Hypnose und Achtsamkeit in der Psychoonkologie

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5.6.2Die Kraft der Suggestion und ihr Einsatz in der Psychoonkologie

In der Hypnotherapie ist ein Prinzip zentral handlungsleitend: das Prinzip Kooperation. In der praktischen Umsetzung dieses Prinzips lässt sich alles, was der Patient, aber auch der Therapeut in die Therapie mitbringt, auf irgendeine Weise zieldienlich einsetzen und nutzen – utilisieren, wie man das in der Hypnotherapie nennt (Abschn. 6.2.2). Unser Modell bezieht sich bei der Unterstützung von Veränderungsprozessen insbesondere auf zwei Punkte:

•Zunächst sei der zieldienliche Einsatz von Suggestionen genannt, wie er in der Regel mit Hypnose verknüpft wird. Utilisiert wird dabei die Suggestibilität des Patienten als Fähigkeit und Bereitschaft, Suggestionen anzunehmen und umzusetzen. Viele störungsspezifische »Tools« stellen das Wirkprinzip der Suggestion in den Vordergrund, als ob man nur die richtige Suggestion finden müsse, um ein Symptom zum Verschwinden zu bringen.

•Wir betonen darüber hinaus die Möglichkeit, in bestimmten Bewusstseinszuständen mithilfe unbewusster Prozesse individuelle Ziele und Lösungen zu finden. Dabei wird die Kreativität des sogenannten Unbewussten und das in ihm gespeicherte »Wissen« utilisiert sowie seine Kooperation gewonnen.

Ein hypnosystemisches Vorgehen vereint beide genannten Aspekte. Suggestionen im Sinne von Vorschlägen und Einladungen unterstützen Patienten dabei, Zugang zu ihren kreativen Potenzialen zu finden und diese zu nutzen. Der folgende Abschnitt widmet sich der Kraft und Macht von Suggestionen – unabhängig davon, ob sie im klinischen Alltag oder im Kontext eines Hypnoserituals erfolgen.

Für die Onkologie und insbesondere die Psychoonkologie ist entscheidend, dass die Suggestibilität von Patienten unter bestimmten Umständen erhöht und manchmal sogar extrem hoch ist. Dies kann auf mehreren Wegen erklärt werden: Ein Krankenhausaufenthalt mit einer Operation oder die Vorbereitung auf einen Eingriff rufen oft allein schon aufgrund der emotionalen Belastung Zustände hervor, die Kriterien einer Tranceerfahrung erfüllen. Auch Aufklärungsgespräche oder Visiten können als tranceinduzierende Rituale verstanden werden: Die Aufmerksamkeit ist dabei maximal auf die Aussagen bestimmter Personen fokussiert und eingeengt. Die Worte werden ihnen gleichsam vom Mund abgelesen. Diese Situationen sind zudem emotional hochgradig aufgeladen, und den die Aussagen treffenden Personen werden Autorität und Fachkenntnis zugeschrieben. Selbst in Zuständen von Verwirrung finden oft einzelne Sätze von Ärzten Zugang zum Patienten und brennen sich tief in dessen Bewusstsein ein oder entfalten als Suggestionen unbewusst ihre Wirkung. Das ist insofern erschreckend bzw. klinisch und therapeutisch relevant, als auch negative Aussagen von Ärzten suggestiv wirken können. Es besteht die Gefahr, dass Patienten den Suggestionen – so wie sie bei ihnen angekommen sind bzw. verstanden wurden (!) – im Sinne eines Nocebos oder gar einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung folgen (Abschn. 5.6.3).

Ein uns wichtiges Anliegen besteht darin, allen in der Onkologie Tätigen die Macht ihrer Worte bewusst zu machen, damit sie sorgsam mit ihren Aussagen umgehen. Die hypnosystemische Therapie kann mit ihrem Wissen und ihrem Vorgehen dazu beitragen, diese Macht der Suggestion sowohl zum Wohle der Patienten zu nutzen als auch einen möglichen Schaden durch Noceboeffekte zu minimieren.

Im deutschen Sprachraum ist der Gebrauch des Wortes Suggestion mit der autoritären Anwendung von Hypnose verknüpft und weckt oft Vorstellungen von Macht, Unterordnung und Gehorsam und damit auch Ängste vor Kontrollverlust. Dies sind allesamt Assoziationen, die im Kontext moderner Psychotherapie problematisch und im Hinblick auf die professionelle Hypnotherapie im psychoonkologischen Kontext völlig fehl am Platz sind. Die erstaunliche Wirksamkeit von Suggestionen wurde in den Anfängen der Hypnose und wird vor allem von Laien auch heute noch besonderen Kräften des Hypnotiseurs zugeschrieben.

Im Gegensatz dazu geht die moderne Hypnotherapie davon aus, dass die Fähigkeit, »von außen« gegebene Suggestionen umzusetzen, im Individuum zu lokalisieren ist, und betont die Kooperation zwischen Behandler und Patient auf Augenhöhe. Wenn im Bereich der Medizin in der klinischen Hypnose auch heute noch mit autoritären Formen der Hypnose gearbeitet wird, so »utilisiert« dies vor allem eine mit dem alten Bild der Hypnose verknüpfte Erwartungshaltung.

Die moderne Hypnotherapie vertritt daher ein anderes Verständnis von Suggestion. Es entspricht mehr dem, was das Wort »suggestion« im angloamerikanischen Sprachraum bedeutet: eine zurückhaltende Art der Kommunikation, die man am ehesten mit Anregung, Vorschlag oder Einladung übersetzen kann.

In einem umfassenderen Sinn verstehen wir unter Suggestion jede Form der Fokussierung von Aufmerksamkeit als Einladung, auf einen bestimmten Aspekt einer Erfahrung oder auf Möglichkeiten zu achten.

Bezogen auf unser Modell werden Suggestionen dann auf eine gesundheitsfördernde Weise wirksam, wenn sie wünschenswerte Ziele in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und das Behaviorale Aktivierungssystem ansprechen und aktivieren. Insofern bildet die Formulierung von Annäherungszielen die Basis und den Ausgangspunkt für den positiven Einsatz der Kraft der Suggestion.

In der Literatur finden sich umfangreiche Hinweise und Anleitungen, Kommunikation auf eine Weise zu gestalten und Worte so zu wählen, dass sie ihre suggestive Kraft zum Wohle des Patienten entfalten können (Arnon 2016 u. a.). In der Medizin erfordert dieses Vorgehen ein radikales Umdenken, da die gewohnten Routineformulierungen Vermeidungsziele thematisieren und damit die Aufmerksamkeit genau auf die Probleme fokussieren, die man zu beseitigen sucht. Und die Energie folgt der Aufmerksamkeit.

5.6.3Placeboeffekte nutzen, Noceboeffekte minimieren

Das Placebo hat einen schlechten Ruf – zu Unrecht, wie wir im Folgenden zeigen wollen. In der Pharmaforschung ist es ein »Scheinmedikament«, das meist aus Milchzucker besteht und keinen aktiven Wirkstoff enthält. Äußerlich lässt es sich vom »Verum«, dem »wahren« Medikament mit dem Wirkstoff, nicht unterscheiden. In Doppelblindstudien dienen Placebos dazu, ihre Wirkung mit jener der zu prüfenden Medikamente zu vergleichen, um deren Überlegenheit zu beweisen. Denn nur dann werden Prüfmedikamente zugelassen. Das Studiendesign beruht auf der Annahme, dass es neben dem im Medikament enthaltenen Wirkstoff noch andere Faktoren gibt, die zu dessen Wirkung beitragen.

Einige dieser Faktoren werden als Kontextfaktoren zusammengefasst. Sie beinhalten das Klima und die Atmosphäre, in der das Medikament seine Wirkung entfalten soll, die Erwartungen des Patienten, Beziehungsfaktoren, aber auch Erwartungen des Arztes. Deshalb ist in Doppelblindstudien auch der Arzt »blind« dafür, ob er dem Patienten das Placebo oder das zu prüfende Medikament verabreicht. Die Psychotherapie hat die Bedeutung dieser »common factors« (Wampold Imel u. Flückiger 2018), der »unspezifischen oder allgemeinen Wirkfaktoren«, erkannt. So versuchen Hypnotherapie und eine resonanzbasierte Medizin genau diese Faktoren gezielt im Sinne der Patienten zu nutzen.

Nach der Logik der Pharmastudien wird der Placeboeffekt nach dem Ausschlussprinzip hingegen negativ definiert, nämlich als alle Wirkungen, die nicht auf den Wirkstoff zurückzuführen sind. Die Bezeichnung als »Effekt« eines Placebos ist insofern in sich widersprüchlich und eigentlich unsinnig, als es nicht das definitionsgemäß unwirksame »Scheinmedikament« sein kann, das wirkt. So wurde dafür plädiert, das Wort Placeboeffekt durch eine treffendere Bezeichnung zu ersetzen (Moerman a. Jonas 2002).

Positiv definiert sind Placeboeffekte therapeutische Wirkungen, »die aufgrund der Bedeutung zustande kommen, die eine Intervention für eine Person hat« (Walach u. Sadaghiani 2002, S. 333).

Diese Definition betont den Aspekt der Bedeutungsgebung durch den Patienten, aber ebenso durch die Behandler. In die gleiche Richtung weist die Forderung, den Placeboeffekt in »meaning response« umzubenennen – als Reaktion bzw. Antwort auf die Bedeutung, die der Patient dem Medikament oder einer spezifischen Intervention verleiht (Moerman a. Jonas 2002).

Neben der Bedeutungsgebung und den mit der Verschreibung und Einnahme eines Medikaments verbundenen Erwartungen tragen noch andere Faktoren zu dessen Wirkung bei. Verabreicht ein Arzt eine Substanz, impliziert das zumindest drei Dinge: Er versteht und weiß, woran der Patient leidet. Es gibt ein Mittel gegen das Leiden – und es wirkt nach der Einnahme. Allein schon diese in den Implikationen enthaltenen Suggestionen prägen das subjektive Krankheitskonzept (S. 117 ff.).

Auch klassische Konditionierung im Pawlowschen Sinn spielt eine Rolle. Erlebt ein Organismus wiederholt, dass die Gabe eines Medikaments zur Linderung eines Symptoms führt, reagiert er mit der Zeit allein auf den mit der Wirkung verknüpften Stimulus. In der Onkologie wird die Macht konditionierter Reaktionen bei der Gabe von Chemotherapien deutlich, wenn allein schon das Aufsuchen der Behandlungsräume oder ein Geruch, der mit einem bestimmten Gefühl im Bauch verknüpft ist, Übelkeit auslöst. Auch um solchen Konditionierungen vorzubeugen, ist es wichtig, schon von Beginn an Nebenwirkungen möglichst zu minimieren.

 

Wenn die Gabe einer Arznei oder die Anwendung einer Technik in körperlich spürbare – verkörperte – Handlungen oder gar in ein Ritual eingebunden ist, werden heilungsfördernde Reaktionen ausgelöst, die in der Evolution und unserer Kulturgeschichte entwickelt wurden. Diese organismischen Reaktionen werden als »self-healing response«, als Selbstheilungsreaktion, zusammengefasst. In der individuellen Lerngeschichte sind vielleicht Erfahrungen auch körperlich gespeichert (verkörpert oder »embodied«), etwa wenn der Schmerz durch das spürbare Pusten der Mutter auf das aufgeschürfte Knie plötzlich wie weggeblasen war. Daran erinnern Jahre später auch eine Behandlung durch einen mitfühlenden Menschen, eine verabreichte Arznei und schließlich »Worte als Arzneien« und ein wohlwollender Blick (Thompson, Ritenbaugh a. Nichter 2009).

Genau darin, in der Auslösung einer solchen »self-healing response«, im Triggern von Prozessen der Selbstheilung, liegen der Wert und die Bedeutung von Placebos oder genauer die Bedeutung des Wissens und der Nutzung jener Faktoren, die all das bewirken, was als Placeboeffekt beschrieben wird.

Beispiele für Selbstheilungskräfte finden sich auf vielen Ebenen: auf molekularer Ebene bei DNA-Reparaturmechanismen, beim Schutz des Zellkerns durch Pigmente vor Strahlung, in der Wirkung des Immunsystems bei der Abwehr von Infektionen und Krebs. In der Haut werden sie bei der Wundheilung offensichtlich. Selbstheilungskräfte zeigen sich aber auch bei physiologischen Selbstregulationsprozessen, bei der Heilung psychischer Wunden, interpersonal bei der Heilung von Kränkungen in einer Beziehung und auf der sozialen Ebene bei der Bekräftigung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in Heilungsritualen vieler Völker.

Der Unterstützung von Selbstheilungskräften bei Krebs widmet sich ein eigener Abschnitt dieses Buches (Abschn. 7.5). Bei der Frage nach einem näheren Verständnis von Selbstheilungskräften landen wir bei der Dynamik komplexer Systeme und deren Selbstorganisation (Abschn. 6.2.5).

Die Medizin tendiert allerdings immer noch dazu, die spezifischen Wirkungen von Interventionen zu überschätzen und die unspezifischen als Placeboeffekte abzutun. Das betrifft sowohl Medikamente und Operationen als auch die psychotherapeutische Behandlung.

Im Mittelalter wurde das Verhältnis zwischen Tradition und modernen Erkenntnissen mit Riesen verglichen, auf deren Schultern Zwerge stehen. Dieses Bild findet sich in den Fenstern der Kathedrale von Chartres. So könnte man auch die spezifischen Effekte mit Zwergen und die unspezifischen mit Riesen vergleichen (Walach 2001). Die Zwerge können nur so weit sehen, weil sie auf den Schultern der Riesen stehen. Es kann zwar sinnvoll sein, die Größe der Zwerge zu vermessen. Es ist aber kurzsichtig zu meinen, man erfahre bei dieser Messung etwas darüber, wie weit eine bestimmte Therapie reicht. Dazu muss man die Gesamtgröße kennen: Zwerg plus Riese. Nach unserem Verständnis macht das resonanzbasierte Vorgehen den Riesen aus. Und der Zwerg braucht den Riesen bzw. seine Schultern als Basis. Ohne ihn kann er nichts bewirken.

Es ist zu hoffen, dass sich die folgende Erkenntnis nicht nur in der Psychoonkologie immer mehr durchsetzt:

Bei jeder medizinischen Maßnahme tragen unspezifische Effekte wesentlich zu deren Wirkung bei.

Ein Fallbericht über den Placeboeffekt im onkologischen Bereich stammt aus den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts (Klopfer 1957):

Damals wurde eine neue Substanz namens Krebiozen in den Medien als Wundermittel angepriesen. Ein Patient mit einem fortgeschrittenen Lymphom und infauster Prognose setzte mit allen Mitteln durch, an einer klinischen Studie zur Erforschung dieser Substanz teilzunehmen, obwohl er die strengen Einschlusskriterien nicht erfüllte. Nach zehn Tagen schrumpften seine Tumore so sehr, dass seine Behandlung beendet werden konnte.

Zwei Monate später erfuhr der Patient jedoch, dass die Studie, an der er teilgenommen hatte, entmutigende Ergebnisse geliefert hatte. Kurz darauf wuchsen die Tumore erneut in lebensbedrohlicher Weise. Im Wissen um eine mögliche Placebowirkung informierte ihn sein Arzt, dass die erste Charge des in der Studie verwendeten Medikaments nicht in Ordnung gewesen sei und dass er nun eine wirksame Charge zur Verfügung habe. Der Arzt injizierte ihm eine Kochsalzlösung mit der Information, dass er jetzt frisches, intaktes Krebiozen bekäme. Daraufhin erfolgte wiederum eine dramatische Remission der Lymphome. Doch nachdem der Patient das endgültige Ergebnis der Studie erfahren hatte, dass sich das Medikament für die Behandlung von Krebs als wertlos erwiesen habe, verstarb er innerhalb kurzer Zeit an einem Rezidiv.

In Pharmastudien berichten Patienten, die das Placebo bekommen, nicht nur über erwünschte, sondern auch über unerwünschte Wirkungen. Dieses Phänomen benannte man in Analogie zum Placeboeffekt als Noceboeffekt. Erwartungen können somit auch schädliche Auswirkungen haben. Auch diese Erwartungen speisen sich aus den unterschiedlichsten Quellen. Es gilt, derartige Einflüsse zu minimieren, seien es nun Aussagen von Behandlern oder Informationen aus dem Internet oder Annahmen der subjektiven Krankheitskonzepte. Oft besteht nur die Option, bestimmte Aussagen zu relativieren, indem z. B. für die Formulierungen eines Arztes der Kontext oder eine mögliche gute Absicht beleuchtet werden. Am besten ersetzt man solche wirksamen Negativsuggestionen durch positive Suggestionen mit einem möglichst ausgeprägten Placeboeffekt. Der vornehmste Weg ist jener der Prophylaxe. Möge unser Buch also dazu beitragen, dass sich die Leser der Macht der Suggestion und der Kontextfaktoren bewusst werden und möglichst Aussagen und Handlungen unterlassen, die das Risiko eines Noceboeffekts beinhalten.

Darüber hinaus ist die folgende Grundregel zwischenmenschlicher Kommunikation zu beachten:

Für den Inhalt und die Interpretation einer Botschaft ist letztendlich das Empfängersystem entscheidend.

Bei aller Klarheit und Qualität einer ausgesandten Botschaft ist darum auf mögliche Missverständnisse zu achten, die als Nocebo wirken. Eine resonanzbasierte therapeutische Kommunikation beinhaltet gegebenenfalls auch Zuwendung und Angebote, für einen Austausch zur Verfügung zu stehen, der auf ein klar mitgeteiltes und somit geteiltes und möglichst gemeinsames Verständnis abzielt.

5.7Dritte Pyramidenstufe – Prinzip Kooperation: Dialog zweier Experten

In der Patientenversorgung folgen auf die Wegstrecke von Abklärung und Aufklärung in der Regel Entscheidungen über angemessene Therapiemaßnahmen und das weitere Vorgehen. So widmet sich die dritte Stufe der Pyramide der Entwicklung eines Gesamttherapiekonzepts auf der Basis einer therapeutisch wirksamen Kommunikation (Abb. 7).

Abb. 7: Pyramidenmodell mit den Stufen einer therapeutisch wirksamen Kommunikation – die dritte Stufe

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie diese Entscheidungen getroffen werden sollten, und unterschiedliche Wege, wie sie letztendlich zustande kommen. Der von uns präferierte Weg sieht diesen Entscheidungsprozess – dem hypnotherapeutischen Prinzip der Kooperation folgend – als Dialog zweier Experten auf Augenhöhe:

•Der Behandler ist dabei Experte für das Krankheitsbild – auf der Grundlage wissenschaftlich gesicherter Evidenz und klinischer Erfahrung.

•Der Patient ist der Experte für sein eigenes subjektives Kranksein.

Wir verstehen das gemeinsame Entwickeln eines Gesamtbehandlungskonzepts ebenso wie Abklärung und Aufklärung als einen Prozess, in dem immer wieder Anpassungen an die jeweiligen, sich stets verändernden Gegebenheiten notwendig sind.

5.7.1Wege zur Entscheidungsfindung

Aus rechtlichen und ethischen Gründen bedarf es zu jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme der Einwilligung des Patienten. Der Weltärztebund hat zudem 2017 auf seiner 68. Generalversammlung das Genfer Gelöbnis – die moderne Form des hippokratischen Eides – überarbeitet. Darin wird der Respekt vor Autonomie und Würde des Patienten ausdrücklich ergänzt (Parsa-Parsi u. Wiesing 2017).

Patienten zu motivieren und zur Kooperation zu gewinnen ist die Voraussetzung für die in der Onkologie oft eingreifenden, langwierigen und aufwendigen Therapien. Beides erleichtert zudem den Therapieprozess und erhöht dessen Erfolgschancen. Zum Ausmaß, in dem Patienten in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, lässt sich ein Kontinuum beschreiben:

•Am einen Pol steht das paternalistische Modell, bei dem der Arzt seiner »apostolischen Funktion« (Balint 2019) folgend das Für und Wider einer Therapie einschätzt und allein entscheidet.

•Den anderen Pol bilden Modelle des informierten Entscheidens, die auf der Basis der vom Arzt vermittelten oder aus anderen Quellen vorliegenden Informationen eine autonome Entscheidung des Patienten ermöglichen.

Am bekanntesten ist das Modell des »shared decision-making« (SDM), das im Deutschen als partizipative Entscheidungsfindung (PEF) bezeichnet wird. Fach- und indikationsspezifische Stellungnahmen unterstützen diese Entscheidungsprozesse, wie z. B. jene der multinationalen Initiative »choosing wisely« (Richter-Kuhlmann 2015). Letztere enthalten auch Hinweise darauf, auf welche Maßnahmen man nach heutigem Wissen verzichten kann.

Partizipative Entscheidungsfindung (PEF)

Partizipative Entscheidungsfindung (PEF; engl. shared decision-making, SDM) ist als interaktioneller Prozess definiert. »Es braucht zwei zum Tangotanzen«, ist ein Artikel zum SDM betitelt (Charles, Gafni a. Whelan 1997). PEF zielt darauf ab, dass Arzt und Patient eine gemeinsame, partizipative Entscheidung finden, die auf geteilten Informationen und der besten verfügbaren Evidenz beruht.

Im Rahmen dieses Prozesses unterstützt der Arzt seinen Patienten dabei, die Risiken und Vorteile unterschiedlicher diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen abzuwägen und dabei zu einer wohl informierten Entscheidung zu kommen. PEF stärkt das wechselseitige Verständnis und somit die Beziehung zwischen Arzt und Patient, indem sowohl Informationen als auch individuelle Präferenzen ausgetauscht werden, damit sie im Prozess des gemeinsamen Abwägens berücksichtigt werden können.

Das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung postuliert, dass es im Interesse des Patientenwohls und einer von gegenseitigem Respekt getragenen Partnerschaft von Arzt und Patient liegt, gemeinsam zu entscheiden und gemeinsam Verantwortung zu tragen. Dies beinhaltet, die wesentlichen Informationen zu teilen. Es bleibt der Bereitschaft, dem Engagement und den kommunikativen Fertigkeiten des Arztes überlassen, die Präferenzen des Patienten herauszufinden – die Art der für ihn notwendigen und hilfreichen Informationen, der Vermittlung und deren Timing betreffend.

Der Arzt kann die Präferenzen des Patienten von sich aus nicht kennen. Er muss ausdrücklich nach ihnen fragen, um sein Angebot entsprechend anpassen zu können. In einer Feedbackschleife muss er darauf achten, wie seine Angebote ankommen, um sie gegebenenfalls zu modifizieren. Die Herausforderung besteht auch darin zu erkennen, wie viel Verantwortung der Patient selbst übernehmen will und kann und was er dem Arzt überlassen möchte. Nachdem der Patient über die gegebenen Therapieoptionen informiert ist und das Angebot, selbst zu entscheiden, bei ihm angekommen ist, hat er immer noch die Freiheit, seine Entscheidung an den Arzt zu delegieren. Auch das wäre eine Form von PEF, bei der die letzte Entscheidung beim Patienten liegt. Der Wunsch nach detaillierten Informationen und der Wunsch, die Entscheidung allein zu verantworten, gehen nicht immer parallel. Es gibt auch Patienten, die zwar genau informiert werden möchten, aber die Entscheidung lieber dem Arzt überlassen.

Partizipative Entscheidungsfindung bildet den Gipfel einer patientenzentrierten Medizin (Barry a. Edgman-Levitan 2012). Sie reduziert Angst und Depression, erhöht die Lebensqualität der Patienten und ihre Zufriedenheit mit der Therapie. Sie reduziert eine unangemessene Inanspruchnahme von Therapieoptionen im Sinne einer Übertherapie und trägt zur Berufszufriedenheit von Ärzten bei (Frerichs et al. 2016; Karnieli-Miller a. Eisikovits 2009).

 

Trotz dieser Vorteile und obwohl PEF als Goldstandard für eine qualitativ hochwertige Onkologie gilt, wird sie im klinischen Alltag nicht im wünschenswerten Maß umgesetzt. Entscheidungen werden in der Praxis eher nach dem paternalistischen Modell gefällt. In einer Studie an einer deutschen Universitätsklinik (Frerichs et al. 2016) zeigte sich: Bei klaren Präferenzen des Arztes für eine bestimmte Therapieoption bot er kaum Alternativen an. PEF kam insbesondere dann zum Tragen, wenn der Patient von sich aus den Wunsch nach mehr Partizipation äußerte. Vielfach scheinen die kommunikativen Fähigkeiten und die Zeit zu fehlen, Informationen angemessen zu vermitteln. Manche Teilnehmer der Studie berichteten trotzdem, wie wichtig es ihnen sei, sich Zeit zu nehmen und ihre Patienten nicht unter Druck zu setzen. Sie berichteten auch, dass es sich günstig auf den weiteren Verlauf ausgewirkt habe, wenn sie sich Zeit genommen hatten. Ein Teilnehmer sagte: »Ich würde schwören, wenn ich mir nur einmal die Zeit nehme, dann …« Ein anderer Teilnehmer ergänzte sinngemäß: »Dann laufen die Dinge einfach.« Die an der Studie teilnehmenden Ärzte waren sich darüber im Klaren, dass sie durch die Art der Information die Entscheidungen ihrer Patienten beeinflussen, ob sie ein bestimmtes Vorgehen wollen oder nicht. Diese Art von bewusster oder nicht bewusster bzw. expliziter oder impliziter Beeinflussung durch Suggestionen war schon Thema der Ausführungen zur zweiten Stufe unserer Pyramide der therapeutisch wirksamen Kommunikation.

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