Bewegungen, die heilen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zentral wirksame Substanzen verbessern den schulischen Erfolg nicht

Entgegen allen Behauptungen der Befürworter von Ritalin bei ADHS kommt es bei den mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelten Kindern nicht zu verbesserten schulischen Leistungen. Bereits im Jahre 1976 konnte eine Doppelblindstudie bei mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelten Kindern keine verbesserten Schulleistungen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zeigen, wenngleich das Verhalten der behandelten Kinder als besser eingestuft wurde. Ganz im Gegenteil, die Forscher fanden heraus, dass zentral wirksame Stimulanzien wünschenswerte Verhaltensweisen, die das Lernen erleichtern, unterdrücken. Im Jahre 1992 warnten James Swanson (ein prominenter Befürworter von Ritalin bei ADHS) und seine Kollegen, dass es bei den üblicherweise verordneten klinischen Dosen zur toxischen Wirkung auf die geistigen Fähigkeiten, zur kognitiven Toxizität, kommen könne. Die Kinder würden verschlossen und überfokussiert und viele erschienen „zombiartig“. Laut Swanson ist kognitive Toxizität weit verbreitet und kann bei 40 Prozent der behandelten Fälle auftreten; und die Überfokussierung der Aufmerksamkeit kann das Lernen eher beeinträchtigen als verbessern.10

Erhöhtes Risiko von Drogenmissbrauch

Frühere Forschungen ergaben auch ein erhöhtes Risiko von Drogenmissbrauch. Die amerikanische Drogenbehörde (Drug Enforcement Administration, DEA) hat wiederholt große Bedenken geäußert, dass die Behandlung mit Ritalin zum Missbrauch anderer Drogen führen werde. Im Jahre 1995 berichtete die DEA, neuere Studien, Fälle von Drogenmissbrauch und Trends unter den Jugendlichen (aus verschiedenen Quellen) wiesen darauf hin, dass Methylphenidat (Ritalin) ein Risikofaktor für Substanzenmissbrauch sein könne.11

Bei der 1998 vom NIMH organisierten „Konsens-Konferenz“ legte die Professorin Nadine Lambert von der Universität von Kalifornien in Berkeley eine ungewöhnliche Langzeitstudie über den (späteren) Drogenmissbrauch in zwei ADHS-Gruppen vor. Die Studie verglich eine Gruppe, der im Kindesalter Stimulanzien verschrieben worden waren, mit einer Gruppe, die keine Medikamente erhalten hatte.

Die Wissenschaftlerin stellte eine deutliche Korrelation zwischen der Behandlung mit Stimulanzien und späterem Drogenmissbrauch fest. Sie erklärte, dass die Verordnung von Stimulanzien bei Kindern über einen Zeitraum von einem Jahr oder länger mit einem erhöhten lebenslangen Konsum von Kokain und Aufputschmitteln korreliere. In ihrer Abhandlung schlussfolgerte sie, dass die Einnahme von Stimulanzien in der Kindheit maßgeblich und durchgängig daran beteiligt sei, dass mit dem regelmäßigen Rauchen begonnen werde, dass im Erwachsenenalter täglich geraucht werde und dass es zu Kokainabhängigkeit und lebenslangem Konsum von Kokain und Aufputschmitteln komme.12

Aus ersichtlichen Gründen wäre es schwierig, Nebenwirkungen zentral wirksamer Stimulanzien wie Wachstumshemmung oder das Risiko späteren Drogenmissbrauchs zu demonstrieren, indem man die Kinder nur ein Jahr oder sogar kürzer begleitete. Solche Wirkungen zeigen sich erst Jahre später. Viele Kinder nehmen 5 bis 10 Jahre oder noch länger zentral wirksame Stimulanzien. Was mit diesen Kindern in Zukunft geschehen wird, darüber kann vorläufig nur spekuliert werden. Bisher fand keine Langzeitbeobachtung über mehr als drei Jahre statt und es darf bezweifelt werden, dass sich das jemals ändern wird, da die Ergebnisse solcher Studien für die Pharmaindustrie wahrscheinlich noch verheerender sind als die bisher jüngste veröffentlichte MTA-Studie.

Anfänglich gute Wirkungen – nach 3 Jahren verschwunden

Hätten die für die MTA-Studien verantwortlichen Forscher die früheren Studien an Affen über zentral wirksame Stimulanzien untersucht, so hätten sie vorhersagen können, dass die scheinbar „guten“ Wirkungen nach 3 Jahren verloren gehen.

Gemäß einer von den Befürwortern von Ritalin unterstützten Hypothese wird ADHS verursacht durch eine mangelhafte Funktion des Neurotransmitters Dopamin in zwei Hirnarealen, dem präfrontalen Kortex und den Basalganglien. Der präfrontale Kortex ist für die sogenannten exekutiven Funktionen verantwortlich: Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen, Planung, Impulskontrolle; und die Basalganglien steuern unter anderem unsere Fähigkeit, still zu sitzen. [Exekutive Funktionen = Gehirnfunktionen, mit denen Menschen ihr Verhalten steuern. – Anm. d. Verlags]

Der Wirkungsmechanismus zentral wirksamer Stimulanzien besteht darin, die Freisetzung von Dopamin zu erhöhen und seine Aufnahme an den Synapsen des präfrontalen Kortex und in den Basalganglien zu verhindern. Infolgedessen vermehrt sich die in den Synapsen dieser Areale verfügbare Dopaminmenge; dadurch kommt es zu einer unmittelbaren klinischen Wirkung: Ein überaktives Kind, das die meiste Zeit herumgesprungen und -gelaufen ist und eine Belastung für die Menschen in seiner Umgebung war, ist oft schon nach der ersten Dosis in der Lage, ruhig zu sitzen und sich auf jede „langweilige“ Aufgabe zu konzentrieren. Dies hinterlässt bei vielen Lehrern und Eltern natürlich einen „nachhaltigen“ Eindruck.

Diese Wirkung ist jedoch nicht nur von kurzer Dauer, sie fordert auch einen hohen Preis. Die Erhöhung von Dopamin verursacht ein kompensatorisches Absterben von Dopaminrezeptoren im Gehirn, das die akute Drogenwirkung und den nachfolgenden Tod von Gehirnzellen bei Weitem überdauert.13 In einer Studie an Affen im Jahre 1997 konnte gezeigt werden, dass die Verabreichung von zwei relativ kleinen Dosen Amphetamin (2mg/kg Körpergewicht, im Abstand von 4 Stunden) eine dauerhafte, deutliche Abnahme der Dopamin-Synthese und -Konzentration bis zu 3 Monaten zur Folge hatte. Ein Tier zeigte selbst 8 Monate später noch eine fortgesetzte Fehlfunktion.14

Bei Kindern, die mit Amphetamin und anderen Stimulanzien behandelt werden, kann die Medikamentenmenge in mg/kg so hoch sein wie diejenige, die in mehreren Studien bei Tieren zu Gehirnschäden geführt hat.

Laut MTA-Studie verlieren zentral wirksame Stimulanzien ihre positive Wirkung, wenn Kindern länger als 1 Jahr und bis zu 3 Jahren damit behandelt werden. Dies ist logisch, wenn man die Langzeitwirkung zentral wirksamer Stimulanzien auf das Gehirn betrachtet, die die Verminderung der Dopamin produzierenden Nervenzellen zur Folge hat. Also muss die Dosis der zentral wirksamen Stimulanzien erhöht werden, damit dieselbe Wirkung erzielt wird, und auf lange Sicht haben diese aufgrund des massiven Verlustes von Dopamin produzierenden Gehirnzellen überhaupt keine positive Wirkung mehr.

Eine australische Langzeitstudie bestätigte die MTA-Studie

Anfang 2010 veröffentlichte das westaustralische Gesundheitsministerium eine Langzeit-Outcome-Studie15 über den Einsatz stimulierender Medikamente bei der Behandlung von ADHS. [Eine „Outcome-Studie“ untersucht, ob bzw. in welchem Maße eine bestimmte Behandlung die angestrebten oder überhaupt angemessene Ergebnisse liefert. – Anm. d. Übers.]

Die zugrunde liegenden Daten betreffen 131 Patienten, die 20 Jahre lang von der Gesundheitsbehörde überwacht wurden. Diese Patienten wurden verglichen mit einer ähnlichen Gruppe mit der Diagnose ADHS, die nicht mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelt worden waren. Die Studie ergab, dass die Medikation mit Stimulanzien den Blutdruck erhöhte, keinerlei Ergebnisse hinsichtlich der Lernleistung sowie keine Besserung des Verhaltens zeigte. Diejenigen, die damit behandelt werden, zeigen mit zehnfacher Wahrscheinlichkeit eine unterdurchschnittliche schulische Leistung. Die körperlichen Auswirkungen der Medikation verfolgen das Kind bis ins Erwachsenenleben.

In einem Interview des australischen Rundfunks zeigte sich der Koautor, Professor Lou Landau, bezüglich dieser Ergebnisse betroffen, da sie vielen der veröffentlichten (von der Industrie finanzierten) Kurzzeitstudien widersprachen.

Die Autoren schlussfolgerten: Da eindeutige Langzeitverbesserungen der sozialen, emotionalen und schulischen Leistungen in Verbindung mit dem Einsatz stimulierender Medikation ausgeblieben seien, sei eine speziell auf diesen Zweck zugeschnittene Langzeit-Forschungsstudie angezeigt, damit die „mutmaßlichen“ langfristigen sozialen, emotionalen und erzieherischen Vorteile der Stimulanzienmedikation zur Behandlung von ADHS „besser verstanden“ würden.

Die Entwicklung in Schweden

Zwischen 2000 und 2011 nahm die Zahl der Kinder, denen zentral wirksame Stimulanzien verschrieben wurden, um mehr als das Zehnfache zu: von 2000 Kindern auf 25 000 im Jahre 2011. Dies ist insofern eine bemerkenswerte Entwicklung, als Ritalin im Jahre 1968 wegen seiner großen Beliebtheit und des infolgedessen weitverbreiteten Missbrauchs vom Markt genommen wurde. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden Kindern nur selten zentral wirksame Stimulanzien verschrieben. Sie durften nur mit einer Sondererlaubnis der nationalen Gesundheitsbehörde verschrieben werden. Ende der 1990er begann die Anzahl der Kinder, denen zentral wirksame Stimulanzien verschrieben wurden, erheblich zu steigen. Führende Kinderpsychiater schätzten die behandlungsbedürftigen Kinder mit ADHS auf etwa 10 000. Doch im Jahre 2010 wurden bereits 20 000 Kinder behandelt.

Im Jahre 2004 veröffentlichte die staatliche schwedische Gesundheitsbehörde eine Broschüre mit dem Titel „Kurzer Abriss über ADHS bei Kindern und Erwachsenen“.16 Die Behörde unterstrich die Vererbung als Ursache von ADHS und schrieb:

„Vererbung vollzieht sich über die Gene. Gene steuern die Transmittersubstanzen, die Informationen zwischen den Neuronen des Gehirns übertragen. Ein Mangel oder die ungenügende Wirkung dieser Substanzen in bestimmten Hirnarealen verursacht Veränderungen der psychischen / kognitiven Funktion, wodurch es zu Problemen mit der Verhaltenssteuerung des Kindes kommen kann. Das wiederum führt zu typischen ADHS-Symptomen wie Unruhe, Problemen mit der Aufmerksamkeit und Impulsivität.“

 

Diese Aufsehen erregende Aussage über die Ursache von ADHS entbehrte jeglicher wissenschaftlichen Grundlage und widersprach der bei der amerikanischen „Konsens-Konferenz“ (1998) vorgestellten Forschung und ihrem gemeinsamen Abschlusspapier.

Die Behörde empfahl den Einsatz zentral wirksamer Stimulanzien als Behandlung bei ADHS und betonte, wie gut diese Medikamente insbesondere in großen Studien mit Kindern dokumentiert seien, wie wirksam sie seien und wie geringfügig ihre Nebenwirkungen seien. Es gebe, so die Behörde, keine anderen psychoaktiven Medikamente, die so sorgfältig untersucht worden seien wie die zentral wirksamen Stimulanzien, und sie traf folgende Feststellung:

„Aufgrund des rasch anwachsenden Wissens über ADHS in Schweden und der Tatsache, dass wir nun an internationalen Erfahrungen mit der Medikation teilhaben, hat die Anzahl der mit zentral wirksamen Stimulanzien behandelten Kinder genauso wie in anderen Ländern schnell zugenommen.“

Die staatliche Gesundheitsbehörde rühmte die zentral wirksamen Stimulanzien für die Steigerung der Konzentration und die Senkung der Hyperaktivität; zudem schienen die Medikamente geistige Fähigkeiten wie das Lösen von Problemen zu verbessern. Bezüglich der Gefahr der Abhängigkeit und des künftigen Missbrauchs erklärte die Behörde, dass es kein solches Risiko gebe, und behauptete, die Behandlung mit zentral wirksamen Stimulanzien scheine das Risiko eines künftigen Missbrauchs vielmehr zu verringern.

Die Folgestudien mit ADHS-Kindern, so schrieb die Behörde allerdings auch, böten oft ein düsteres Bild mit geringem schulischem und beruflichem Erfolg und häufigen psychischen Problemen im Erwachsenenalter. ADHS müsse als öffentliches Problem behandelt werden, da es viele Menschen betreffe und sich gravierend auf ihre Gesundheit, Entwicklung und die Möglichkeiten für ein vollwertiges Leben als Erwachsene auswirke.

Neueste MTA-Studie widerlegt die Ansichten der Behörde

Die jüngste MTA-Studie ergab, dass die Stimulanzien nach dreijähriger Einnahme keinerlei positiven Wirkungen haben. Sie sind schlichtweg nicht besser, als wenn überhaupt keine Behandlung erfolgt. Sie als wirksame Medikamente gegen ADHS zu bezeichnen muss ein Irrtum gewesen sein.

Im Gegensatz zur staatlichen schwedischen Gesundheitsbehörde ist die MTA-Studie weit davon entfernt, das Risiko künftigen Drogenmissbrauchs herunterzuspielen; sie hat gezeigt, dass die Einnahme der Stimulanzien zu einem aggressiveren und antisozialen Verhalten führt und ein erhöhtes Risiko für künftigen Drogenmissbrauch und Kriminalität in sich birgt.

Aufgrund dieser Erkenntnisse bestätigte die jüngste MTA-Studie auch, dass es nicht die Diagnose ADHS sei, sondern die Medikation mit zentral wirksamen Stimulanzien, die sich gravierend auf die Gesundheit der Kinder, ihre Entwicklung und die Möglichkeiten für ein vollwertiges Leben als Erwachsene auswirke.

Da die schwedische Behörde nun wissen sollte, dass die Stimulanzien nach dreijähriger Anwendung überhaupt nicht mehr wirksam sind, würde man die Veröffentlichung einer Korrektur ihrer früheren Aussage erwarten. Man würde auch erwarten, dass sie dem Rat eines der leitenden Forscher der MTA-Studie folgte und den Eltern ganz eindeutig klar machte, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass auf lange Sicht Medikamente besser seien als gar keine Behandlung.

In dieser Richtung ist jedoch nichts geschehen. In den 4 Jahren, die die Behörde über die Wirkungen Bescheid weiß, hat sie sich noch nicht zu der Studie geäußert. Es scheint auch wenig wahrscheinlich, dass sie sich überhaupt dazu äußern wird. Worin könnten die Gründe dafür liegen?

Gründe für das Vertuschen der jüngsten MTA-Studie

Schwedische Psychiater und Kinderpsychiater haben Politiker äußerst erfolgreich davon überzeugen können, Mittel Verfügung zu stellen, damit sie bei Kindern und Erwachsenen ADHS diagnostizieren und sie mit zentral wirksamen Stimulanzien behandeln können. Zudem wurden Psychologen und Sozialarbeiter eingestellt und speziell dafür geschult, die Ärzte bei der Diagnosestellung von Personen zu unterstützen, die angeblich mit Stimulanzien behandelt werden müssen. Zu Beginn gab es in einigen Teilen Schwedens Widerstand dagegen, Kinder unter Stimulanzien zu setzen, doch dank der vereinten Kräfte der Medien und der staatlichen Gesundheitsbehörde schwamm die Pharmaindustrie bald auf einer Erfolgswelle, die einen Schneeballeffekt hervorrief: Je mehr Kinder diagnostiziert und behandelt wurden, desto mehr Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter wurden gebraucht, die wiederum dafür sorgten, dass noch mehr Kinder diagnostiziert wurden usw. Mittlerweile ist ein Heer von Fachleuten für die laufend zunehmende Diagnostizierung und Behandlung von ADHS zuständig.

Die staatliche Gesundheitsbehörde und ihre psychiatrischen Fachleute wollen ihre Glaubwürdigkeit natürlich nicht dadurch einbüßen, dass ihre Inkompetenz öffentlich gemacht wird. Ärzte und Beschäftigte im Gesundheitswesen wollen ebenfalls ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensunterhalt schützen. Politiker wollen sich nicht als diejenigen bloßstellen lassen, die lediglich aufgrund von Informationen – ohne ordnungsgemäße Studien – das Geld der Steuerzahler für einen Schwindel aus dem Fenster werfen.

So werden die schwedischen Steuerzahler weiter zahlen müssen. Und schwedische Kinder werden ohne Einschränkungen und ohne positive Wirkungen auf lange Sicht weiterhin unter Medikamente gesetzt werden. Doch diese Medikamente werden zweifellos eine Menge Schaden anrichten, der im Einzelfall umso größer sein wird, je länger die Medikation fortgesetzt werden darf.

KAPITEL 2
Eine alternative Sichtweise und Behandlung von ADHS

Durch sorgfältige Beobachtung unserer Kleinsten ist es möglich, die Aufmerksamkeitsstörung und ihre Behebung von einer anderen Seite zu betrachten: Es ist normal, dass Kinder im Alter von etwa 1 Jahr ein ähnliches Verhalten wie ADHS-Kinder zeigen, wenn sie sich frei bewegen dürfen und nicht lange Zeit am Stück in Babystühlen oder Auto-Kindersitzen sitzen müssen!

Sie sind in Bewegung, klammern sich fest und klettern und haben Probleme damit, still zu sitzen. Sie sind impulsiv, leicht abzulenken und verlieren schnell das Interesse an dem, was sie tun. Sie können schlecht zuhören und haben Schwierigkeiten damit, Anweisungen zu befolgen und ihre Aktivitäten zu organisieren. Sie können ihre Emotionen und ihr Temperament schlecht steuern.

„Aufmerksamkeitsprobleme“ und Überaktivität bei normalen Babys

Anders als ältere Kinder mit einer ADHS-Diagnose können normale Kinder ihre Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität mit zunehmendem Alter ganz allein bewältigen und überwinden. Wie kommt es, dass Kinder, deren Verhalten sich normal entwickelt, sich von Kindern mit ADHS unterscheiden, und welches „geheime“, den Experten unbekannte Wissen ermöglicht es ihnen, ihre Aufmerksamkeitsprobleme zu überwinden?

Sollte es etwa stimmen, dass Kinder mit ADHS unter einem genetisch bedingten Mangel an Transmittern im Gehirn leiden, oder könnte es noch andere, einleuchtendere und weniger weit hergeholte Erklärungen geben?

Das plastische Gehirn

Der englische Geburtshelfer und Forscher Robert Winston hat viele populärwissenschaftliche Bücher geschrieben und Fernsehserien gemacht. In seinem Buch The Human Mind [zu Deutsch etwa: Der menschliche Verstand] beschreibt er die Regenerationsfähigkeit des Gehirns und bezeichnet es als plastisches Gehirn.

Bereits in den 1940er-Jahren haben Hirnforscher herausgefunden, dass die Kommunikation zwischen Neuronen in beide Richtungen verläuft: Wenn eine Hirnnervenzelle (ein Neuron) ein Signal von einem anderen Neuron erhält, gibt es das Signal an andere Neuronen weiter und meldet gleichzeitig ein Signal an die ursprünglich aussendende Zelle zurück.

Ist dieser erste Prozess vorüber, beginnt ein anderer. Die betroffenen Neuronen vervielfältigen ihrerseits die Verbindungen miteinander, indem sie neue Nervensynapsen bilden und ihr Angebot an Transmitterstoffen erhöhen, wobei das Feuern von Nervensignalen im neuen Muster erleichtert wird:

„Dieser Feedback- und Lernmechanismus des Gehirns bedeutet, dass jede Nervenverbindung des Gehirns darüber informiert wird, in welchem Ausmaß sie zum Endergebnis der Kommunikation beigetragen hat, … um das nächste Mal neue Nervenverbindungen zu schaffen und mehr Transmitterstoffe freizusetzen.“17

Das Gehirn eines Babys ist noch nicht entwickelt

Das Gehirn von Babys ist noch sehr unreif. Beim Neugeborenen funktioniert nur der Hirnstamm ordnungsgemäß, während die anderen Teile nur in geringem Maße genutzt werden. Bevor ein Mensch sein ganzes Gehirn nutzen kann, müssen sich Axone zwischen den Gehirnnervenzellen entwickeln und die Nervenfasern eine isolierende Myelinscheide bilden, sodass ein Netz entsteht. Die Gehirnreifung findet während der gesamten Kindheit statt; der wichtigste Zeitraum, in dem der Grund für die spätere Entwicklung gelegt wird, ist jedoch das allererste Lebensjahr. Schätzungen zufolge bilden sich im Gehirn eines Neugeborenen in jeder Lebensminute mehr als 4 Millionen Axone.


Nervenzelle mit Axon und Myelinscheide

Dieser Prozess geschieht nicht von selbst. Damit die Verzweigung und Myelinisierung stattfinden kann, muss das Gehirn von den Sinnen stimuliert werden, insbesondere von Gleichgewichtssinn, Tastsinn und Tiefensensibilität. [Tiefensensibilität = Wahrnehmung bestimmter Reize aus dem Körperinneren; auch als Eigenwahrnehmung des Körpers bezeichnet; sie umfasst im Einzelnen Lagesinn, Kraftsinn und Bewegungssinn. – Anm. d. Übers.] Das Baby erhält diese Stimulation durch die Berührung und das Wiegen der Eltern sowie durch ständige alterstypische rhythmische Eigenbewegungen. Diese entwickeln sich in bestimmter Reihenfolge nach einem angeborenen Programm mit individuellen Variationen. Umdrehen, Robben, Schaukeln und Krabbeln auf allen Vieren sind wichtige Abschnitte dieser Entwicklung. Die Stimulation, die das Gehirn des Babys im ersten Lebensjahr durch solche rhythmischen Bewegungen erfährt, ist für die spätere Entwicklung und Reifung des Gehirns von fundamentaler Bedeutung.

Mit der zahlenmäßigen Zunahme der Nervenverbindungen und Synapsen des Gehirns nehmen weitere Gehirnteile ihre Funktionen auf, in neuen Nervenmustern, die durch die Bewegungen des Kindes stimuliert werden. Wie oben beschrieben, setzt sich dieser Prozess automatisch fort, selbst wenn die Nervenzellen nicht direkt stimuliert werden. Gleichzeitig werden alten Verhaltensmustern entsprechende Nervenverbindungen, die das Kind nicht mehr braucht, reduziert.

Bei Kindern, die auf diese Weise nicht genügend stimuliert wurden, ist die Gehirnreifung verzögert oder beeinträchtigt. Eine so verzögerte Entwicklung kann sich in Gestalt der Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität zeigen.