanne. Johannes machte den Anfang, schlief schnell ein. Gustav streckte sich in der Wanne aus, genoss die Wärme. So gefällts mir, sagte er, und blies in den Seifenschaum über seiner Brust.

Sie drehte am Radio. Irgendwas in den Nachrichten kam.

Den Weg zur Front, den gibt’s nicht mehr, sagte Gustav, Herr Adolph, als der fiel, das war schon nicht mehr in Russland.

Seit sie in den schwarzen Sachen steckt, möcht ich am liebsten weggucken, sagte Hedwig und stellte das Radio ab. Anfang zwanzig war Frau Adolph, als sie eingezogen sind, und eher schwanger als Edith.

Ja, sagte er, tot, der Lehrer Adolph, so ist der Krieg, und immer in Trauer.

Du bist dran. Gustav wechselte das Wasser. Die Verliebtheit von dem jungen Weib, wenn sie im Nachthemd über die Treppe huschte, und ich war beim Kohleholen auf der Treppe. Er legte sich aufs Sofa.

Hedwig saß in der Wanne. Gustav, denkst du noch manchmal an das schöne Kaffeetrinken mit Adolphs, mit allen, die dabei waren und nicht mehr da sind? Aber Gustav war eingeschlafen. Er kann vergessen, ich kanns nicht. Der Zeit, die er im Ersten Krieg verloren hatte, war er nachgejagt, als ob die jemand zurückbringen könnte. Die Mühle hab ich schuldenfrei gemacht, da bist du aus England gekommen, aus der Gefangenschaft mit so einem Bart, dass Edith erschrocken ist, dem dicken Bart, als du aus England gekommen bist. Dir hat das nicht genügt, hast verbessert, wieder das Neuste ausprobiert, die Pferde abgeschafft, das Mehl mit dem Auto transportiert, und über Nacht kam die Krise.

Ach, Gustav, du kannst vergessen. Gustav, hat Minna gesagt, so ist mein Bruder. Die Mühle ist weg, von der Krise verschluckt, und Vater denkt, er kann dem Weickersdorfer Richter die Sägemühle abkaufen, das große Grundstück, auf seine alten Tage. Für wen? Für Georg, wenn er heimkommt, aus dem Krieg? Manches ging ihr durch den Kopf. Frau Adolph, die ohne Ernährer war, die von Unterstützung lebte. Dass sich Adolphs zur Olympiade ein Kindermädchen anschafften, fiel ihr ein. Sogar den Namen weiß ich noch, da streifte Hedwig schon das Nachthemd über. Bin fertig, rief sie. Er leerte die Wanne.

Gustav, erinnerst du dich, dass sich Adolphs zur Olympiade ein Kindermädchen anschafften, Helene Gröbe.

Helene, ja, sie hat sich was suchen müssen, seit Herr Adolph tot ist.

Ich muss an die Jungs denken, sagte Hedwig, an die denk ich oft.

In der Ritze vom Doppelbett schlief Johannes, und so legten sie sich, um den Jungen nicht zu wecken, jeder von seiner Seite aus ins Bett.

Immer muss ich an die Jungs denken, sagte sie, die werden abfahren. Dass sie auf Abruf leben, brachte Gustav vor ihr nicht über die Lippen, aber es war so.

So warteten sie auf den Schlaf.

4

Im Gedächtnis blieb Johannes der Pfiff auf der Trillerpfeife. Großmutters Sperlinge begleiteten ihn, seit das Schicksal die Jungen fortwehte

Der Trupp hatte sich wie ein Sperlingsschwarm, Hedwigs Worte waren das, in ihre Beete gesetzt, Zeltbahnen, Decken und Rucksäcke am Sägewerk abgeladen. Die Fahne, die sie mitbrachten, ging hoch. In schwarzem Kleid und Strickjacke Frau Adolph. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie lief ins Haus. In Teplitz hatte sie mit angesehen, dass Walter mit einer immer jüngeren Truppe ausrückte. Sie waren beim Halma, da brachte die Postfrau das Telegramm. Die Figürchen blieben stehen. Hedwig hatte es nicht fertiggebracht, das Spiel einzureißen. Ich komme wieder, da schreckte die Todesmeldung das Valtental auf.

Der Tag begann mit dem Wecken, die Jungs kamen unter den Decken hervor, und das Waschen fing an. Wem’s im Waschhaus zu eng war, spuckte in den Teich. Johannes lauerte am Fenster im Nachthemd. Verpflegung wurde gebracht. Beim Stacheldrahtziehen verletzte sich Dietrich. Im Gedächtnis blieb Johannes der Pfiff aus der Trillerpfeife. Hatte damit der Appell begonnen? In welcher Reihenfolge lief der Tag ab? Großmutters Sperlinge begleiteten ihn, seit das Schicksal die Jungs fortwehte.

Johannes war dabei, wenn sie ausrückten, der Wald den Gesang verschluckte oder das Singen am Berg widerhallte, am Gusshübel und wo sie überall hinkamen, als wären sie Tausende. Sie übten Entfernung schätzen, Geländebeschreibung, sich tarnen, anschleichen, Karte lesen. Briefmarken waren plötzlich langweilig, die hatte er auf dem Boden ausgeschnitten, den Ebert, den Hindenburg, die Germania, was sonst noch in dem Papierhaufen lag, welcher von Mierisch, dem das Sägewerk gehörte, bis er pleiteging, übrig geblieben war.

Wir kämpfen und kämpfen, / wir siegen und siegen, /

wir sind zum Sterben stets bereit – / wenn nur die Fahne,

unsere Fahne, / mitmarschiert in die Ewigkeit.

Sie heizten das Waschhaus, das Kontor, das sie Führerzimmer nannten, marschierten ins Dorf zur Jugendfilmstunde in die Schule. Jungvolkjungen sind hart, sagte Dietrich. Der Führer hinkte. Züge fuhren durch ihre Träume. Manfred hatte sich den Knöchel gebrochen. Er nähte Dietrich die rote Litze auf. Kriegsfreiwillige waren sie alle. Seit Dietrich Rottenführer war, glänzte neben der roten die silberne Litze. Untersturmführer Rüger führte den Trupp. Panzer mit zerfranstem Rohr fuhren vorbei, lange Züge. Die Jungs stürmten den Bahndamm. Johannes sah zu. Schneeflocken flogen vorbei. Steige hoch, du roter Adler ... und Von den Bergen rauscht ein Wa-a-sser ... Das waren ihre Lieder. Sie redeten von Einschlägen, dass die Wand wackelte. Zur ersten Kinderlandverschickung war Manfred in Klasse Sechs, und der Studienrat später redete sie mit Sie an. Du kannst Fritz zu mir sagen, sagte der Sturmbannführer. Sie hatten Jungvolkabende erarbeitet, feindliche Flugblätter eingesammelt. Typen, die sich lange Haare wachsen ließen und jazzten, hielten nicht lange durch. In Dresden bekam Dietrich die Armbinde als Luftschutzhelfer. Manfred war Kurier bei der Kreisleitung der NSDAP. Beide wollten sie zur SS, waren vorgemeldet. Im Trommlerzug marschierte Dietrich über die Elbebrücke.

Eines Früh waren sie vom Lastwagen geklettert, blaugefroren, und sahen Johannes in seinen Strickhosen dastehn, halb angezogen. Es kamen wärmere Tage. Welche rauchten, Manfred auch, der beschaffte Zigaretten, sobald die Soldatenzüge anhielten. Manche legten die Wintermützen ab, bloß das Husten hörte nicht auf. Wer gab von den Kameraden schon zu, dass jemand fror. Der Wind überschüttete sie mit Frühlingsregen.

Um ein Haar hätte ich euch vergessen, sagte der Einarmige in Uniform, der aus dem Beiwagen stieg, Listenführer für die Napola, die Nationalpolitische Erziehungsanstalt. Sie standen am Sägewerk, und Dietrich sagte: Ich bin Freiwilliger, habe mein Wort gegeben für die SS, Manfred, der daneben stand, auch.

Von der Napola kommst du auch zur SS, sagte der Leutnant, euch hätte ich fast vergessen. Ich bin vorgemerkt, zur SS, Dietrich wiederholte sich. Die Napola, das sind andere Anforderungen. Ich weiß nicht, ob ich die Aufnahme in Leibesübung und Latein schaffe.

Schaffst du, musst keine Leuchte sein.

Viel Sport, klar, sagte Dietrich.

SS oder Napola, Manfred war das egal.

Die Napola guckt als erstes auf den Charakter, sagte der Leutnant, Abitur kannst du dort auch machen, die Erzieher helfen.