Station 9

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»Frau Dr. Saatchi, schön, Sie zu sehen. Ein Verlängerter, schwarz wie immer?«

»Selbstverständlich Herr Karl«, antwortete sie, nicht im Mindesten überrascht.

»Er vergisst keinen Gast – niemals«, erklärte Mona, nachdem auch sie ihre Melange bestellt hatte.

»Nicht zu fassen. Wann bist du das letzte Mal hier gewesen?«

Sie überlegte. »Das muss mindestens zehn Jahre her sein.«

Die Atmosphäre des Wiener Kaffeehauses umhüllte und beruhigte sie wie die schützende Gebärmutter. Jedenfalls stellte Chris sich die Zeit vor der Geburt etwa so vor. Sie saßen schweigend am Marmortisch. Monas Blick driftete ab – in die Vergangenheit?

»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte sie, um Mona in die Gegenwart zurückzuholen.

»Und doch kommt es mir vor, als hätte ich gestern hier gesessen.«

»Hast du – hattest du Familie in Wien?«

Sie hätte die Frage besser nicht gestellt. Statt zu antworten, winkte Mona ihren Herrn Karl herbei, um zu bezahlen.

»Ich bin hundemüde, muss ins Bett«, murmelte sie.

Verwirrt folgte sie ihr zum Taxi. Bevor Mona einstieg, drehte sie sich plötzlich noch einmal um.

»Nimm mich bitte in den Arm.«

Im nächsten Atemzug kuschelte sie sich an sie wie ein Küken, das im Gefieder der Mutter Schutz sucht. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ein. Chris starrte dem Wagen nach, bis sich die Rücklichter auf der Ringstraße verloren.

Simmering, las Jamie auf einem Hinweisschild. Nick fuhr schweigend weiter. Fragen nach dem Ziel beantwortete er nur mit dem Grinsen, das er noch von Cambridge her kannte.

»Liegt nicht der Flughafen in dieser Richtung? Wollen wir verreisen?«

»Wir sind gleich da.«

Die Gegend weit außerhalb der Stadt machte einen eher trostlosen Eindruck. Nick parkte bei einem Hochhaus, dem einzigen weit und breit. Die laute Inschrift zog sich über die ganze Fassade des sicher fünfzig Meter hohen Turms. Jamie rümpfte die Nase.

»Ein Hotel – hätten wir das nicht schneller in Wien haben können?«

»Abwarten.«

Minuten später standen sie auf dem Dach des Gebäudes. Nick bewunderte die Aussicht.

»Na, was sagst du?«

»Was meinst du?«

»Sieh dich um.«

»Ich sehe grüne Wiesen, winzige Autos, einen Abluftschacht und ein paar Arbeiter.«

Das Grinsen mutierte zum Gelächter, einem hinterhältigen Gelächter, wie er glaubte.

»Das sind keine Arbeiter, mein lieber Jamie.«

Fünf Schritte weiter verstand er die Antwort. Er kehrte mit einem kategorischen Nein um. »Bist du verrückt? Das mache ich nicht!«

Nick stieß ihn lachend zurück. »Du hast nie bezahlt für mein Schweigen damals. Jetzt ist Zahltag.«

Jamie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich soll mich da hinunterstürzen?«

»Nicht stürzen. Wir beide laufen jetzt ganz gemütlich diese Wand hinunter. Deine Arbeiter werden uns sichern.«

»Auf keinen Fall. Du spinnst.«

Die Crew am Rand des Abgrunds beobachtete ihr Streitgespräch mit sichtlicher Ungeduld. Je mehr Gegenargumente ihm einfielen, desto stärker reizte ihn das Abenteuer. Ein Engländer blamiert sich nicht, schon gar nicht in Österreich. So etwas gehört sich einfach nicht.

Sie traten an die Dachkante. Fünfzig Meter senkrecht hinunter. Fünfzig oder fünfhundert – was macht es für einen Unterschied?, dachte er, während er spürte, wie sich sein Skelett aufzulösen begann.

»Wer zuerst?«, fragte er.

Todesangst verlieh ihm eine gewisse Autorität.

»Du natürlich.«

Dabei wechselte Nick einen verstohlenen Blick mit dem Mann am Flaschenzug, der ihm nicht entging.

»Du solltest dich jetzt besser anschnallen.«

»Vielen Dank für den Hinweis. Wäre ich allein nie drauf gekommen.«

Reden hilft, stellte er fest. Er würde sich später nicht mehr an den Blödsinn erinnern, den er auf dem Dach des Tower Hotels von sich gab. Das volle Bewusstsein erlangte er erst wieder, als er am Seil über die Kante kippte.

»Knie durchstrecken!«, mahnte der Herr über Leben und Tod. »Nicht bücken! Schön steif nach vorne kippen lassen.«

Der Mann sprach perfektes Englisch. Dennoch dauerte es ungewohnt lange, bis die Anweisungen Jamies Großhirn erreichten und die Muskeln die nötigen Befehle empfingen.

»Immer brav tun, was der Meister verlangt«, riet Nick.

Er spürte das schadenfrohe Grinsen förmlich im Nacken.

»Beine zusammen, strecken! So ist‘s gut.«

Er hing fast waagrecht über dem Abgrund, Gesicht nach unten.

»Jetzt machen wir den ersten Schritt.«

»Wir?«

Die verzweifelte Scherzfrage war nicht vom Schrei eines Bussards zu unterscheiden.

»Gut so, und nun lassen Sie das Seil ein wenig schleifen und machen einen Schritt mit dem andern Fuß.«

Er hatte verstanden. Es war im Grunde lächerlich einfach. Langsames Gehen auf rauem Beton, nur eben senkrecht nach unten statt geradeaus, wie normale Menschen sich bewegen.

Endlich im unteren Drittel angekommen, stellte er fest, schon seit Ewigkeiten keinen von Nicks bissigen Kommentaren mehr gehört zu haben. Der Boden rückte in Zeitlupe näher. Zum ersten Mal wagte er, den Kopf etwas anzuheben. Da stand sein sauberer Freund, winkte herauf und filmte weiter mit seinem Handy.

Es wirkte wie ein letzter, tödlicher Adrenalinschub. Er ließ dem Seil zu viel Spiel, stoppte dann abrupt. Die Füße lösten sich vom Beton. Frei hängend drehte er Kapriolen, bis er die Orientierung verlor. Nicks Gelächter verstummte erst, als er, losgelöst vom Seil, wütend auf ihn zu stürmte. Der Kampf ums Handy endete mit Jamies klarer Niederlage.

»Chris darf diesen Film niemals sehen!«, drohte er.

»Solang sie kein YouTube schaut …«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du wirst das Video doch nicht ins Netz gestellt haben!«

»Komm runter, Alter. Ich wüsste nicht einmal, wie das geht.«

»Was hast du überhaupt hier unten zu suchen? Los, rauf aufs Dach. Ich will deinen Sturz filmen.«

Nick blickte hinauf zum Flaschenzug knapp unter den Wolken. Dann schüttelte er den Kopf.

»Niemals würde ich diese Wand hinunterlaufen. Ich bin doch nicht verrückt.«

Auf halben Weg zurück in die Stadt hatte Jamie sich einigermaßen beruhigt.

»Aber das Scheiß Video löschst du«, verlangte er kategorisch.

»Nur wenn du mir eine Kopie deines Manuskripts lieferst.«

Die seltsame Forderung überraschte ihn.

»Du brauchst doch nur am Montag meinen Vortrag am Kongress anzuhören …«

»Das reicht mir nicht«, unterbrach Nick ungeduldig ohne jede Spur von Ironie. »Ich brauche alle Details deiner Entdeckung, inklusive Quellenangaben.«

»Die Arbeit wird in wenigen Wochen in der Fachpresse erscheinen.«

»Zu spät. Ich brauche die Information jetzt.«

»Wieso?«, fragte er verunsichert.

Nick zögerte. Er bemerkte sein Befremden und entschuldigte sich.

»Die Konkurrenz auf dem Gebiet der Gentherapie ist zwar noch überschaubar, aber gnadenlos«, erklärte er beschwichtigend. »Wenn du jetzt nicht an vorderster Front dabei bist, hast du verloren.«

Jamies Bild sah nicht annähernd so schwarz-weiß aus, doch er hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen.

»Ich brauche jetzt einen Cognac oder zwei«, sagte er stattdessen.

In der Weinbar pendelte sich sein Adrenalinspiegel wieder auf den Normalzustand ein. Der Beweis? Er lachte über sich selbst beim Betrachten von Nicks Video.

»Nicht zu fassen, dass ich auf den Blödsinn hereingefallen bin«, sagte er.

»Ist doch ein gutes Gefühl, gib‘s zu.«

»Als wüsstest du, wovon du sprichst.«

»Was ist jetzt mit deinem Manuskript?«

Nicks lauernder Blick sprach Bände. Er benötigte seine Forschungsergebnisse wie ein Junkie die Spritze.

»Erkläre mir lieber, wozu du die Arbeit brauchst. Wohl kaum für deine Klinik, nehme ich an.«

»Das wird sich weisen. Deshalb muss ich genau wissen, woran ich bin.«

Jamie ließ den Rest des Cognacs im Gaumen kreisen, schluckte und bestellte zwei neue, bevor er sagte:

»Und ich will zuerst genau wissen, was ihr in Luzern treibt.«

Nach kurzem Zögern begann Nick auszupacken.

»Wir haben uns auf Gentherapie spezialisiert, wie du weißt. Angefangen hat es mit der Behandlung der Erbkrankheit LPDL.«

»Lipoproteinlipase-Defizienz, die Glybera-Story«, unterbrach er, nicht überrascht.

»Genau. Die hat international Schlagzeilen gemacht, weil eine Dosis des Medikaments etwa so teuer ist wie ein Mercedes CLS Coupé. Die Behandlung eines Patienten kostet über eine Million Euro.«

»Das liegt ja wohl in erster Linie am überrissenen Preis für Glybera.«

»Sicher, aber du siehst schon, worauf ich hinaus will. The winner takes it all, verstehst du?«

»Es geht also nur ums Geld?«

Nick schüttelte vehement den Kopf. »Nicht nur, aber wir wollen auch leben. Der Punkt ist ein anderer: Ich bin überzeugt, dass es mit den neuen Entwicklungen des Gene Editing möglich sein muss, solche Behandlungen viel günstiger und damit allen Patienten anzubieten. Ich halte nämlich nichts von Zweiklassenmedizin.«

Die Bemerkung reizte Jamie zum Lachen. »Das sagt der Richtige, Besitzer einer exklusiven Schweizer Privatklinik!«

»Egal ob du mir glaubst oder nicht. Du wirst mir zustimmen, dass möglichst alle Betroffenen geheilt werden sollten, wenn es eine Chance dazu gibt. Im Falle von LPDL bleibt sonst den Patienten nichts anderes übrig, als alle paar Wochen zur Blutwäsche anzutreten. Ganz zu schweigen von lebensgefährlicher Pankreatitis.«

 

Daran war nichts auszusetzen. Es gab zwar nur sehr wenige Menschen mit der Erbkrankheit LPDL, aber für die musste das Leben die Hölle sein.

»Weil das Protein LPL nicht richtig funktioniert«, ergänzte er wie zu sich selbst, »werden Fettmoleküle nicht abgebaut, die den Blutkreislauf verstopfen.«

»So ist es, und weißt du, weshalb die Behandlung so unverschämt teuer ist und lange dauert, abgesehen vom Preis des Medikaments?«

»Weil man Unmengen injizieren muss in der Hoffnung, dass genügend Zellen das kranke gegen das gesunde Gen austauschen. Man sollte einen Weg finden, diesen Tausch der Gene spezifischer und effizienter zu gestalten. Das ist genau das Thema meines Vortrags am Montag …«

»Eben«, warf Nick triumphierend ein.

Um den Punkt zu unterstreichen, prostete er ihm mit dem zweiten Schwenker zu.

»Jetzt hat es auch Dr. Roberts kapiert.«

»Schon, aber – meine Arbeit ist eine Forschungsarbeit. Es bleibt noch ein langer Weg bis zur klinischen Reife.«

Nick lachte. »Das lass mal meine Sorge sein. Also, kriege ich das Manuskript?«

Jamie zuckte die Achseln. »Meinetwegen, die Arbeit wird sowieso unter meinem Namen publiziert.«

Chris wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge, bevor das Licht den Großen Saal des Musikvereins wieder golden erstrahlen ließ. Es war weniger die Musik der Wiener Symphoniker, die sie zu Tränen rührte, als die Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr die Liebe zur Musik vererbt und es selbst nie in dieses Haus geschafft hatte.

»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Jamie besorgt. »Du wirkst traurig.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe nur gerade an Papa gedacht. Schade, dass ich an kein Jenseits glaube, sonst hätte er sicher die letzten zwei Stunden mitgehört.«

»Du stellst es dir einfach vor, ohne daran zu glauben.«

Trotz der neuen Schuhe bestand sie darauf, zu Fuß ins Hotel zurückzukehren.

»Keine dreißig Minuten, wäre ja gelacht«, prahlte sie.

Sein Gesicht entsprach genau dem Gefühl in ihrem rechten großen Zeh, der sich nicht mit der eleganten Enge der High Heels abfinden wollte, die Mona ihr als Schnäppchen aufgeschwatzt hatte. Auf der Höhe der Secession, keine zehn Minuten unterwegs, setzte sie sich auf eine Treppe.

»Ich kann nicht mehr.«

Jamie hatte nichts anderes erwartet. Er nickte nur und zog das Handy hervor.

»Warte. Gib mir eine Minute.«

Sie streifte die Schuhe ab und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Er verstand sofort. Grinsend begann er, ihren Fuß zu massieren.

»Der andere.«

Eine Gruppe junger Damen schien das außerordentlich zu amüsieren. Sie verstand kein Wort, aber die Geste war eindeutig. Die Damen streckten Jamie synchron das rechte Bein entgegen, bevor sie kichernd weiterzogen.

»Wir sollten auch besser weitergehen, sonst artet das aus«, sagte sie lachend.

Die paar Minuten bis zum Museumsquartier legte sie auf Strümpfen zurück. Das Hotel lag zwar in der Nähe, doch sie bestand auf einem Absacker. Vielleicht würde sie nach zwei, drei ›Ottakringer‹ endlich erfahren, was am Herrenabend wirklich geschehen war. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, es ihm aus der Nase zu ziehen. Jedes Mal flüchtete er sich in medizinische Sachthemen, die er angeblich mit Nick stundenlang erörtert hatte.

Sie wusste jetzt Bescheid über das ethische Dilemma der Eingriffe in die menschlichen Gene, über die schwierige Grauzone zwischen sinnvollen Therapiezielen und verbotenen Verbesserungen am Genmaterial. Sie kannte den Unterschied zwischen somatischen und Keimbahntherapien, bei denen nicht nur die Gene der betroffenen Person verändert würden, sondern auch die des potentiellen Nachwuchses. Eingriffe in die Keimbahn waren gefährlich und verboten. Das sah sie ein, aber was zum Teufel hatten die beiden gestern getrieben? Er blieb hart. Sie würde es nie erfahren. Um ihn zu provozieren, fragte sie:

»Glaubst du, Nick könnte sich die Hände schmutzig gemacht haben mit nicht ganz koscheren Genmanipulationen? Sollte er deshalb beichten?«

Er sah sie an, als hätte sie eben die Scheidung eingereicht. Lange überlegte er sich eine Antwort, bis er endlich den Kopf schüttelte und murmelte:

»Du siehst überall nur Verbrecher, selbst im Urlaub.«

Ihr Handy kündigte neue Mail an. Kopfschüttelnd sah er ihr zu beim Lesen.

»Urlaub, Sonntag – schon vergessen?«

Sie zeigte ihm die Nachricht. »Nur Spam, siehst du?«

Er warf einen misstrauischen Blick aufs Display mit der Bemerkung:

»Ich habe irgendwo gelesen, man könne diese Dinger auch abschalten.«

Im selben Augenblick traf eine Meldung von Haase ein: Klinik Seeblick im Visier der Steuerfahndung. Sie reagierte nicht schnell genug. Er sah den Text. Seine Miene verfinsterte sich, wie sie es noch nie beobachtet hatte.

»Mir reicht‘s!«, zischte er wütend. »Kannst gerne noch weiter gegen meinen Freund ermitteln, aber allein.«

Sagte es, stand auf und verließ das Lokal ohne einen Blick zurück. Sie seufzte. Er würde jetzt etwas Zeit brauchen. Sie hatte übertrieben, nicht zum ersten Mal. Aber dieser Nick und seine Klinik …

Eine halbe Stunde verstrich, ehe sie ihm folgte. Zeit genug, um über Haases neuste, inoffizielle Ermittlungsergebnisse nachzudenken. Unsicher auf den hohen Absätzen und in Gedanken versunken, wankte sie schließlich hinaus.

Der Fahrer des Lieferwagens trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Frau auszuweichen, die offensichtlich blind über die Straße laufen wollte.

»Tussi, hirnamputierte!«, rief er ihr nach, Puls auf 180.

Ein Unfall fehlte ihm gerade noch, wo doch alles bisher rund gelaufen war. Die Ware im Baumarkt hatte offen herumgelegen. Jemand musste sich darum kümmern. Aber Kieberer wären jetzt nicht förderlich fürs Geschäft. Die sollen Parkpickerl kontrollieren und ihn gefälligst in Ruhe lassen, war sein Leitmotiv. Durch die Tussi landete sein Handy auf der Fußmatte. Jetzt spielte es jenseits der Mittelkonsole ›Mission: Impossible‹.

»Scheiße, das ist sicher der Lorenz«, murmelte er.

Anhalten war keine Option, außer es ging nicht anders. An einer Ampel fischte er das Telefon vom Boden und wählte den Rückruf. Sein Bruder hob sofort ab.

»Ferdl, endlich!«

»Was liegt an, Kleiner?«

»Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin sechzehn.«

»Schon gut, also, was willst du? Ich hab‘s eilig.«

»Bier ist alle.«

»Du trinkst keinen Alkohol!«

»Nein, aber falls du heute Abend ein Sechzehner-Blech brauchst, solltest du eins mitbringen.«

»Alles klar, sonst noch was?«

»Ja, ein paar Soletti, wenn du schon dabei bist.«

»Sag mal, Kleiner!«, rief er ärgerlich, »hast du keine Beine?«

»Schon, aber ich bin seit einer Woche stier, wie du weißt.«

Er unterdrückte einen Fluch, denn beim Geräusch, das sich rasch von hinten näherte, stellten sich seine Nackenhaare auf wie bei einem Igel mit Panikattacke.

»Ich muss …«

Weiter kam er nicht. Er drückte Lorenz weg und schmiss das Handy auf den Beifahrersitz. Was zum Teufel wollten die Kieberer jetzt von ihm? Hatte ihn jemand verpfiffen? Gab es doch eine verdammte Überwachungskamera?

Sie interessierten sich nicht für ihn und die am Baumarkt gefundene Ware im Lieferwagen. Die Streife preschte vorbei und verlor sich bald in der Nacht.

Schon fast zu Hause in seinem Grätzl beim Westbahnhof, drosselte er die Geschwindigkeit. Das neue Graffiti des Kleinen leuchtete selbst im schummrigen Licht der Straßenlampe wie aus eigener Kraft. Lorenz war ein Naturtalent. Das hatten sogar die Knalltüten begriffen, die ihm beim Verticken helfen sollten. Gleich hätte er es geschafft. Beim Abbiegen in seine Straße sauste ein blauer Bentley um die Ecke, voll auf Kollisionskurs. Er konnte nichts anderes tun, als das Bremspedal durchzudrücken und laut zu fluchen. Der Bentley reagierte zum Glück ebenso schnell, scherte nach rechts aus und blieb in der Mauer stecken. Über ihm leuchtete das Graffiti wie das Altarbild in der Unbefleckten Empfängnis, wo er früher mal den Opferstock geleert hatte.

»Da schau her, noch ein Fan«, murmelte er, während das Blut ins Hirn zurückströmte.

Sein Fuß zuckte über dem Gaspedal, doch dann stieg er aus. Ein alter Herr saß am Steuer des Bentley, Kopf im Airbag, Hosenträger über kariertem Hemd. Er war immerhin der Einzige im Wagen, bewegte sich aber nicht.

»Gute Nacht!«, seufzte Ferdl.

Widerwillig holte er das Handy im Lieferwagen. Er war im Begriff, die Rettung zu rufen, als die Tür des Bentley aufsprang. Ächzend befreite sich der Weißhaarige vom Sicherheitsgurt und kroch aus seiner Luxuskarosse, scheinbar unverletzt. Er begann, sich sofort wortreich bei ihm zu entschuldigen und stellte sich als Galerist Horvath vor.

»Galerie Horvath beim Theatermuseum, Sie wissen schon.«

Er wusste nicht einmal, wozu es Galeristen gab.

»Sind Sie in Ordnung, alles O. K. mit Ihrem Wagen?«

Der Alte fragte ihn! Er nickte.

»Bei Ihnen schaut’s weniger gut aus«, stellte er fest.

Horvath tat es mit einer verächtlichen Handbewegung ab.

»Blechschaden. Der Wagen musste sowieso in die Garage. Die Einspritzung, Sie wissen schon.«

Was er neuerdings alles wusste … Dem Alten war offenbar nicht zu helfen. Ferdl drehte sich um, wollte zum Lieferwagen zurück und Gummi geben, als etwas völlig Unerwartetes geschah. Horvath betrachtete das Graffiti mit offenem Mund. Andächtig wie der Pfaffe in der Prozession schritt er das Gemälde des Kleinen ab. Immer wieder blieb er stehen, als bete er am Bildstock. Er hatte nur noch Augen für das monumentale Werk an der Mauer. Klar, dass nun bei Ferdl der Automatismus einsetzte angesichts des frei zugänglichen Handschuhfachs im Bentley. Horvath war erst beim nächsten Bildstock angelangt, als er die Beute einsteckte: Pfefferspray, den man in dieser Gegend stets gut gebrauchen konnte, und fünf Hunderter, auch nicht zu verachten.

»Stimmt etwas nicht?«, rief er dem Galeristen zu mit der Miene des besorgten Samariters.

»Von wem stammt dieses Fresko?«

»Welches Fiasko?«

»Das Graffiti meine ich.«

Soweit kommt‘s noch, dass ich den Kleinen ans Messer liefere, dachte er und zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung, was ist damit?«

»Der Maler ist ein Genie.«

Horvath kehrte zum Bentley zurück, um sein Handy zu holen.

»Ich muss unbedingt ein paar Bilder schießen«, murmelte er.

»Sollten Sie nicht besser die Karambolage knipsen?«

Das Smartphone schien nicht zu funktionieren.

»Der Akku – könnten Sie mir vielleicht freundlicherweise Ihres ausleihen?«

»Für ein paar Bilder?«

Horvath lachte. »Nein, das geht jetzt wohl nicht, aber ich muss die Polizei rufen.«

Die Kieberer! Mit seinem Handy! Andererseits – sein Prepaidhandy konnte nicht einmal die Wiener Stadtpolizei zurückverfolgen. Zögernd gab er ihm das Telefon.

»Vielen Dank der Herr, sehr freundlich. Hier ist übrigens meine Karte.«

Er steckte die Visitenkarte mit Goldprägung ein, als bekäme er jeden Tag so eine.

»Meine sind leider gerade ausgegangen«, murmelte er, ungeduldig aufs Telefon wartend, um endlich abhauen zu können.

Er atmete erst richtig auf beim Betreten der alten Fabrikhalle, die ihnen als Wohnung und Lorenz als Atelier diente.

»Wo sind die Soletti?«, wunderte sich der Kleine.

So an Schaas! Vor lauter Bentley und Graffiti hatte er die Trafik völlig vergessen. Nicht verlegen, zog er einen von Horvaths Hundertern aus der Tasche. Er gab ihn dem verblüfften Kleinen mit der Bemerkung:

»Ab sofort ist hier niemand mehr stier.«

Ungläubig hielt Lorenz den Schein gegen die Lampe, zupfte und roch daran, um ihn als Blüte zu entlarven.

»Der ist garantiert echt. Worauf wartest du noch? Bringst mir zwei Blech mit.«

Die Wrestler im Fernsehen machten erst Spaß, als Lorenz mit den Bierdosen zurückkehrte. Er erzählte ihm das Wichtigste vom Bentley in der Mauer.

»Ein Genie hat er dich genannt. Wollte unbedingt Fotos vom Graffiti.«

»Ein Genie, soso … Dir ist das aber noch nie aufgefallen.«

»Lass dir nur keinen Kamm wachsen deswegen. Du solltest dir lieber Gedanken machen, wie es jetzt weitergeht, nachdem du die Schule geschmissen hast, Lorenz Gruber.«

 

Auf diesem Ohr war der Kleine taub. Er wandte sich nur wieder seiner Staffelei zu und fragte beiläufig:

»Wo finde ich diesen Herrn Horvath?«

»Denk nicht mal dran! Der Sack braucht nicht zu wissen, wer wir sind.«

»Er hat immerhin mein Genie erkannt. Vielleicht ist da was dran.«

Chris sah dem Lieferwagen nach, als wäre er der erste, dem sie begegnete. Auf einen Schlag vollkommen ausgenüchtert, fragte sie sich, wie der schöne Abend so schlimm enden konnte.

»Entschuldige, Papa«, murmelte sie und ging vorsichtig weiter.

Jamie hatte recht und allen Grund, sauer zu sein. Warum konnte sie nicht einfach die paar Tage in Wien genießen, BKA und Arbeit vergessen, leben? Auf dem beschwerlichen Weg ins Hotel legte sie den Plan für ihre Entschuldigung und die Versöhnung bis in alle Einzelheiten fest. Kuscheln im warmen Bett sollte der entscheidende Katalysator sein.

Jamie hielt sich indessen nicht an den Plan. Das Handy stumm geschaltet, betrat sie das Zimmer und erschrak. Er saß am Schreibtisch und arbeitete. Intensiv, wie es schien, denn er reagierte nicht. Sie war Luft. Der schöne Plan ebenfalls.

»Es tut mir leid, Liebster. Ich bin eine dumme Gans. Kommt nicht wieder vor.«

Er sah nicht von der Arbeit auf. Sie wagte nicht, ihn zu küssen, versicherte sich aber, dass keine Kopfhörer in seinen Ohren steckten. Bei seltenen Anfällen von Jugendwahn tat er das. Die Ohren waren in Ordnung, und sie blieb Luft. Sie brauchte dringend eine neue Strategie. Zum Nachdenken zog sie sich ins Bad zurück.

Das Handy begann, neben dem Waschtisch zu tanzen. Der Bildschirm leuchtete verlockend.

»Nicht jetzt!«, schnauzte sie es an und schaltete es aus, ohne hinzusehen.

»Es interessiert mich nicht – jetzt nicht«, wiederholte sie immer wieder unter der Dusche.

Kaum trocken, las sie Haases Nachricht. Es gibt eine Verbindung vom Geiselnehmer Schäfer zur Klinik Seeblick, schrieb er. Ein seltsamer Todesfall …

»Also doch«, murmelte sie beim Lesen, »armer Jamie.«