BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil

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3. Missbrauchspotential in Generalklauseln

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Die Entwicklungsoffenheit und die Flexibilität des Rechts bergen auch Risiken: Generalklauseln können missbraucht werden. Beispielsweise haben Privatrechtswissenschaftler im nationalsozialistischen Regime auch § 242 eingesetzt, um Teile der nationalsozialistischen Ideologie in das Privatrecht zu importieren.[59] Diese Gefahren lassen sich nie vollständig bannen, nur durch Wachsamkeit, Bildung und (zeit)geschichtliches Bewusstsein einhegen. Wenn eine Richterin § 242 anwendet, sollte sie besonders hohe Sorgfalt bei der Begründung an den Tag legen. Keinesfalls darf sie § 242 einsetzen, um gesetzgeberische Entscheidungen zu korrigieren, die ihr rechtspolitisch missfallen. Das wäre mit ihrer Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar. Auch in Prüfungsarbeiten gilt: § 242 steht nicht am Anfang der Falllösung, sondern – wenn überhaupt – am Ende. Jede Klausurbearbeiterin sollte konkretere gesetzliche Bestimmungen nur mit großer Zurückhaltung korrigieren und das sorgsam begründen. Klausuren sind nur höchst selten einmal darauf ausgelegt, über das Vehikel von Treu und Glauben zur gewünschten Lösung zu gelangen, und falls doch, dürfte regelmäßig auf die bekannten und durch die Rechtsprechung über lange Jahre etablierten Fallgruppen zurückzugreifen sein.

4. Die Bedeutung von „Treu und Glauben“ und „Verkehrssitte“

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Was „Treu und Glauben“ im Einzelfall bedeutet, wird in der Praxis des gelebten Rechts in einem immer weiter fortschreitenden Diskurs konkretisiert. Die Worte „Treu und Glauben“ werden so in ihrer Bedeutung immer weiter ausdifferenziert. Inhaltlich kann dabei auf Gerechtigkeitsargumente der Austauschgerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit zurückgegriffen werden[60]: So geht es um die Herstellung eines beiderseits gerechten Interessenausgleichs (im Sinne der Austauschgerechtigkeit), aber auch um die Erreichung regulativer Ziele außerhalb des unmittelbar betroffenen Verhältnisses (im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit).

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Auch der Begriff der Verkehrssitte muss in der Rechtsanwendung konkretisiert werden. Er umschreibt Verhaltensweisen, die sich – zumindest potentiell – empirisch feststellen lassen. Eine konkrete Ausprägung des Begriffs sind die Handelsbräuche iSd § 346 HGB. „Verkehrs-Unsitten“, die zwar u.U. gängige Praxis darstellen, aber grundlegende Wertungen oder Anforderungen von Treu und Glauben verletzen, bleiben unbeachtlich.[61]

5. Verhältnis zu anderen Generalklauseln

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§ 242 ist in der Rechtsanwendung oft schwer von der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 133, 157) abzugrenzen. Die Funktion der ergänzenden Vertragsauslegung ist es, vertragliche Lücken zu schließen. Die hM verortet sie bei § 157.[62] Maßgeblich ist dabei nach einer vom BGH in stRspr verwendeten Formel, welche Regelung die Parteien bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte als redliche Vertragspartner getroffen hätten, wenn sie den von ihnen nicht geregelten Fall bedacht hätten.[63] Maßstab der Korrektur soll der sog „hypothetische Parteiwille“ bei Vertragsschluss sein. Das lässt sich am ehesten als Topos für objektiv gebotene gerechte Ergänzungen verstehen.[64] Denn auch die ergänzende Vertragsauslegung ist ein Akt richterlicher Rechtsschöpfung: Was die Parteien wirklich gewollt hätten, wissen wir nicht.[65] Deshalb sind auch für die Lückenschließung durch ergänzende Vertragsauslegung letztlich dieselben materiellen Gerechtigkeitskriterien wie bei § 242 maßgeblich.[66]

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§ 242 steht auch in einer gewissen Nähe zu § 138.[67] In ihrer Rechtsfolge ordnen die §§ 134, 138 die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts an, während § 242 in den Rechtsfolgen flexibler ist. Grundsätzlich lässt § 242 die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts unberührt. Teilweise wirken § 138 und § 242 auch zusammen, um einen Lebenskomplex angemessen zu regulieren. Ein Beispiel bieten Eheverträge, in denen beide Normen in einem Ergänzungsverhältnis stehen: Wenn Eheverträge schon im Zeitpunkt ihres Zustandekommens zu einer einseitigen Lastenverteilung führen, können sie gem. § 138 nichtig sein. § 242 ermöglicht dagegen eine Ausübungskontrolle, wenn sich die einseitige Lastenverteilung erst aus späteren Entwicklungen ergibt.[68] Das Beispiel zeigt, dass § 242 gerade auch dann eingreifen kann, wenn ein Rechtsgeschäft nicht schon wegen Sittenverstoßes nichtig ist.

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Auch § 226 (Schikaneverbot) und § 826 (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung) sind mit dem Prinzip von Treu und Glauben verwandt. § 226 wird indes tatbestandlich eng interpretiert und greift nur ein, wenn der einzige Zweck des Handelns in der Schadenszufügung liegt. Die Norm ist deshalb in der Praxis wesentlich weniger bedeutsam als § 242. § 826 setzt im Gegensatz zu § 242 keine rechtliche Sonderverbindung voraus. Die Norm führt zu einem Schadensersatzanspruch, und zwar – anders als § 823 – auch bei reinen Vermögensschäden ohne Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind allerdings eng.[69]

6. Rechtliche Sonderverbindung als Anwendungsvoraussetzung

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§ 242 setzt eine rechtliche Sonderverbindung voraus.[70] Das ist mit Blick auf die umfassende Bedeutung des Prinzips von Treu und Glauben weit zu verstehen. Den Hauptanwendungsfall bilden vertragliche Schuldverhältnisse, aber auch gesetzliche Schuldverhältnisse sind umfasst. Auch bei nichtigen Rechtsgeschäften wird eine für die Anwendung des § 242 ausreichende Rechtsbeziehung begründet.[71] Die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründet ohnehin ein Schuldverhältnis (vgl § 311 Abs. 2). Auch im nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis kommt § 242 zur Anwendung.[72] Treu und Glauben kann einen Grundstücksnachbarn dazu verpflichten, eine bestimmte Nutzung seines Grundstücks durch den Nachbarn zu dulden, wenn dies für einen billigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwingend geboten erscheint.[73] So kann ein Eigentümer u.U. dulden müssen, dass sein Nachbar Abwasser durch sein Grundstück leitet.[74]

7. Fallgruppen

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In der Praxis haben sich zahlreiche Fallgruppen herausgebildet, die die Sicherheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung erhöhen. Auch bei der Falllösung empfiehlt es sich, § 242 möglichst in der spezifischen Ausprägung einer bestimmten Fallgruppe zu erörtern. Diese Fallgruppen geben der Norm etwas klarere Konturen. Unmöglich (oder zumindest kaum möglich) ist es dagegen, die Fallgruppen in all ihren Verästelungen und systematischen Verortungen durch die Wissenschaft zu lernen. Das wäre auch deshalb unproduktiv, weil das Recht in ständiger Entwicklung ist und § 242 ja gerade auch die Entwicklungsoffenheit des Rechts ermöglicht. Sie sollten sich daher darauf konzentrieren, gesetzliche Grundgedanken in die Abwägung einfließen zu lassen und dadurch den sicheren Umgang mit deutungsoffenen Leitprinzipien zu beweisen. Hilfreich mag es darüber hinaus freilich auch sein, zu einigen Konstellationen Urteile zu lesen. Dabei erhält man gute Eindrücke davon, wie Gerichte die Anwendung des § 242 im Einzelfall begründen. Das kann für Klausuren sehr nützlich sein, wenn die dort behandelten Konstellationen Ähnlichkeiten oder auch Differenzen zu Fällen aus der Praxis aufweisen. Die Zuordnung einzelner Fälle in bestimmte Fallgruppen darf indes auch nicht überbewertet werden, ist sie doch in vielen Fällen fließend.

 

a) Konkretisierung und Ergänzung rechtlicher Befugnisse

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Der Grundsatz von Treu und Glauben konkretisiert rechtliche Befugnisse. Das zeigen schon die vom Wortlaut des § 242 geregelten Tatbestände. Nach § 242 ist der Schuldner verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Damit wird präzisiert, wie die Leistung zu erbringen ist. Es geht also um die Modalitäten der Leistungserbringung. § 242 ergänzt insoweit die §§ 243-274.[75] Wenn A beispielsweise sein Fahrrad an B verkauft und die beiden verabreden, dass A das Rad in den nächsten Tagen vorbeibringt, verlangt § 242, dass A nicht zur Unzeit kommt (etwa um 3 Uhr morgens). Ein anderes Beispiel bietet die Erfüllung am Erfüllungsort (§ 269)[76]. Wenn dort die Leistung etwa wegen einer Naturkatastrophe oder eines Bürgerkriegs unzumutbar oder unmöglich ist, muss sich der Schuldner auf einen anderen angemessenen Erfüllungsort einlassen.[77] Umgekehrt muss auch der Gläubiger seinerseits die Leistung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verlangen.[78] So kann er dazu angehalten sein, eine Überweisung auf ein anderes als das von ihm angegebene Konto zu akzeptieren, wenn ihm daraus keine rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachteile erwachsen.[79] Auch der Inhalt von Nebenleistungspflichten (§ 241 Abs. 1) und Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2) wird unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ermittelt.[80]

b) Begrenzung rechtlicher Befugnisse (insbesondere: Rechtsmissbrauch und Verwirkung)

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§ 242 kann rechtliche Befugnisse aber auch begrenzen. Hier zeigt sich die Kontrollfunktion von Treu und Glauben: In der Rechtsanwendung kann überprüft werden, ob die Ausübung rechtlicher Befugnisse im konkreten Fall treuwidrig ist. Die Befugnis kann dann entsprechend eingeschränkt werden. Die wichtigsten Ausprägungen dieser Fallgruppe sind die Institute des Rechtsmissbrauchs (bzw der unzulässigen Rechtsausübung) und der Verwirkung. Sie zeigt sich aber auch etwa in der Begrenzung des § 266: Der Gläubiger ist danach berechtigt, Teilzahlungen zurückzuweisen. § 242 begrenzt diese Befugnis: Wenn nur ein relativ geringfügiger Teilbetrag fehlt, darf der Gläubiger die Annahme nicht verweigern.[81]

aa) Rechtsmissbrauch (unzulässige Rechtsausübung)

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Rechtsmissbrauch (unzulässige Rechtsausübung) ist mit § 242 nicht vereinbar. Darin zeigen sich immanente Grenzen aller rechtlichen Befugnisse.[82] Der BGH beschreibt den Kerngedanken wie folgt: „Das Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung und setzt der (auch gesetzlich zulässigen) Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt“.[83] Rechtsmissbrauch ist also ergebnisorientiert und kann für die Verwirklichung gerechter Rechtsanwendung fruchtbar werden. Allerdings darf die Richterin (und auch die Studentin in Klausuren) nicht vorschnell eigene Gerechtigkeitserwägungen an die Stelle der Wertungsentscheidungen des Gesetzes setzen.[84] Bei zielgerichtetem, treuwidrigem Verhalten liegt § 242 nahe. Das darf aber nicht leichthin angenommen werden. Beispielsweise handeln Käufer, die bei Internetauktionen mitbieten, um von einem vorzeitigen Auktionsabbruch zu profitieren („Abbruchjäger“), grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich.[85] Rechtsmissbrauch kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Interessenlage und der jeweiligen Fallbesonderheiten bejaht werden. Die Begründungslast ist hoch, weil § 242 hier insoweit als Ausnahme zu prima facie gegebenen rechtlichen Befugnissen wirkt. Rechtsmissbrauch setzt kein Verschulden voraus; allerdings sind in der Abwägung Verschuldenselemente zu berücksichtigen.[86] Rechtsmissbrauch ist eine sehr weite Fallgruppe, zu der sich zahlreiche Unterfallgruppen gebildet haben:

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Eine Unterfallgruppe ist die missbräuchliche Forderung einer Leistung, die ohnehin sogleich wieder zurückgewährt werden müsste (dolo agit qui petit quod statim redditurus est). So kann etwa die Honorarforderung eines Architekten rechtsmissbräuchlich sein, wenn er das Erlangte sofort wieder als Schadensersatz herausgeben müsste.[87] Auch kann ein Vermieter vom Mieter nicht die Entfernung einer ohne Zustimmung des Vermieters angebrachten Parabolantenne verlangen, wenn er verpflichtet war, der Anbringung zuzustimmen.[88]

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Rechtsmissbrauch kann auch wegen Unverhältnismäßigkeit zu bejahen sein.[89] Der Verhältnismäßigkeitsgedanke zeigt sich in vielen schuldrechtlichen Normen, wie etwa den §§ 320 Abs. 2, 323 Abs. 5 S. 2, 439 Abs. 4 oder 543 Abs. 2 Nr 2. Aber auch außerhalb dieser Normen wirkt über § 242 ein Verhältnismäßigkeitsgebot im Schuldrecht. Beispielsweise kann der Käufer eines Neuwagens wegen Unverhältnismäßigkeit gem. § 242 daran gehindert sein, die Kaufpreiszahlung gem. § 320 Abs. 1 S. 1 wegen eines Sachmangels vollständig zu verweigern.[90] Allerdings liegen die Hürden für § 242 auch hier hoch. So hat der BGH Rechtsmissbrauch wegen Unverhältnismäßigkeit beispielsweise bei einem bereits für ca. 250 Euro behebbaren Lackschaden eines Neuwagens verneint. Der Verkäufer hatte nicht einmal angeboten, den Schaden selbst zu beseitigen (obwohl dies zu seiner Erfüllungspflicht gehört).[91] Auch das hat der BGH als Argument für die Schutzwürdigkeit des Käufers herangezogen.

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Rechtsmissbrauch kann im Einzelfall auch damit begründet werden, dass die Ausübung des Rechts für die andere Seite „schlechthin unzumutbar“ wäre.[92] Wenn Verbraucher Widerrufsrechte ausüben, handeln sie etwa in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich iSd § 242, nämlich dann, wenn der Unternehmer besonders schutzbedürftig ist oder der Verbraucher arglistig oder schikanös handelt.[93] Das hat der BGH allerdings etwa in einem Fall verneint, in dem der Verbraucher unter Hinweis auf ein günstigeres Alternativangebot um Erstattung des Differenzbetrags gebeten hatte und – als der Unternehmer sich darauf nicht einließ – zurückgetreten war.[94] Bei Eheverträgen kann die Ausübung der vertraglichen Rechte rechtsmissbräuchlich sein, wenn sie zu einer unzumutbaren Lastenverteilung führen würde.[95]

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Unzulässige Rechtsausübung kann sich auch daraus ergeben, dass man zuvor selbst unfair gehandelt hat: Wer eine rechtliche Befugnis selbst unredlich herbeiführt, darf sich auf diese Befugnis gem. § 242 nicht berufen (turpitudinem suam allegans non audiatur).[96] Dieser Gedanke liegt auch § 162 zugrunde, der den vom Anspruchsgegner treuwidrig verhinderten Eintritt einer Bedingung fingiert. Er kommt aber auch als Topos für die Anwendung des § 242 vor. Ein in der Literatur diskutiertes Beispiel bietet § 124: Wer zu einem Vertragsschluss durch arglistige Täuschung bestimmt wurde, muss binnen Jahresfrist anfechten. Steht nach Fristablauf § 242 der Inanspruchnahme aus dem Vertrag gleichwohl entgegen? Vorschnell darf man das nicht bejahen, wenn § 124 nicht ausgehöhlt werden soll.[97] § 242 kann man jedoch – auch in Klausuren – guten Gewissens in Anschlag bringen, wenn der Täuschende den Anfechtungsberechtigten auch noch bewusst veranlasst hatte, die Anfechtungsfrist verstreichen zu lassen.[98]

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Vorverhalten muss nicht unbedingt unredlich sein, um Rechtsmissbrauch zu begründen. Das zeigt die nächste Unterfallgruppe. Rechtsmissbrauch kann sich nämlich auch daraus ergeben, dass die Ausübung eines Rechts im Widerspruch zu eigenem (nicht notwendigerweise für sich genommen sanktionierbarem) Vorverhalten steht (venire contra factum proprium). § 242 steht deshalb der Inanspruchnahme eines Bürgen durch eine Bank entgegen, wenn die Bank selbst den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Hauptschuldners schuldhaft verursacht und jede Regressmöglichkeit des Bürgen (gegen den Hauptschuldner) vereitelt.[99] Ein weiteres Beispiel betrifft die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, deren primäre Rechtsfolge ja in der Unwirksamkeit einer Vertragsbestimmung liegt. Wer aber die unwirksame Klausel selbst verwendet hat, darf sich auf die Unwirksamkeit nach Treu und Glauben nicht berufen.[100] Auch die Einschränkung des § 142 Abs. 1 gehört hierher: Wenn der Anfechtungsgegner die Erklärung mit dem vom Anfechtenden wirklich gewollten Inhalt gelten lassen will, darf sich der Anfechtende nicht auf § 142 Abs. 1 berufen,[101] da er andernfalls § 142 Abs. 1 instrumentalisieren würde, um sich im Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten zu setzen. Der Anfechtende soll nicht vor einem Vertrag des Inhalts geschlossen werden, den er ja selbst wollte.

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Auch die Berufung auf die Formnichtigkeit (§ 125) kann rechtsmissbräuchlich sein.[102] Die Hürden sind hoch, andernfalls würden die Formvorschriften und ihre Zwecke ad absurdum geführt. Die Berufung auf Formnichtigkeit kann aber in zwei Fallgruppen gegen § 242 verstoßen: Bei Existenzgefährdung einer Partei und in Fällen besonders schwerer Treuepflichtverletzungen. Allerdings kommt die Anwendung von § 242 nur in Ausnahmefällen in Betracht, auch in der Rechtsprechung wird sie in aller Regel abgelehnt. Es genügt nicht, dass die Nichtigkeit eine Seite „hart trifft“.[103] Vielmehr muss die Nichtigkeitsfolge „schlechthin untragbar“ für eine Partei sein.[104] Der BGH hat diese strengen Voraussetzungen etwa in einem Fall zur Anwendung gebracht, in dem ein 63-jähriger einfacher Handwerker ohne juristische Vorbildung unter Aufwendung seiner gesamten Ersparnisse ein Eigenheim erwerben wollte, um dort seinen Lebensabend verbringen zu können.[105] Er hatte seine frühere Wohnung aufgegeben und war bereits eingezogen, obwohl der Vertrag nicht notariell beurkundet und daher formnichtig gem. § 125 war. Nach Einschätzung des BGH wäre es einem Existenzverlust des Handwerkers gleichgekommen, wenn er das Eigenheim aufgeben und sich einen neuen Alterssitz hätte suchen müssen.[106]

 

Auch in Fall 2 lässt sich begründen, dass § 242 der Berufung auf die Formnichtigkeit entgegensteht: Gegenüber dem früheren Angestellten besteht eine Ungleichgewichtslage. Auch hat U gegenüber A ausdrücklich behauptet, einen privatschriftlichen Vertrag als gleichwertig zu betrachten. Darauf vertraute A. Dass sich U später entgegen seiner ausdrücklichen Behauptung auf die Formnichtigkeit beruft, ist rechtsmissbräuchlich (so auch BGH NJW 1968, 39). Auch die Gegenauffassung ist gut vertretbar: Formvorschriften sind strenges Recht, allzu großzügige Einschränkungen über § 242 gefährden die Rechtssicherheit. Dass A als Angestellter sich U gegenüber nicht recht traute, auf notarielle Beurkundung zu bestehen, ist verständlich. Der Mangel an Mut geht aber zu seinen Lasten, zumal er von der notariellen Beurkundungspflicht wusste.

bb) Verwirkung

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Auch die Verwirkung von Rechten lässt sich der unzulässigen Rechtsausübung zuordnen. Sie betrifft die illoyale Verspätung der Rechtsausübung. Als Ausfluss von Treu und Glauben ist die Verwirkung grundsätzlich neben dem Verjährungsrecht anwendbar. Praktisch ist die Verwirkung umso weniger wichtig, je kürzer die Verjährungsfrist ist, weil sich bei einem (frühen) Eintritt der Verjährung ein Rückgriff auf die Verwirkung oft erübrigt.[107] Grundsätzlich kann die Verwirkung alle subjektiven Rechte erfassen,[108] auch etwa Widerrufsrechte.[109] Die Verwirkung steht der Geltendmachung von Ansprüchen entgegen, wenn der Vertragspartner bereits darauf vertrauen durfte, dass keine Forderungen mehr geltend gemacht werden, und er sich hierauf auch bereits eingerichtet hat. Das setzt erstens voraus, dass der Gläubiger ein Recht über längere Zeit hinweg nicht geltend gemacht hat, obwohl er es hätte geltend machen können (Zeitmoment). Die Länge des Zeitraums hängt vom Einzelfall ab. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren kann nach der Rechtsprechung des BGH nur unter ganz besonderen Umständen weiter durch Verwirkung abgekürzt werden,[110] denn sie lässt dem Gläubiger ohnehin wenig Zeit für die Rechtsdurchsetzung. Zweitens sind besondere Umstände erforderlich, wegen derer der Schuldner darauf vertrauen durfte, dass der Gläubiger die Forderung nicht mehr geltend machen wird (Umstandsmoment).[111] Der Zeitablauf allein genügt also nicht. Das Umstandsmoment der Verwirkung muss stets aus den Besonderheiten des Einzelfalls heraus unter Abwägung der betroffenen Interessen begründet werden. Dabei können auch Vertrauensdispositionen eine Rolle spielen.[112]

In Fall 3 verweigert V die Unterhaltsnachzahlungen mit der Begründung, dem Anspruch stehe die mittlerweile verstrichene Zeit entgegen. Dass die Verjährungsfrist von drei Jahren aus § 195 hier noch nicht abgelaufen ist, lässt sich mit Blick auf die Daten unschwer feststellen. Daher kann V sich höchstens auf eine Verwirkung als Unterfall von § 242 stützen. Zunächst mag man sich fragen, ob eine Verwirkung ausgeschlossen ist, weil § 207 Abs. 1 S. 2 Nr 2 für Ansprüche von Kindern gegen ihre Eltern eine Verjährungshemmung ausspricht, um die Anspruchsberechtigten vor einem zeitlich bedingten Verlust von Ansprüchen bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres zu schützen. Einen generellen Ausschluss der Verwirkung aus diesem Grund lehnte der BGH ab, allerdings müsse die Verwirkung im Einzelfall gut begründet sein.[113] Bei der Prüfung der Verwirkung bejahten die Richter das Zeitmoment mit dem Argument, der Unterhalt sei bewusst an die aktuellen Lebensverhältnisse gekoppelt, weshalb er sowieso nur ausnahmsweise rückwirkend bewilligt werden könne. Außerdem sei der Gläubiger (S) schon im Eigeninteresse dazu angehalten gewesen, zügig auf die Berechnung der Unterhaltssumme durch V zu reagieren.[114] Allerdings fehlte es nach Ansicht des BGH am Umstandsmoment: V durfte nicht allein aufgrund der fehlenden Reaktion von S davon ausgehen, dass dieser die Summe hingenommen oder gleich ganz auf Unterhalt verzichtet habe. Ein berechtigtes Vertrauen darauf, dass S auch in Zukunft von einer weitergehenden Geltendmachung absehen würde, sei nicht gegeben.[115] Daher ist keine Verwirkung eingetreten.

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