Bewegungen, die heilen

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KAPITEL 3
Kinder mit besonderen Heraus­forderungen – zwei verschiedene Betrachtungsweisen

Wie wir gesehen haben, ist es unter wissenschaftlichen Fachleuten (Ärzten, Psychologen oder Forschern auf dem Gebiet der Legasthenie) üblich, Problemen wie ADH, ADHS, Autismus, Legasthenie oder Ähnlichem Krankheitswert beizumessen und Kindern mit diesen besonderen Herausforderungen ein entsprechendes „Etikett“ zu verpassen. Die Soziologin Sophia Lövgren hat darauf hingewiesen, dass es sich bei solchen Diagnosen um soziale Konstrukte und kulturelle Phänomene handelt. Verschiedene als krankhaft angesehene „Symptome“ werden zu Krankheitsbildern zusammengefasst, die von Ärzten und anderen Fachleuten identifiziert und „behandelt“ werden können. Um eine Krankheit aber gemäß ihrer Diagnose erfolgreich behandeln zu können, ist es von Vorteil, ihre Ursache zu kennen. Nachdem die medizinischen Fachleute eine Krankheit identifiziert und charakterisiert haben (was der einfachere Teil zu sein scheint), machen sie sich auf die Suche nach ihrer Ursache.

Krankheiten als kulturelle Phänomene

Im Allgemeinen sucht die wissenschaftliche Medizin bei jeder Krankheit oder Diagnose nach einer einzelnen Ursache. Diese Vorgehensweise wurde insbesondere durch die Entdeckung von Bakterien und Infektionskrankheiten gefördert. In unterschiedlichen Epochen gab es jedoch unterschiedliche gängige Ursachen. Nach den Bakterien kamen die Viren und heute sind genetisch bedingte Krankheitsursachen in der Ärzteschaft am „beliebtesten“. Offenbar sind nicht nur Diagnosen, sondern auch anerkannte Ursachen für Krankheiten und Störungen kulturelle Phänomene; das lässt sich an der Entwicklung auf dem Gebiet der Psychiatrie veranschaulichen.

Der Siegeszug des medizinischen Modells in der Psychiatrie

Während meiner ärztlichen Ausbildung in den 1960er-Jahren wurden psychische und emotionale Faktoren insbesondere bei „Geisteskrankheiten“ als relevante Krankheitsursachen betrachtet. Psychiater, die das traditionelle medizinische Paradigma vertraten, dass der Geist nur eine Auswirkung körperlicher Prozesse sei, wurden ins Abseits gedrängt. Psychologen und Sozialarbeiter, Berater, Familientherapeuten und andere Berufsgruppen außerhalb der Psychiatrie nahmen den Bereich der geistigen Gesundheit für sich in Beschlag. Anfang der 1980er-Jahre entschloss sich die American Psychiatric Association zu einer Partnerschaft mit der Pharmaindustrie, die der Psychiatrie Zugang zu deren Forschungsgeldern verschaffte und das medizinische Modell, die Psychopharmakologie sowie die Autorität und den Einfluss der Psychiatrie förderte.20 Dies erwies sich als äußerst erfolgreiche Strategie, wenn auch nicht für die Patienten, so doch zumindest für Psychiater und Pharmaindustrie.

Dieser Prozess beschränkte sich nicht auf die USA, sondern fand weltweit Verbreitung. In Schweden förderten führende Psychiater das medizinische Modell und die medikamentöse Behandlung (insbesondere von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern) ganz besonders erfolgreich. Schwedische Kinderpsychiater scheinen hier gewissermaßen die Führung innerhalb ihres Fachgebietes übernommen zu haben. Während sich die amerikanischen Pädiater und Kinderpsychiater noch nicht einig darüber sind, ob ADHS durch eine Fehlfunktion im Gehirn hervorgerufen wird, stellt die schwedische Gesundheitsbehörde kühn fest, dass die „typischen Symptome“ von ADHS (wie Unruhe, Aufmerksamkeitsdefizite und Impulsivität) Folgen eines genetisch bedingten Mangels an Transmittersubstanzen seien. Zudem ist es schwedischen Psychiatern auch gelungen, die Psychologen und Sozialarbeiter unter ihren Landsleuten zum medizinischen Modell zu bekehren und sie zu ihren Unterstützern bezüglich der „Etikettierung“ der Kinder und ihrer Behandlung mit Psychopharmaka zu machen.

Eine anrüchige Verbindung: Rassenbiologie und Genetik in Schweden

Die große Bereitwilligkeit, mit der schwedische Psychiater sich das genetische Erklärungsmodell für ADHS zu eigen gemacht haben, mag merkwürdig erscheinen. Ich glaube jedoch, dass es historische und kulturelle Gründe dafür gibt, und auch dafür, dass es nicht infrage gestellt wird.

In den 1930er-Jahren und Anfang der 1940er-Jahre war die Rassenbiologie wie in anderen Ländern eine allgemein akzeptierte Ideologie in Schweden. Von politischer Seite war ein Institut für Rassenbiologie in Uppsala finanziert worden, dessen Aufgabe in der Untersuchung und Dokumentation verschiedener Rassengruppen in Schweden bestand. Durch Schädelvermessungen und Fotografieren der nackten Körper von Lappen und Finnen in Nordschweden glaubten die Forscher, die rassische Minderwertigkeit dieser Volksgruppen im Vergleich zur überwiegenden, sogenannten arischen schwedischen Bevölkerung wissenschaftlich beweisen zu können. Viele Menschen in Lappland können noch heute darüber berichten, wie sie als Kinder gegen ihren Willen gezwungen wurden, an diesen Studien teilzunehmen. Es ist ihnen durchaus bewusst, dass viele von ihnen in Vernichtungslager transportiert worden wären, hätten die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen. So sind sie lediglich mit dem Schrecken und der Demütigung davongekommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Rassenbiologie als veraltet und das Institut in Uppsala musste seine Tätigkeit einstellen. Es wurde sang- und klanglos der Abteilung für Genetik der medizinischen Fakultät angegliedert, die das Forschungsmaterial nimmer noch aufbewahrt. Als ich während meiner medizinischen Ausbildung in den 1960er-Jahren in Uppsala Genetik studierte, diskutierten die Studenten untereinander, aber niemals offen mit den Professoren über die Geschichte der Abteilung. Auch in den folgenden Jahren hat es keine ideologische Aufarbeitung der Rassenbiologie unter Ärzten und Genetikern gegeben; ebenso wenig haben sich Historiker und Soziologen dieses Themas angemessen angenommen. Anders als die Ureinwohner Australiens warten die Bevölkerungsgruppen der Lappen und Finnen im Norden Schwedens immer noch auf eine offizielle Entschuldigung für ihre Diskriminierung und den Rassismus vonseiten des Staates.

Ich glaube, dass nicht nur Schwedens Mediziner, sondern auch viele weitere Kreise der schwedischen Gesellschaft immer noch von dieser Ideologie beeinflusst sind, mit der nie offiziell abgerechnet wurde. Dass die Sichtweise von ADHS als genetisch determiniertem Mangel an Transmittersubstanzen im Gehirn in keiner Weise infrage gestellt wird, ist insofern besonders bedeutsam; ebenso die Bereitschaft der Mediziner, die entsprechend abgestempelten Kinder mit solch abhängig machenden und gravierend schädlichen Medikamenten wie den zentral wirksamen Stimulanzien zu behandeln; und schließlich auch die Unterstützung dieser Praktiken durch die Medien und ihre wohlwollende Finanzierung durch die Politik. Wie gezeigt wurde, beruht die Annahme, dass ADHS ein genetisch determinierter Mangel an Transmitterstoffen im Gehirn sei, auf keiner solideren wissenschaftlichen Grundlage als diejenige, dass die schwedischen Volksgruppen der Lappen und Finnen genetisch minderwertig seien, und sie steht im Widerspruch zu vielen Fakten.

Diagnose ADHS – überwiegend in den unteren sozialen Schichten

In Schweden hat Christoffer Gillberg, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Göteborg, Kinder untersucht, die als an ADHS erkrankt galten. Er gehört zu denjenigen „Experten“, die die Ansicht vertreten, ADHS sei eine genetisch bedingte biologische Störung. Als die Soziologin Eva Kärve sein Forschungsmaterial analysierte, fand sie zu ihrer eigenen Überraschung heraus, dass acht von zehn Kindern mit der Diagnose ADHS aus den unteren sozialen Schichten stammten. Dafür gab es keine einleuchtende Erklärung. Für Wissenschaftler, die der genetischen Erklärung anhängen, wäre die Schlussfolgerung naheliegend, dass bei unteren sozialen Schichten eine genetisch prädisponierte höhere Inzidenz von ADHS vorliegt als bei höheren sozialen Schichten. Mit anderen Worten: Sie seien genetisch minderwertig. Eine derartige Haltung gilt in Schweden jedoch als politisch nicht korrekt und wird von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht angenommen. Daher kann sie von der staatlichen Gesundheitsbehörde nicht vertreten werden. Wenn andererseits die genetische Prädisposition für ADHS in allen sozialen Schichten dieselbe ist (was als akzeptierte Auffassung gilt), können wohl nicht acht von zehn Kindern mit ADHS zu den unteren sozialen Schichten gehören. Ein derartiges Ergebnis würde die Theorie widerlegen, ADHS sei eine genetisch bedingte biologische Störung. In diesem Zusammenhang würde Gillbergs Ergebnis vielmehr auf soziale und zivilisationsbedingte Umstände als ursächliche Faktoren von ADHS hinweisen.

Wäre es andererseits unter Wissenschaftlern ein allgemein anerkanntes Prinzip, dass die unteren sozialen Schichten eine genetische Prädisposition für ADHS haben, würde Gillbergs Ergebnis nicht nur deren genetische Minderwertigkeit, sondern auch die Auffassung von ADHS als genetisch bedingte Krankheit wissenschaftlich bestätigen.

Behandlung mit zentral wirksamen Stimulanzien ist Körperverletzung!

Die Effizienz und die Gründlichkeit, mit der schwedische Politiker und die Ärzteschaft Diagnose und Behandlung von Kindern mit ADHS organisiert haben, scheint der Effektivität, mit der das Institut für Rassenbiologie in den 1930er- und 1940er-Jahren dies bezüglich der Schädelvermessungen der Lappen und Finnen getan hat, nicht nachzustehen. Sie wäre beinahe bewundernswert, wären Zweck und Folgen nicht so destruktiv.

Wie damals haben auch die heutigen Kinder, die mit ADHS diagnostiziert werden, keinerlei Mitspracherecht. Sie bekommen zentral wirksame Stimulanzien verschrieben, ob sie das wollen oder nicht. Sollten sie auch anfänglich vielleicht noch dagegen protestieren, so macht sie die Droge schon bald gefügig und fördert ihre Bereitschaft, zu tun, was man von ihnen verlangt.

 

Anders als die damaligen Kinder sind die heutigen nicht von physischer Vernichtung bedroht – nur ihre Gehirnzellen! Wie bereits erwähnt, haben viele Tierversuche an Affen gezeigt, dass relativ geringe Dosen zentral wirksamer Stimulanzien zur Zerstörung von Gehirnzellen und zu dauerhaften Gehirnschäden (vor allem im Frontallappen und in den Basalganglien) führen. Werden die Synapsen infolge der zentral wirksamen Stimulanzien durch Dopamin überstimuliert, so gehen sie zugrunde und die Funktion in diesen Gehirnteilen wird geschädigt. Bei Kindern, die mit einem Amphetamin behandelt werden, kann der Medikamentenspiegel (berechnet in mg/kg Körpergewicht) genauso hoch sein wie der, der gemäß dem wissenschaftlichen Bericht bei Tieren den Gehirnschaden verursachte.

Stimulanzien machen Kinder gefügig – auf Kosten ihres Temperaments

Die Verfechter von zentral wirksamen Stimulanzien, zum Beispiel die schwedische Gesundheitsbehörde, betonen, wie diese Medikamente die Funktionsfähigkeit von ADHS-Kindern verbessern und den Umgang mit anderen Kindern erleichtern.

Was wirklich geschieht, wenn Kinder mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelt werden, steht jedoch auf einem ganz anderen Blatt. Sie werden gefügiger und bereitwilliger und sind in der Lage zu tun, was man ihnen sagt, insbesondere was die „langweiligen“ und sich ständig wiederholenden Aufgaben in der Schule betrifft. Zusätzlich büßen sie ihre Spontaneität und Neugier ein und ziehen sich oft vom Umgang und Spiel mit anderen Kindern zurück.

Zahlreiche Studien an Tieren mit zentral wirksamen Stimulanzien weisen verblüffende Ähnlichkeiten mit den Reaktionen von Kindern auf. Peter Breggin fasste das Ergebnis dieser Studien auf der NIMH-Konferenz wie folgt zusammen:21

„Erstens unterdrücken die Stimulanzien die normale spontane oder selbst gesteuerte Aktivität, auch die Neugier, den sozialen Kontakt und das Spiel.

Zweitens fördern die Stimulanzien stereotype, zwanghafte, übermäßig fokussierte Verhaltensweisen, die ständig wiederholt werden und ohne Bedeutung sind.“

Selbst wenn solche Reaktionen dazu führen, dass es weniger Konflikte mit der Umgebung gibt und so der Umgang mit anderen erleichtert wird, muss man fragen, ob das wirklich bedeutet, dass bei den Kindern eine Besserung eingetreten ist. Sollte ein solches Verhalten nicht eher Anlass zur Sorge geben und eine sorgfältige Überprüfung erfordern?

In den USA strengt ein Anwaltskonsortium eine Reihe von Sammelklagen gegen Novartis (den Hersteller von Ritalin) und die American Psychiatric Association an. Einer der Anwälte schreibt im Vorwort von Peter Breggins Buch Talking back to Ritalin [zu Deutsch etwa: Erwiderungen auf Ritalin]:

„Ich fragte mich, ob die riesigen Summen, die die Pharmaindustrie verdient, zu der gleichen Korruption der Forschung führen könnten wie bei der Tabakindustrie. Ähnlich wie bei dieser, die ihre Produkte bewarb und vermarktete und dabei schon die Kinder im Kopf hatte, begann ich mich zu fragen, ob unsere verletzlichen Kinder wieder Ziel von Unternehmensgewinn werden sollen. Letztendlich stehlen ihnen die Stimulanzien die Kindheit. Sie machen die Kinder gefügiger – auf Kosten ihres Temperaments.“

Nebenwirkungen der zentralen Stimulanzien

Befürworter der zentral wirksamen Stimulanzien behaupten, diese Medikamente hätten relativ wenig Nebenwirkungen. Die Tatsachen sehen jedoch ganz anders aus. Aus Breggins Erhebung geht hervor, dass die Nebenwirkungen der Stimulanzien alles andere als unbedeutend, vielmehr ernst und äußerst häufig sind. In mehreren Studien liegt die Häufigkeit von Nebenwirkungen bei über 50 Prozent. Die häufigsten sind Appetitverlust, Benommenheit, Rückzug, Verlust des Interesses an anderen und Depressionen. Bei einer Studie mit 41 Kindern zwischen 4 und 6 Jahren litten 75 Prozent an Appetitverlust, 62 Prozent an Benommenheit und 62 Prozent hatten kein Interesse an anderen. In einer anderen Studie mit 83 etwas älteren Kindern hatten 45 Prozent Nebenwirkungen, die hauptsächlich in Form von Rückzug, Traurigkeit und Weinen in Erscheinung traten.

Zu den sehr häufigen Nebenwirkungen gehören Zwangssymptome: Sie zeigen sich als zwanghaftes Wiederholen einfacher Aktivitäten (wie endlose Beschäftigung mit Computerspielen). In einer Studie mit 45 Kindern entwickelten 51 Prozent Zwangssymptome, die in bestimmten Fällen sehr ernst waren. Ein Junge war so darauf versessen, das Zusammenrechen von Blättern besonders gut zu machen, dass er darauf wartete, bis sie vom Baum fielen – einzeln! Ein anderes Kind spielte 36 Stunden lang ohne Essens- oder Schlafenspausen mit LEGO. 22

In einer weiteren Studie zeigten 42 Prozent der Kinder nach einer Einzeldosis des Stimulans eine zwanghafte Überfokussierung. Manchmal waren die Kinder nicht in der Lage, mit einer ihnen übertragenen Aufgabe wieder aufzuhören.

Tics und Bewegungsstörungen sind ebenfalls sehr häufige Nebenwirkungen. In einer Studie mit 45 Kindern entwickelten 58 Prozent Tics und anormale Bewegungen. In einer anderen Studie mit 122 Kindern kam es bei 9 Prozent dazu. Ein Kind erholte sich nicht mehr und entwickelte ein irreversibles Syndrom mit Gesichtszuckungen, Drehen des Kopfes, Schmatzen, Abwischen der Stirn und Lautäußerungen.23

Eine kanadische Studie von 1999 konnte zeigen, dass zumindest 9 Prozent, aber wahrscheinlich ein größerer Teil der 98 mit einem zentral wirksamen Stimulans behandelten Kinder Symptome einer Psychose entwickelten.

Es ist seit Langem bekannt, dass zentral wirksame Stimulanzien die Blutzufuhr zum Gehirn vermindern, die Blutgefäße schädigen und Blutungen verursachen. In einem Lehrbuch der Psychiatrie schreibt Jaffe: „Bei Affen gehören zu den toxischen Nebenwirkungen chronischen Amphetamingebrauchs die Schädigung der Blutgefäße im Gehirn, Verlust von Nervenzellen (Absterben von Gehirnzellen) und Mikroblutungen.“24

Solchen Nebenwirkungen bei Kindern und Erwachsenen wird erst seit Kurzem Aufmerksamkeit zuteil, nachdem es viele Berichte über Blutdruckanstieg, Schlaganfälle und plötzlichen Herztod bei damit behandelten Menschen gab. Im Jahre 2005 wurde das Amphetamin Adderall vom Markt genommen, nachdem es Berichte über 20 Fälle von plötzlichem Herztod und 12 Fälle von Schlaganfällen gab.25 Im Februar 2006 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass 51 Patienten, die ein zentral wirksames Stimulans erhalten hatten, plötzlich verstorben waren. Dies veranlasste die amerikanische Zulassungsbehörde FDA zu der Aufforderung an die verschreibenden Ärzte, ganz besonders das Risiko von Herzinfarkten und Bluthochdruck zu berücksichtigen.

Zum Beispiel Strattera

Strattera wird von der Pharmafirma Eli Lilly hergestellt; es war ursprünglich als Antidepressivum gedacht, das sich aber bei Depressionen als wirkungslos erwies. Stattdessen wurde es im Jahre 2002 als Mittel gegen ADHS auf den Markt gebracht. Es macht nicht abhängig wie andere Medikamente, die bei ADHS eingesetzt werden. Seine Wirkungen sind jedoch fraglich und seine Nebenwirkungen beängstigend. Laut einer schwedischen Studie mit 100 Kindern zeigte die Verabreichung von Strattera keinerlei positive Wirkungen. Viele Kinder beklagten sich jedoch über eine oder mehrere negative Nebenwirkungen. Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Appetitverlust und Übelkeit gehörten mit 40 Prozent zu den häufigsten. Ungefähr 10 Prozent der Kinder bekamen psychische Nebenwirkungen wie Reizbarkeit oder Depressionen.26

Bereits im Jahre 2005 waren bei Eli Lilly Berichte über rund 11 000 Reaktionen aus dem psychiatrischen Bereich eingegangen.27 Im selben Jahr hatte die europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln vor Strattera gewarnt, da es bei Kindern Feindseligkeit und emotionale Instabilität verursache. Es gab auch internationale Warnungen vor einem durch dieses Medikament erhöhten Suizidrisiko.

Im Jahre 2006 untersuchte die FDA alle Berichte über negative psychische Nebenwirkungen, nach denen es 992 Fälle von Aggressivität oder gewalttätigem Verhalten und 360 Fälle von Psychosen gab. In 90 Prozent dieser Fälle gab es vorher keine ähnlichen Symptome.28 Man sollte nicht außer Acht lassen, dass über höchstens 10 Prozent der negativen Arzneimittelreaktionen überhaupt berichtet wird.

Eine neue Recherche der Fälle mit tödlichem Ausgang, die der FDA bekannt gemacht wurden (2004–2007), zeigte, dass in den USA 31 Kinder und Jugendliche während der Behandlung mit Strattera verstorben waren; 19 von ihnen verübten Selbstmord. Außerdem wurde berichtet, dass in Europa 6 Kinder und Jugendliche verstorben waren. Im selben Zeitraum waren in den USA und in Europa 37 Erwachsene verstorben, 17 von ihnen durch Selbstmord. Insgesamt waren innerhalb von drei Jahren 78 Menschen verstorben, die mit Strattera behandelt wurden.

Trotz Nebenwirkungen – die Verschreibungen nehmen zu

Zentral wirksame Stimulanzien sind nicht die einzigen Medikamente, die bei vielen Patienten zu schweren und lebensbedrohlichen Nebenwirkungen oder sogar zum Tod führen. Solche Arzneimittelwirkungen sind häufig und werden von der Ärzteschaft unter der Voraussetzung hingenommen, dass mit der medikamentösen Behandlung mehr Patienten „überleben“ als ohne. Auch dann, wenn ein Medikament das Leben der Patienten grundsätzlich verlängert, wird eine gewisse Todesrate in Kauf genommen.

Doch nicht einmal die glühendsten Verfechter der zentral wirksamen Stimulanzien behaupten, dass ADHS eine lebensbedrohliche Krankheit sei oder die Lebenserwartung der betroffenen Kinder verkürze. Daher sind sie gezwungen, die Schwere der Nebenwirkungen herunterzuspielen und zu behaupten, sie seien relativ belanglos. Daher müssen sie auch so tun, als seien ihnen all die Studien, die das Gegenteil belegen, unbekannt.

Eine Sache können sie jedoch nicht leugnen, nämlich das Ergebnis der neuesten Nachfolgestudie mit Kindern, die zentral wirksame Stimulanzien erhielten: die MTA-Studie von 2007. Sie ergab, dass nach 36 Behandlungsmonaten ganz im Gegensatz zu den Erwartungen der Befürworter keine positiven Wirkungen irgendeiner Art erkennbar waren und dass zentral wirksame Stimulanzien mit einem aggressiveren und antisozialen Verhalten und dem erhöhten Risiko, später in Kriminalität und Drogenmissbrauch abzurutschen, korrespondieren.

Wie bereits erwähnt, wurden die Ergebnisse der MTA-Studie im Jahre 2010 durch die australische Langzeitstudie bestätigt, in der 131 mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelte Kinder beobachtet wurden. Die Studie ergab, dass sich diese Medikamente nicht auf die schulischen Leistungen auswirkten und auch das Verhalten nicht besserten. Es kam jedoch zu einem deutlichen Anstieg des Blutdrucks und die behandelten Kinder blieben mit zehnfach höherer Wahrscheinlichkeit in ihren Leistungen hinter den Altersgenossen zurück.

Trotzdem werden diese Medikamente bei Eltern und Lehrern immer beliebter, denn in vielen Fällen scheinen sie geradezu „übernatürliche“ Kurzzeitwirkungen auf das Verhalten der Kinder auszuüben; sie scheinen sie gefügiger und bereitwilliger zu machen und der Umgang mit anderen Kindern gestaltet sich ebenfalls einfacher. Lehrer finden wohl, dass diese Medikamente den Aufruhr im Klassenzimmer in Grenzen halten und ihnen einen sinnvollen Unterricht ermöglichen. Und sie sind meist erfreut, dass die Kinder das tun, was man ihnen sagt.

Gewiss mag den Lehrern auffallen, dass die Kinder mit der Zeit weniger spontan und neugierig werden, sich von anderen Kindern zurückziehen und nicht mehr mit ihnen spielen. Eine Lehrerin äußerte sich über ihre Erfahrung mit diesen Kindern folgendermaßen: „Das Rad dreht sich, aber man bemerkt, dass der Hamster tot ist.“ Selbst wenn Lehrer solche negativen Auswirkungen der zentral wirksamen Stimulanzien feststellen, betrachten sie sie oft als den Preis, der bezahlt werden muss, damit Unterricht stattfinden kann.

In vielen Fällen verschlechtern diese Medikamente jedoch die problematischen Verhaltensweisen der Kinder, sie werden aggressiver, depressiv oder sogar lebensmüde oder sie entwickeln schwere Zwangsstörungen; in solchen Fällen wird die Behandlung oft abgebrochen. Und wie aus den Langzeitstudien hervorgeht, gibt es nach 3 Jahren keine positiven Auswirkungen mehr.

 
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