Bewegungen, die heilen

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Das dreigliedrige Gehirn

Der amerikanische Wissenschaftler Paul MacLean hat – wie bereits erwähnt – die Gehirnentwicklung von Reptilien, Säugetieren und Menschen studiert. Nach seinen Erkenntnissen besteht das menschliche Gehirn aus drei Schichten, die den Hirnstamm umgeben bzw. überlagern. Der Hirnstamm ist Teil des „neuronalen Fahrgestells“, von dem MacLean sprach und zu dem auch das Rückenmark gehört. Die drei Schichten des dreigliedrigen Gehirns umgeben den Hirnstamm sozusagen wie Zwiebelschalen.18

Laut MacLean könnte man das „neuronale Fahrgestell“ mit einem fahrerlosen Auto und die drei den Hirnstamm umgebenden Strukturen mit drei „Maschinenführern“ oder Fahrern vergleichen – jeder mit einem eigenen Intellekt, einer eigenen Speicherbank und anderen Funktionen ausgestattet.

Oberhalb des Hirnstamms liegt das reptilienhafte Gehirn, das den im Zuge der Evolution von Reptilien entwickelten neuen Hirnteilen entspricht. Beim Menschen besteht das reptilienhafte Gehirn unter anderem aus den Basalganglien, zu deren Aufgaben die Steuerung der Haltungsreflexe gehört, das heißt, unsere Fähigkeit zu gehen, zu stehen und das Gleichgewicht zu halten.

Das reptilienhafte Gehirn muss auch die „primitiven“ Reflexe hemmen, angeborene, stereotype, vom Hirnstamm gesteuerte Bewegungsmuster. Die primitiven Reflexe bilden die Bewegungen des Fötus und des Neugeborenen und müssen in die Haltungsreflexe umgewandelt werden, damit das Kind aufstehen, laufen und das Gleichgewicht halten kann. Die Basalganglien regulieren auch den Aktivitätsgrad des Kindes und sorgen dafür, dass es nicht die meiste Zeit „auf Touren“ ist.

Auf dem reptilienhaften Gehirn sitzt das limbische Gehirn, das unter anderem unsere Emotionen, unser Gedächtnis, das Lernen und Spielen steuert. Dieses wird vom Neokortex umschlossen, dem Sitz unserer rationalen, kognitiven Funktionen. Signale aus den Sinnesorganen müssen beim Neokortex ankommen und dort verarbeitet werden, damit wir wahrnehmen, was um uns herum vor sich geht, und bewusst handeln können. Der vorderste Teil des Neokortex, der präfrontale Kortex, ist für Urteilsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Entschlusskraft und Impulskontrolle von entscheidender Bedeutung.

Die Bedeutung der rhythmischen Bewegungen für die Vernetzung des Gehirns

Bei der Geburt sind alle Bestandteile des dreigliedrigen Gehirns ausgebildet, arbeiten aber noch nicht ordnungsgemäß. Damit sie als Einheit funktionieren, müssen sie entwickelt und miteinander vernetzt werden. Das geschieht durch die rhythmischen Bewegungen des Säuglings, die das Wachstum und die Verzweigung der Nervenzellen sowie die Myelinisierung der Nervenfasern stimulieren.

Dazu ist ein ausreichender Muskeltonus erforderlich. Damit dieser sich ausbildet, muss das Kind berührt, umarmt und geschaukelt werden und es muss sich frei bewegen dürfen. Diese Art der Stimulation sendet Signale aus den Sinnesorganen zum Tastsinn, dem Gleichgewichtssinn und zur Tiefensensibilität, zu denjenigen Zentren des Stammhirns, deren Aufgabe die Regulation des Muskeltonus ist. Wird ein Baby in dieser Hinsicht wenig stimuliert, ist der Tonus seiner Streckmuskeln schwach.19 Dadurch kann es Schwierigkeiten haben, den Kopf und die Brust zu heben und sich zu bewegen, was wiederum die Stimulation weiter herabsetzt, sodass es in einen Teufelskreis gerät …

Kann sich das Baby nicht frei bewegen, wird der Neokortex über das retikuläre Aktivierungssystem des Stammhirns (RAS) zu wenig stimuliert. Die Aufgabe dieses Systems ist es, den Neokortex anzuregen, in Gang zu setzen. Geschieht dies nur ungenügend, wird das Kind schwerfällig und unaufmerksam gegenüber sensorischen Signalen. Außerdem entwickeln sich dann die Nervenzellen und Nervennetze des Neokortex nicht richtig.

Auch das Kleinhirn ist wichtig für die Vernetzung des Gehirns und die Fähigkeit, aufmerksam zu sein. Die Aufgabe des Kleinhirns besteht darin, für rhythmische, koordinierte und fließende Bewegungen zu sorgen. Vom Kleinhirn aus führen wichtige Nervenverbindungen zum präfrontalen Kortex und zu den Sprachzentren im Frontallappen der linken Hemis­phäre.

Bei der Geburt ist das Kleinhirn noch nicht entwickelt; es wächst ab dem sechsten Monat beträchtlich. Die rhythmischen Bewegungen des Babys entwickeln die Nervennetze und Nervenzellen des Kleinhirns und seine Verbindungen zu den Frontallappen. Das ist ein Grund dafür, dass diese rhythmischen Bewegungen so wichtig sind für die Vernetzung des Stirnhirns und für Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit und Sprechen.

Warum es Babys schwerfällt, still zu sitzen und aufmerksam zu sein

Die Nervennetze des Gehirns sind, wie erwähnt, noch nicht entwickelt und die verschiedenen Schichten des Gehirns sind noch nicht verbunden; das erklärt, dass Kinder sich nicht wie kleine Erwachsene verhalten. Kinder können ihre Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten und sich nicht lange auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren oder ihre Impulse steuern, weil eben die Nervennetze des Neokortex und insbesondere der Frontallappen noch nicht entwickelt sind.

Kinder haben Probleme damit, ihren Aktivitätsgrad zu steuern; normalerweise sind sie im Alter von 10 bis 12 Monaten die meiste Zeit in Bewegung und tun sich schwer damit, still zu sitzen. Eine Aufgabe der Basalganglien ist es, den Aktivitätsgrad zu steuern. Da sie sich noch nicht richtig entwickelt haben und nicht mit den anderen Ebenen des Gehirns vernetzt sind, wirken die meisten normalen Babys in diesem Alter überaktiv.

Dagegen werden Babys, die sich aufgrund eines schwachen Muskeltonus nicht ausreichend bewegen können, eher schwerfällig, hypoaktiv, unaufmerksam und sie entwickeln sich spät.

Ähnlichkeiten zwischen Babys und ADHS-Kindern

Wie aufgezeigt sind Aufmerksamkeitsdefizit-Probleme und Hyperaktivität gemeinsame Merkmale von ganz kleinen Kindern und solchen, die unter ADHS leiden. Bei beiden Gruppen gibt es viele Anzeichen dafür, dass die Basalganglien (noch) nicht richtig arbeiten; dazu gehören Schwierigkeiten, den Aktivitätsgrad zu steuern, sowie Probleme mit primitiven Reflexen und dem Gleichgewicht.

Es ist außerdem bekannt, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen nicht in der Lage sind, einfache Bewegungen rhythmisch und fließend auszuführen, was darauf hinweist, dass die Nervennetze des Kleinhirns sich nicht richtig entwickelt haben. Da das Kleinhirn für die ordnungsgemäße Funktion der Frontallappen von wesentlicher Bedeutung ist, kann dieses Unvermögen ein entscheidender Faktor hinter den Problemen mit Aufmerksamkeit und Impulsivität sein.

Viele Kinder mit ADHS haben einen schwachen Muskeltonus und eine vorn übergebeugte Körperhaltung; das führt zu Flachatmigkeit und ungenügender Aktivierung des Neokortex. Solche Kinder können zwischen Hyperaktivität und Passivität schwanken, wobei die Hyperaktivität eine Möglichkeit darstellt, den Neokortex durch Bewegung zu stimulieren.

Die Aufmerksamkeitsstörung als verzögerte Gehirnreifung

Wie wir gesehen haben, betrachten die „Experten“ ADHS als genetisch bedingt. Eine alternative Betrachtungsweise wäre, dass die entsprechenden Verhaltensmerkmale Folgen eines verzögerten oder behinderten Gehirnreifungsprozesses sind. Aus irgendeinem Grund wurde das Gehirn des Kindes nicht genügend stimuliert, sodass die Neuronen zu wenig Axone und neue Synapsen bilden konnten. Ein Mangel an Stimulation kann auch die Myelinbildung um die Nervenfasern blockieren. Reicht die Myelinisierung nicht aus, wird die Geschwindigkeit der Weiterleitung von Nervensignalen beeinträchtigt. Zusammen kann dies die Entwicklung der verschiedenen Hirnteile und ihre Vernetzung blockieren und die Gesamtfunktion des Gehirns behindern.

Alles, was die motorische Entwicklung des Kindes blockiert und seine Bewegungen behindert, blockiert auch die Entwicklung des Gehirns. Es gibt viele Umstände, die die motorische Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können: Frühgeburt, Verletzung des Gehirns bei der Geburt, erbliche Faktoren, Impfungen, elektromagnetische Felder und Mikrowellen von Mobiltelefonen, Toxine oder Krankheiten. Solche Faktoren können dazu führen, dass das Kind wichtige Schritte seiner motorischen Entwicklung auslässt und die Entwicklung und Reifung des Gehirns erschwert wird.

Sorgen die Angehörigen oder Bezugspersonen des Kindes nicht für genügend Stimulation, wird es also ohne Anregung des Tast- und des Gleichgewichtssinns sich selbst überlassen oder muss es übermäßig lange in Babystühlen, im Laufstall oder in einer Babyschale fürs Auto sitzen, anstatt seinem Bewegungsdrang auf dem Fußboden nachzugehen, wird die ordnungsgemäße Reifung des Gehirns ebenfalls behindert.

Nachreifung des Gehirns mit rhythmischen Bewegungsübungen

Wie ich gezeigt habe, gibt es zwischen Babys und ADHS-Kindern hinsichtlich des Verhaltens und der mangelnden Gehirnreifung viele Ähnlichkeiten. Daher drängt sich die Frage auf, ob Kindern mit ADHS oder ADS durch Nachahmung der spontanen rhythmischen Bewegungen von Babys geholfen werden kann. Ein solches Bewegungstraining gibt es in Schweden seit mehr als 25 Jahren.

Die rhythmischen Bewegungsübungen wurden (wie bereits berichtet) von Kerstin Linde entwickelt und basieren auf den natürlichen rhythmischen Bewegungen von Babys. Es handelt sich um aktive oder passive rhythmische Ganzkörperbewegungen; sie werden im Liegen, Sitzen oder auf allen Vieren durchgeführt. Passive Bewegungen können durch rhythmisches Drücken von den Füßen gegen den Körper des auf dem Rücken liegenden Kindes oder von den Hüften aus (– das Kind liegt dann in Fötalstellung) zum Kopf hin hervorgerufen werden. Liegt das Kind (oder auch der erwachsene Klient) auf dem Bauch, kann das Gesäß rhythmisch von einer Seite zur anderen hin- und herbewegt werden. In Rückenlage können die Beine aufeinander zu gerollt werden, sodass sich die Großzehen in der Mitte treffen. [Nähere Beschreibungen finden Sie am Ende des Buches, Seite 237 ff.]

 

Diese Bewegungen kann das Kind (der Klient) auch aktiv durchführen. Auf dem Rücken liegend kann es mit gebeugten Knien rhythmisch drücken oder seine Beine hin- und herrollen, sodass sich die Großzehen in der Mitte treffen. Andere aktive Bewegungen sind etwa Schaukeln auf allen Vieren oder Krabbeln. Um eine Wirkung zu erzielen, sollten die Übungen täglich 10 bis 15 Minuten lang gemacht werden

Ob aktiv oder passiv ausgeführt – diese Bewegungen sind für jedes Kind und jeden Klienten geeignet, wie eingeschränkt sie auch sein mögen. Sie sollten idealerweise ganz exakt gemacht werden. Bei schwerbehinderten Menschen ist das natürlich nicht möglich; in solchen Fällen ist es ein langfristiges Ziel, sie zu einer immer genaueren Durchführung zu befähigen.

Man kann leicht beobachten, dass durch diese Bewegungen mehrere Sinne stark angeregt werden. Die Kopfbewegungen stimulieren den Gleichgewichtssinn. Das rhythmische Drücken entlang der Wirbelsäule, von den Füßen oder vom Gesäß aus, stimuliert die Tiefensensibilität in vielen Gelenken und in den Beckenorganen. Die rhythmischen Bewegungen stimulieren durch die Reibung zwischen der Körperrückseite oder -vorderseite und dem Boden auch die taktilen Rezeptoren der Haut.

Auswirkungen der rhythmischen Bewegungen auf das Verhalten

Die sensorische Stimulation durch die rhythmischen Bewegungen regt auch die Entwicklung der Nervenverknüpfungen in Stammhirn, Kleinhirn, Basalganglien und Neokortex an. Dadurch verbessern sich Aufmerksamkeit und Konzentration, während Hyperaktivität und Impulsivität abnehmen.

Die rhythmischen Bewegungen erhöhen den Muskeltonus der Rückenstrecker und halten den Kopf in aufrechter Position. Körperhaltung, Atmung und Durchhaltevermögen werden besser und der Neokortex wird durch die Stimulation über das Stammhirn erregt, was eben zu der Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration führt.

Das rhythmische Training regt zudem die Basalganglien zur Reifung und Integration der primitiven Reflexe an und damit wird es für das Kind leichter, seinen Aktivitätsgrad zu steuern und sich ruhig zu verhalten.

Die Bedeutung des Rhythmus

Die spontanen rhythmischen Bewegungen des Babys stimulieren, organisieren und entwickeln sein Gehirn; dies geschieht durch Nervenimpulse aus den Sinnesorganen und durch schwache elektromagnetische Frequenzen.

Dem Zellbiologen James Oshman zufolge ist der Körper eine lebendige Matrix, in der alle Teile, von der Haut bis zu den Zellkernen, miteinander in Kontakt sind. Die Informationsübertragung zwischen den verschiedenen Teilen passiert nicht nur durch Nervensignale, sondern auch durch elektromagnetische Impulse unterschiedlicher Frequenzen.

Die rhythmischen Bewegungen verursachen eine periodische, sich ständig verändernde Stimulation des Gehirns, die vom Gleichgewichtssinn, dem Tastsinn und der Tiefensensibilität ausgeht. Bei diesem Prozess werden die Nervensignale durch Transmitterstoffe übertragen (zum Beispiel Dopamin, Glutamat oder Gamma-Amino-Buttersäure). Solche wechselnden, oszillierenden Stimulationen sind wesentlich wirksamer als die kontinuierlichen, da die kontinuierlichen oder ähnlichen Signale eine geringere Reaktion auf den Reiz hervorrufen; das ist die sogenannte Gewöhnung.

Informationen werden auch durch unterschiedliche Arten von Energie in das gesamte System des Körpers übertragen. Energie ist im Wesentlichen Schwingung, und zwar in Form von Licht oder elektromagnetischer Strahlung, Geräuschen, chemischer oder mechanischer Energie. Viele der wichtigsten Bestandteile der Muskeln und des Skeletts liegen spiralförmig vor. Dadurch erhalten sie Elastizität und eine gute Resonanzfähigkeit. Wenn der Körper durch die rhythmischen Bewegungen in Schwingung versetzt wird, entstehen schwache elektromagnetische Felder, die Informationen in alle Körperteile und ganz besonders in das Nervensystem und das Gehirn übertragen.

Wie man erkennt, welche Übungen Kinder mit Aufmerksamkeits- und Lernproblemen brauchen

Dazu ist es erforderlich, dass man sich mit den Schwierigkeiten des Kindes vertraut macht. Eine sorgfältige Befragung, etwa unter Zuhilfenahme eines Fragebogens, ist wichtig, um die Vorgeschichte und die Probleme zu verstehen, die das Kind am meisten beeinträchtigen. Ergänzend sollten die motorischen Fähigkeiten des Kindes untersucht werden. Es ist besonders wichtig herauszufinden, welche primitiven Reflexe nicht integriert wurden und ob das Kind Probleme mit der Durchführung einfacher rhythmischer Übungen hat. Eine gewissenhafte visuelle Beurteilung sowie ein Audiogramm könnten ebenfalls wertvoll sein, vor allem bei Lernproblemen. Aufgrund der so gewonnenen Erkenntnisse kann man sich ein grobes Bild davon machen, welche Funktionen das Kind verbessern sollte.

Bei Kindern, die ADHS-Merkmale und Lernschwierigkeiten zeigen, sind immer persistierende primitive Reflexe im Spiel. Offensichtliche motorische Probleme sind jedoch nicht zwangsläufig vorhanden. Manchmal haben solche Kinder sogar gute motorische Fähigkeiten und sind gute Sportler und Turner. Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen haben häufiger einen schwachen Muskeltonus, eine schlechte Körperhaltung und Schwierigkeiten beim Ausführen einfacher rhythmischer Bewegungen. In solchen Fällen treten die motorischen Probleme meist deutlicher hervor.

Das Trainingsprogramm eines solchen Kindes sollte sich danach richten, was die Befragung und die Untersuchung der Motorik ergeben haben. Zumindest am Anfang sollte dieses Programm nicht mehr als 10 Minuten in Anspruch nehmen und täglich oder mindestens fünfmal pro Woche durchgeführt werden. Im Zuge der Verbesserung der motorischen Fähigkeiten und der Integration der Reflexe sollte es abgewandelt werden. Gleichzeitig bessern sich die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes und damit die Aufmerksamkeit, die Impulskontrolle und die Fähigkeit, still zu sitzen. In den meisten Fällen muss man mit 1 Jahr oder mehr rechnen, bis die ADHS-Merkmale dauerhaft verschwunden sind. Werden die Übungen nicht ausreichend lange gemacht, so ist die Zeit eventuell zu kurz für eine neue Bahnung des Gehirns und einige der unerwünschten Verhaltensweisen können wiederkehren.

Viele Kinder und Erwachsene mit persistierenden primitiven Reflexen hatten nie Aufmerksamkeits- oder Lernprobleme. Sie können aber stattdessen Probleme mit dem Sehen, mit der Motorik, mit ihren Emotionen oder aber Muskel- und Gelenkschmerzen haben.

Fallbeispiel: Anna

An diesem Beispiel möchte ich die Wirkungen des RMT bei Aufmerksamkeitsstörungen veranschaulichen und zeigen, wie die rhythmischen Bewegungen die Aufmerksamkeit erhöhen und die Impulsivität und Hyperaktivität senken.

Anna war 10 Jahre alt, als sie mit dem rhythmischen Bewegungstraining begann. Mit Ausnahme der Feinmotorik war ihre motorische Entwicklung normal verlaufen. Als Baby durchlief sie die Krabbelphase und konnte im Alter von 1 Jahr laufen. Doch sie hatte große Schwierigkeiten mit der Konzentration und dem Stillsitzen in der Schule. Sie war leicht ablenkbar und zeigte eine sehr geringe Ausdauer. Lesen und Schreiben bereiteten ihr keine Probleme, aber sie hatte große Schwierigkeiten beim Rechnen. Während der Mathematikstunden stand ihr eigens eine pädagogische Assistentin zur Seite, und wenn diese nicht da war, lief sie nur in der Klasse herum und störte die anderen.

Anna handelte spontan und hatte große Schwierigkeiten, aufzupassen und Anweisungen zu befolgen, insbesondere im Sportunterricht, an dem sie gar nicht teilnehmen wollte. Sie hatte schwache Knöchel und verstauchte sich leicht. Große Probleme hatte sie mit der Feinmotorik, insbesondere mit dem Binden von Schuhbändern und dem Zuknöpfen von Kleidungsstücken, und ihre Handschrift war schlecht.

Anna hatte auch emotionale Probleme. Sie fürchtete sich im Dunkeln, war verunsichert und beklommen, vor allem nachts. Beziehungen zu Gleichaltrigen gestalteten sich äußerst schwierig. Die Mädchen in ihrer Klasse hänselten sie oft; dann rannte sie weg und versteckte sich.

Als sie zum ersten Mal zu mir kam, testete ich ihre primitiven Reflexe, von denen viele aktiv waren. Der Spinale Galantreflex war besonders aktiv – das war die Erklärung dafür, dass sie nicht still sitzen und keine eng anliegenden Kleidungsstücke tragen konnte. Auch der Moro-Reflex war äußerst aktiv – und damit verantwortlich für ihre Geräusch- und Berührungsempfindlichkeit sowie für ihre emotionalen Probleme.

Ebenfalls aktiv waren der Palmar- und der Greifreflex – die Ursache für ihre Probleme mit der Feinmotorik.

Annas Trainingsprogramm

Anna kam etwas mehr als 1 Jahr lang etwa einmal im Monat zu mir. Sie machte zu Hause täglich 10 bis 15 Minuten lang ihre rhythmischen Übungen. Bei jedem Besuch bekam sie neue. Einige davon behielt sie die meiste Zeit bei. Bei ihren Übungen wurde sie unterstützt und korrigiert, damit sie sie so exakt wie möglich machte. Zusätzlich bekam sie spezielle Übungen zur Reflexintegration, bei denen ihre Mutter ihr half.

Nach 4 Monaten stellte die Mutter fest, dass Anna „aufsässiger“ und „übellauniger“ sei als vorher. Nach 5 Monaten hatten sich diese Verhaltensmerkmale wieder gebessert und sie war selbstsicherer.

Anna konnte sich in der Schule besser konzentrieren und die Schularbeiten gingen ihr besser von der Hand, auch das Rechnen. Wenige Wochen später hatte sie im Rechnen das Niveau ihrer Klassenkameraden aufgeholt. Auch im Sport lief es besser und sie ging gerne hin. Ganz besonders mochte sie Weit- und Hochsprung.

Nach einem halben Jahr wechselte sie nach den Sommerferien auf eine andere Schule und ihre Mutter verschwieg dort ihre Probleme. Es stellte sich heraus, dass sie sich gut konzentrieren konnte und keine zusätzliche Hilfe brauchte. Die Beziehung zu ihren Klassenkameraden gestaltete sich ohne Probleme und sie wurde nicht mehr gehänselt. Ihre Knöchel waren viel stärker geworden und so begann sie mit Fußballtraining. Auch ihre Feinmotorik hatte sich erheblich gebessert.

Nach etwas über einem Jahr Bewegungstraining war die Angst vor der Dunkelheit verschwunden. Sie war auch nicht mehr überempfindlich gegenüber Geräuschen und Berührung und ließ sich nicht so leicht ablenken. Sie konnte problemlos still sitzen und enge Kleidung tragen. Obwohl sich die feinmotorischen Fähigkeiten sehr gebessert hatten, hatte sie immer noch gewisse Schwierigkeiten mit dem Zuknöpfen von Kleidungsstücken. Die Konzentration machte ihr praktisch gar nicht mehr zu schaffen und ihre Ausdauer war gut.