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Unterdessen hatte auch der kleine Michael gewisse Talente an den Tag gelegt. Katherine berichtet, wie er mit eineinhalb Jahren mit der Milchflasche in der Hand zum Groove der laufenden Waschmaschine getanzt habe. Schon mit drei Jahren soll er herzzerreißend schön gesungen haben. Mit fünf Jahren erlaubte ihm der Vater, bei der Familiengruppe mitzusingen und – wie der nun ebenfalls in den Kreis aufgenommene Marlon – Bongos zu spielen. Im Herbst 1963 trat Michael in die Kindergartenabteilung der Garnett Elementary School ein. Bald darauf organisierten die Lehrer eine Show, bei der jeder Schüler sein eigenes Stück aufführen sollte. Michael gab die Rodgers-und-Hammerstein „Climb Ev’ry Mountain“ aus dem Musical „The Sound of Music“ zum Besten. „Der Applaus war gewaltig“, schreibt er, „überall sah ich lächelnde Gesichter, viele Leute standen sogar auf, und die Lehrer weinten. Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte sie alle glücklich gemacht! Es war ein großartiges Gefühl.“ Ein wenig verwirrt sei er ebenfalls gewesen: „Ich hatte nicht das Gefühl, ich hätte etwas Besonderes geleistet. Ich hatte ja nur gesungen, wie ich das daheim jeden Abend tat. Auf der Bühne erfasst man nicht, wie man klingt oder wie der Auftritt rüberkommt. Man tut bloß den Mund auf und singt.“ Wenig später setzte der zwölfjährige Jackie durch, dass Michael statt Jermaine Lead-Sänger bei den Jackson Brothers wurde.

Es ist eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Popgeschichte, dass es sich bei zwei Gruppen, welche auf quasi archetypische Weise die Hoffnungen und Möglichkeiten des „American Dream“ verkörpern, um Familientruppen handelte, die von brutalen Vätern regelrecht zum Erfolg geprügelt wurden. Denn so, wie Joseph Jackson in Gary, Indiana, Anfang der 60er Jahre mit dem Gürtel auf seine Söhne eindrosch, wenn diese den rechten Ton nicht erwischten, kannte Murry Wilson in Hawthorne, Kalifornien, in den 50ern keine Gnade, wenn seine Söhne, die späteren Beach Boys, nicht spurten. Beide Väter meinten, nur das Beste zu wollen für ihre Söhne, und konnten später auf eine stolze Hitparadenbilanz verweisen, wenn jemand ihre Verdienste anzweifelte.

Beide Väter fügten aber den begabtesten Talenten in ihrer Familie bleibenden Schaden zu. Im Falle von Brian Wilson waren es nicht nur psychische Schäden, sondern auch physische: Mit sechs Jahren wurde er von Murry dermaßen verprügelt, dass er auf seinem rechten Ohr praktisch taub wurde und so nie die Stereoeffekte seiner Produktionen genießen konnte. Vater Jackson fügte keinem seiner Söhne einen bleibenden körperlichen Schaden zu, aber das war eher Glücksache. Marlon Jackson erinnert sich an eine besonders traumatische Episode, in der Joseph den dreijährigen Michael am Fußgelenk in der Luft zappeln ließ, um mit der freien Hand endlos auf ihn einzuschlagen. Als der Vater Michael endlich gehen ließ, habe dieser geschrieen „I hate you!“ – worauf er gleich noch mal drangekommen sei, noch härter und noch länger. Ein anderes Mal sperrte Joseph den aufmüpfigen Michael stundenlang in einen Schrank. Am häufigsten sei Marlon drangekommen, erklärte ein von der Erinnerung immer noch über den Rand der Selbstbeherrschung hinausgetriebener Michael in „Living With Michael Jackson“, dem Dokumentarfilm von Martin Bashir: „Mir ging es nicht so schlecht“, sagte Michael dort, „denn ich wurde von Joseph als Exempel hingestellt.“ Ihm sei es leichter gefallen als den anderen, die Töne zu erwischen und die Tanzschritte auszuführen. „Aber Marlon, der Arme, der kam am häufigsten dran. Er gab sich ja solche Mühe, wahnsinnige Mühe. Und immer wieder sagte Joseph: „Mach’s wie Michael!“ Und wenn er es nicht schaffte, kam der Gürtel. Es war hart. So hart!“

Genau wie Murry Wilson warf auch Joseph Jackson seine Söhne im Zorn einfach gegen die Wand. Und ebenfalls wie Wilson gefiel er sich darin, den Kindern einen Schreck einzujagen: Während Wilson beim Essen unerwartet sein Glasauge aus der Höhle entfernte, um eine grausige Fratze in die Runde zu werfen, zog sich Joseph eine Monstermaske über den Kopf, kletterte mitten in der Nacht ins Zimmer der Kinder und brüllte ihnen so laut es ging ins Ohr: eine Lektion, das Fenster nicht offen zu lassen, nannte er das. Seit den frühen 80er Jahren kam Michael Jackson bei jedem seiner raren Interviews früher oder später auf die Brutalität des Vaters zu sprechen. Im Jahr 2002 stellte der britische Journalist Louis Theroux auch Joseph Jackson (der ihm für das kurze Gespräch $ 5000 abgeknöpft hatte) einige Fragen zu dem Thema. „Was denken Sie, wenn Michael sagt, er habe dermaßen Angst gehabt vor Ihnen, dass er sich manchmal erbrechen musste, wenn er Sie kommen hörte?“, fragte Theroux. „Soll er doch – auf dem ganzen Weg zur Bank!“, kam die Antwort. „Michael sagt, Sie hätten ihn mit Ruten und Gürteln geschlagen …“, fuhr Theroux weiter. Jackson brauste auf: „Geschlagen habe ich ihn nie mit Rute und Gürtel! Gepeitscht habe ich ihn damit! Schlagen tut man jemanden mit einem Stock, nicht doch mit Rute und Gürtel!“ (zu sehen im Dokumentarfilm „Louis, Martin & Michael“). Joseph Jackson und Murry Wilson teilen noch eine weitere Eigenschaft: Beide waren sie einst Musiker gewesen, deren Hoffnungen auf Karriere und Ruhm sich zerschlagen hatten (Jackson hatte dazu schon als Boxer eine ähnliche Enttäuschung einstecken müssen). Wie ein Mantra zitierte Joseph Jackson in den frühen Jahren der Jacksons das Motto: „Entweder bist du im Leben ein Gewinner, oder du bist ein Verlierer.“ Während es zum Beispiel in Großbritannien möglich ist, vor sich selber einen Mangel an Erfolg dadurch zu kaschieren, dass man gegen die Schranken der rigiden Klassengesellschaft angelaufen zu sein vorgibt, suggeriert der vielzitierte „amerikanische Traum“ die Möglichkeit, dass es absolut jeder Mensch in Amerika zum Millionär bringen könne, wenn er nur genug arbeite (oder bete, oder halt schlau sei). Es dürfte für den erfolglosen, aber ehrgeizigen Joseph Jackson nicht einfach gewesen sein, mit der brachialen Eindeutigkeit seiner eigenen Maxime – „Verlierer oder Gewinner“ – zu leben. Indem er seine Kinder zum Erfolg drosch, nahm er wohl seine letzte Chance wahr, sich selber vom Verlierer zum Gewinner zu wandeln. Übrigens vermochte Murry Wilson seine Ambitionen schließlich doch noch zu erfüllen – wenigstens ein bisschen.

Indem er den Erfolg seiner Boys als Druckmittel einsetzte, überzeugte er deren Plattenfirma Capitol von der Notwendigkeit, ein Album auch von ihm zu veröffentlichen. „The Many Moods of Murry Wilson“ ist ein unfreiwilliges Glanzlicht der Sparte „Cheesy Listening“ und enthält „The Plumber’s Tune“, gesungen vom Klempner, der zufällig in Wilsons Haus an der Arbeit gewesen war. „Das Album zeigt, dass das Talent in der Familie Wilson nicht nur bei den Boys liegt“, sagte Murry. The Jacksons und die Beach Boys entstanden in derZeit des Übergangs von den konservativen 50er Jahren zum Aufbruchklima der Sixties. Es ist, als würde sich mit der ans pathologische grenzenden Disziplinwut von Joseph Jackson und Murry Wilson (die ein Echo findet in der Arbeitsweise konventionellerer Bandleader derselben Generation wie Ike Turner und James Brown) eine todgeweihte Weltordnung ein letztes, Mal auf.

Joseph Jackson unternahm mit seinen Söhnen zwar dann und wann einen Ausflug an die Seen zum Fischen, oder er versuchte ihnen das Boxen beizubringen. Aber er bestand auf einer Kälte und Distanz, die auch nur den Hauch von Herzlichkeit praktisch unmöglich machte (die Töchter im Haus sollen von seinem Radar schon gar nicht mehr erfasst worden sein). So habe es das Wort „Daddy“ im Haus der Jacksons nicht gegeben, sagte Michael im Interview mit Martin Bashir: „Für dich bin ich Joe“, habe es geheißen. „Darum will ich es mit meinen eigenen Kindern anders machen. Meine Kinder sollen einen ‚Daddy‘ haben.“ Er habe seinen Vater nie richtig zu verstehen gelernt, schreibt Michael in den Memoiren: „Es gehört zu den wenigen Dingen, die ich sehr bedaure in meinem Leben. Nämlich, dass es mir nie gelungen ist, eine engere Beziehung aufzubauen mit ihm. Über die Jahre hinweg hüllte er sich in eine undurchdringliche Schale. Von dem Moment an, in dem wir aufhörten, über das Familiengeschäft zu reden, fand er es schwierig, einen Bezug zu uns herzustellen. Wenn wir alle beisammen waren, hat er einfach den Raum verlassen.“

Nie wird Michael Jackson müde, die Vorzüge seiner Mutter Katherine zu preisen. „Es ist eine alte Story“, heißt es in „Moonwalk“: „Jedes Kind glaubt, seine Mutter sei die beste Mutter auf der ganzen Welt. Wir Jacksons haben dieses Gefühl nie verloren. Wenn ich an die Güte, Wärme und Aufmerksamkeit von Katherine denke, kann ich mir nicht vorstellen, was es heißt, ohne die Liebe einer Mutter aufwachsen zu müssen.“ Katherine scheint die Gewalttätigkeit ihres Ehemannes mit erstaunlichem Gleichmut hingenommen zu haben – zumal Joseph sie selber mehr oder weniger in Frieden ließ nach einer frühen Episode, in der sie angedroht hatte, ihn zu verlassen. Auch scheint der Mann eine Art Dr. Jekyll/Mr. Hyde-Figur gewesen zu sein, die insbesondere im Umgang mit Frauen, die ihm gefielen – und dazu gehörte durch dick und dünn auch Katherine – mächtig den Charme aufdrehen konnte.

Katherine verfügte über starke religiöse Überzeugungen und wollte schon deswegen keine Trennung oder gar eine Veränderung in den viktorianischen Machtverhältnissen in ihrem Haushalt. So ist es bezeichnend, dass sie sich 1963 während einer Zeremonie in der Roosevelt High School zur Zeugin Jehovas taufen ließ. Die Sekte versteht sich als Gottes Organisation auf Erden und glaubt, der Mann sei durch göttliche Anordnung zum Oberhaupt der Familie bestimmt und als solches für alle Beschlüsse zuständig. Zuvor hatte Katherine den Baptisten, dann der lutheranischen Kirche angehört – aus beiden war sie ausgetreten, weil sie herausgefunden hatte, dass ihre Pfarrer außereheliche Affären hatten. Rebbie, LaToya und vor allem Michael waren die einzigen Sprösslinge, die in der Folge gern mit der Mutter am Sonntag die Gottesdienste in der örtlichen „Kingdom Hall“ besuchten – Joe und den anderen waren die Predigten zu langweilig. Die Zeugen Jehovas sind überzeugt, alle Aspekte ihres Glaubens aus Bibelzitaten herleiten zu können. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist ebenso strikt verboten wie Masturbation, Homosexualität, Alkohol, Tabak und andere Drogen. Verboten ist auch Götzenverehrung – es bedeutet, dass Jehovas Zeugen keine Flagge grüßen. Im neunzehnten Jahrhundert vermochte die Sekte einigen Einfluss auf gewisse Formulierungen in der amerikanischen Verfassung auszuüben, nicht zuletzt im Zusammenhang von Militärdienst und Gewissensfragen; Zeugen Jehovas sind seither von der Militärpflicht befreit. Konsequente Zeugen Jehovas verweigern jegliche Form von Bluttransfusion. In den Augen der Zeugen Jehovas wird die Welt derzeit von Satan regiert, der schon Adam und Eva mit seiner Schlauheit auf Abwege geführt hat. Bald aber werde die Erde durch einen von Gott geführten Weltkrieg und der alles entscheidenden Schlacht von Armageddon von ihrem Joch befreit. Exakt 144 000 Auserwählte – ausschließlich Zeugen Jehovas – würden danach im Himmel an der Seite Gottes Gutes leisten. Eine zweite Klasse von Glaubenden werde auf Erden paradiesische Zustände ohne Krankheiten, Gebrechen und anderes Elend erleben. Die Vorstellung eines solchen spirituellen Schlaraffenlandes ist nicht so weit entfernt von der Geschichte von Peter Pan, dem Knaben, der sich weigert, aufzuwachsen, und in seinem Neverland auf ewige Zeiten kindlichen Abenteuern nachhängt. Sie wird auf den fünfjährigen Michael Jackson mächtig Eindruck gemacht haben, so, wie sich jedes Kind in dem Alter von „großen“ Storys packen lässt.

 

Im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern, die doch schon auf einige Erfahrung im Umgang mit anderen Kindern und Lebenshaltungen zurückblicken konnten, war seine Welt zu dem Zeitpunkt fast ausschließlich auf die vier Wände des Bungalows an der 2300 Jackson Street beschränkt gewesen. Es erfordert keinen großen Gedankensprung, sich vorzustellen, wie intensiv Klein Michael, für den die Mutter alles bedeutete, dem Weltbild der Zeugen Jehovas Glauben schenken wollte. Wie verquer Michaels Verhältnis zu seiner Umwelt zu diesem Zeitpunkt war, zeigt eine Anekdote aus seinen Memoiren. Am Ende des Schuljahres, so erzählt er, hätten die Lehrerinnen geweint, wenn sie von ihm Abschied nehmen mussten. Die Zuneigung dieser Lehrerinnen war ihm derart wichtig, dass er ihnen zum Geschenk Schmuckstücke brachte, die er aus der Schatulle von Katherine stibitzt hatte: „Dass ich diesen Drang verspürte, ihnen etwas zurückzugeben für all das, was ich von ihnen erhalten hatte, zeigt wie sehr ich sie und die Schule liebte.“


Es ist eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Popgeschichte, dass es sich bei zwei Gruppen, welche auf quasi archetypische Weise die Hoffnungen und Möglichkeiten des „American Dream“ verkörpern, um Familientruppen handelte, die von brutalen Vätern regelrecht zum Erfolg geprügelt wurden. Denn so, wie Joseph Jackson in Gary, Indiana, Anfang der 60er Jahre mit dem Gürtel auf seine Söhne eindrosch, wenn diese den rechten Ton nicht erwischten, kannte Murry Wilson in Hawthorne, Kalifornien, in den 50ern keine Gnade, wenn seine Söhne, die späteren Beach Boys, nicht spurten. Beide Väter meinten, nur das Beste zu wollen für ihre Söhne, und konnten später auf eine stolze Hitparadenbilanz verweisen, wenn jemand ihre Verdienste anzweifelte.

Beide Väter fügten aber den begabtesten Talenten in ihrer Familie bleibenden Schaden zu. Im Falle von Brian Wilson waren es nicht nur psychische Schäden, sondern auch physische: Mit sechs Jahren wurde er von Murry dermaßen verprügelt, dass er auf seinem rechten Ohr praktisch taub wurde und so nie die Stereoeffekte seiner Produktionen genießen konnte. Vater Jackson fügte keinem seiner Söhne einen bleibenden körperlichen Schaden zu, aber das war eher Glücksache. Marlon Jackson erinnert sich an eine besonders traumatische Episode, in der Joseph den dreijährigen Michael am Fußgelenk in der Luft zappeln ließ, um mit der freien Hand endlos auf ihn einzuschlagen. Als der Vater Michael endlich gehen ließ, habe dieser geschrieen „I hate you!“ – worauf er gleich noch mal drangekommen sei, noch härter und noch länger. Ein anderes Mal sperrte Joseph den aufmüpfigen Michael stundenlang in einen Schrank. Am häufigsten sei Marlon drangekommen, erklärte ein von der Erinnerung immer noch über den Rand der Selbstbeherrschung hinausgetriebener Michael in „Living With Michael Jackson“, dem Dokumentarfilm von Martin Bashir: „Mir ging es nicht so schlecht“, sagte Michael dort, „denn ich wurde von Joseph als Exempel hingestellt.“ Ihm sei es leichter gefallen als den anderen, die Töne zu erwischen und die Tanzschritte auszuführen. „Aber Marlon, der Arme, der kam am häufigsten dran. Er gab sich ja solche Mühe, wahnsinnige Mühe. Und immer wieder sagte Joseph: „Mach’s wie Michael!“ Und wenn er es nicht schaffte, kam der Gürtel. Es war hart. So hart!“

Genau wie Murry Wilson warf auch Joseph Jackson seine Söhne im Zorn einfach gegen die Wand. Und ebenfalls wie Wilson gefiel er sich darin, den Kindern einen Schreck einzujagen: Während Wilson beim Essen unerwartet sein Glasauge aus der Höhle entfernte, um eine grausige Fratze in die Runde zu werfen, zog sich Joseph eine Monstermaske über den Kopf, kletterte mitten in der Nacht ins Zimmer der Kinder und brüllte ihnen so laut es ging ins Ohr: eine Lektion, das Fenster nicht offen zu lassen, nannte er das. Seit den frühen 80er Jahren kam Michael Jackson bei jedem seiner raren Interviews früher oder später auf die Brutalität des Vaters zu sprechen. Im Jahr 2002 stellte der britische Journalist Louis Theroux auch Joseph Jackson (der ihm für das kurze Gespräch $ 5000 abgeknöpft hatte) einige Fragen zu dem Thema. „Was denken Sie, wenn Michael sagt, er habe dermaßen Angst gehabt vor Ihnen, dass er sich manchmal erbrechen musste, wenn er Sie kommen hörte?“, fragte Theroux. „Soll er doch – auf dem ganzen Weg zur Bank!“, kam die Antwort. „Michael sagt, Sie hätten ihn mit Ruten und Gürteln geschlagen …“, fuhr Theroux weiter. Jackson brauste auf: „Geschlagen habe ich ihn nie mit Rute und Gürtel! Gepeitscht habe ich ihn damit! Schlagen tut man jemanden mit einem Stock, nicht doch mit Rute und Gürtel!“ (zu sehen im Dokumentarfilm „Louis, Martin & Michael“). Joseph Jackson und Murry Wilson teilen noch eine weitere Eigenschaft: Beide waren sie einst Musiker gewesen, deren Hoffnungen auf Karriere und Ruhm sich zerschlagen hatten (Jackson hatte dazu schon als Boxer eine ähnliche Enttäuschung einstecken müssen). Wie ein Mantra zitierte Joseph Jackson in den frühen Jahren der Jacksons das Motto: „Entweder bist du im Leben ein Gewinner, oder du bist ein Verlierer.“ Während es zum Beispiel in Großbritannien möglich ist, vor sich selber einen Mangel an Erfolg dadurch zu kaschieren, dass man gegen die Schranken der rigiden Klassengesellschaft angelaufen zu sein vorgibt, suggeriert der vielzitierte „amerikanische Traum“ die Möglichkeit, dass es absolut jeder Mensch in Amerika zum Millionär bringen könne, wenn er nur genug arbeite (oder bete, oder halt schlau sei). Es dürfte für den erfolglosen, aber ehrgeizigen Joseph Jackson nicht einfach gewesen sein, mit der brachialen Eindeutigkeit seiner eigenen Maxime – „Verlierer oder Gewinner“ – zu leben. Indem er seine Kinder zum Erfolg drosch, nahm er wohl seine letzte Chance wahr, sich selber vom Verlierer zum Gewinner zu wandeln. Übrigens vermochte Murry Wilson seine Ambitionen schließlich doch noch zu erfüllen – wenigstens ein bisschen.

Indem er den Erfolg seiner Boys als Druckmittel einsetzte, überzeugte er deren Plattenfirma Capitol von der Notwendigkeit, ein Album auch von ihm zu veröffentlichen. „The Many Moods of Murry Wilson“ ist ein unfreiwilliges Glanzlicht der Sparte „Cheesy Listening“ und enthält „The Plumber’s Tune“, gesungen vom Klempner, der zufällig in Wilsons Haus an der Arbeit gewesen war. „Das Album zeigt, dass das Talent in der Familie Wilson nicht nur bei den Boys liegt“, sagte Murry. The Jacksons und die Beach Boys entstanden in derZeit des Übergangs von den konservativen 50er Jahren zum Aufbruchklima der Sixties. Es ist, als würde sich mit der ans pathologische grenzenden Disziplinwut von Joseph Jackson und Murry Wilson (die ein Echo findet in der Arbeitsweise konventionellerer Bandleader derselben Generation wie Ike Turner und James Brown) eine todgeweihte Weltordnung ein letztes, Mal auf.

Joseph Jackson unternahm mit seinen Söhnen zwar dann und wann einen Ausflug an die Seen zum Fischen, oder er versuchte ihnen das Boxen beizubringen. Aber er bestand auf einer Kälte und Distanz, die auch nur den Hauch von Herzlichkeit praktisch unmöglich machte (die Töchter im Haus sollen von seinem Radar schon gar nicht mehr erfasst worden sein). So habe es das Wort „Daddy“ im Haus der Jacksons nicht gegeben, sagte Michael im Interview mit Martin Bashir: „Für dich bin ich Joe“, habe es geheißen. „Darum will ich es mit meinen eigenen Kindern anders machen. Meine Kinder sollen einen ‚Daddy‘ haben.“ Er habe seinen Vater nie richtig zu verstehen gelernt, schreibt Michael in den Memoiren: „Es gehört zu den wenigen Dingen, die ich sehr bedaure in meinem Leben. Nämlich, dass es mir nie gelungen ist, eine engere Beziehung aufzubauen mit ihm. Über die Jahre hinweg hüllte er sich in eine undurchdringliche Schale. Von dem Moment an, in dem wir aufhörten, über das Familiengeschäft zu reden, fand er es schwierig, einen Bezug zu uns herzustellen. Wenn wir alle beisammen waren, hat er einfach den Raum verlassen.“

Nie wird Michael Jackson müde, die Vorzüge seiner Mutter Katherine zu preisen. „Es ist eine alte Story“, heißt es in „Moonwalk“: „Jedes Kind glaubt, seine Mutter sei die beste Mutter auf der ganzen Welt. Wir Jacksons haben dieses Gefühl nie verloren. Wenn ich an die Güte, Wärme und Aufmerksamkeit von Katherine denke, kann ich mir nicht vorstellen, was es heißt, ohne die Liebe einer Mutter aufwachsen zu müssen.“ Katherine scheint die Gewalttätigkeit ihres Ehemannes mit erstaunlichem Gleichmut hingenommen zu haben – zumal Joseph sie selber mehr oder weniger in Frieden ließ nach einer frühen Episode, in der sie angedroht hatte, ihn zu verlassen. Auch scheint der Mann eine Art Dr. Jekyll/Mr. Hyde-Figur gewesen zu sein, die insbesondere im Umgang mit Frauen, die ihm gefielen – und dazu gehörte durch dick und dünn auch Katherine – mächtig den Charme aufdrehen konnte.

Katherine verfügte über starke religiöse Überzeugungen und wollte schon deswegen keine Trennung oder gar eine Veränderung in den viktorianischen Machtverhältnissen in ihrem Haushalt. So ist es bezeichnend, dass sie sich 1963 während einer Zeremonie in der Roosevelt High School zur Zeugin Jehovas taufen ließ. Die Sekte versteht sich als Gottes Organisation auf Erden und glaubt, der Mann sei durch göttliche Anordnung zum Oberhaupt der Familie bestimmt und als solches für alle Beschlüsse zuständig. Zuvor hatte Katherine den Baptisten, dann der lutheranischen Kirche angehört – aus beiden war sie ausgetreten, weil sie herausgefunden hatte, dass ihre Pfarrer außereheliche Affären hatten. Rebbie, LaToya und vor allem Michael waren die einzigen Sprösslinge, die in der Folge gern mit der Mutter am Sonntag die Gottesdienste in der örtlichen „Kingdom Hall“ besuchten – Joe und den anderen waren die Predigten zu langweilig. Die Zeugen Jehovas sind überzeugt, alle Aspekte ihres Glaubens aus Bibelzitaten herleiten zu können. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist ebenso strikt verboten wie Masturbation, Homosexualität, Alkohol, Tabak und andere Drogen. Verboten ist auch Götzenverehrung – es bedeutet, dass Jehovas Zeugen keine Flagge grüßen. Im neunzehnten Jahrhundert vermochte die Sekte einigen Einfluss auf gewisse Formulierungen in der amerikanischen Verfassung auszuüben, nicht zuletzt im Zusammenhang von Militärdienst und Gewissensfragen; Zeugen Jehovas sind seither von der Militärpflicht befreit. Konsequente Zeugen Jehovas verweigern jegliche Form von Bluttransfusion. In den Augen der Zeugen Jehovas wird die Welt derzeit von Satan regiert, der schon Adam und Eva mit seiner Schlauheit auf Abwege geführt hat. Bald aber werde die Erde durch einen von Gott geführten Weltkrieg und der alles entscheidenden Schlacht von Armageddon von ihrem Joch befreit. Exakt 144 000 Auserwählte – ausschließlich Zeugen Jehovas – würden danach im Himmel an der Seite Gottes Gutes leisten. Eine zweite Klasse von Glaubenden werde auf Erden paradiesische Zustände ohne Krankheiten, Gebrechen und anderes Elend erleben. Die Vorstellung eines solchen spirituellen Schlaraffenlandes ist nicht so weit entfernt von der Geschichte von Peter Pan, dem Knaben, der sich weigert, aufzuwachsen, und in seinem Neverland auf ewige Zeiten kindlichen Abenteuern nachhängt. Sie wird auf den fünfjährigen Michael Jackson mächtig Eindruck gemacht haben, so, wie sich jedes Kind in dem Alter von „großen“ Storys packen lässt.

 

Im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern, die doch schon auf einige Erfahrung im Umgang mit anderen Kindern und Lebenshaltungen zurückblicken konnten, war seine Welt zu dem Zeitpunkt fast ausschließlich auf die vier Wände des Bungalows an der 2300 Jackson Street beschränkt gewesen. Es erfordert keinen großen Gedankensprung, sich vorzustellen, wie intensiv Klein Michael, für den die Mutter alles bedeutete, dem Weltbild der Zeugen Jehovas Glauben schenken wollte. Wie verquer Michaels Verhältnis zu seiner Umwelt zu diesem Zeitpunkt war, zeigt eine Anekdote aus seinen Memoiren. Am Ende des Schuljahres, so erzählt er, hätten die Lehrerinnen geweint, wenn sie von ihm Abschied nehmen mussten. Die Zuneigung dieser Lehrerinnen war ihm derart wichtig, dass er ihnen zum Geschenk Schmuckstücke brachte, die er aus der Schatulle von Katherine stibitzt hatte: „Dass ich diesen Drang verspürte, ihnen etwas zurückzugeben für all das, was ich von ihnen erhalten hatte, zeigt wie sehr ich sie und die Schule liebte.“