Die wilden Zeiten der Théra P.

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Die Garden besetzten zu gleicher Zeit und in derselben Nacht die Rundfunk- und Fernsehsender, und sie verhängten eine totale Nachrichtensperre. Mit den Gerüchten verbreitete sich die Angst. Ein aufständischer Oberst ließ in aller Eile eine Panzerdivision auf den Präsidentenpalast zurollen, aber die Aktion war spontan und unkoordiniert, und sie wurde blutig zerschlagen. Kampfhubschrauber mit Luft-Bodenraketen, und Bodentruppen mit panzerbrechenden Waffen kamen dem Präsidenten zu Hilfe. Einige Gebäude wurden in Brand geschossen, darunter der Justizpalast, aber auch die 10 Panzer gingen in Flammen auf, und die eilig zusammengetrommelte Truppe aus aufständischen Infanteriesoldaten wurde eingekreist, und musste sich schließlich nach heftigen Verlusten ergeben. Auch in anderen Städten kam es zu Scharmützeln, das Kriegsrecht wurde landesweit ausgerufen, und die Zivilisten gingen in Deckung.

Der Ministerpräsident hatte seinen Angriff minutiös vorbereitet. Anders als sonst vielleicht üblich, hatte er seine politischen Gegner nicht heimlich hinrichten lassen, und auch nicht für immer ins Gefängnis geworfen, wie man das in solchen Konflikten sonst manchmal tut. Er stellte sie kalt und isolierte sie politisch und wirtschaftlich. Sie wurden verhört. Sie wurden bedroht. Sie wurden geschlagen. Alle ihre Güter wurden beschlagnahmt, Gelder, Firmen, Landbesitz, aber sie wurden später wieder auf freien Fuß gesetzt. Nicht sofort, nein. Die Aktion dauerte ihre Zeit. Die Verschonung der Gegner war für ein südamerikanisches Land sogar höchst ungewöhnlich. Die linksliberale parlamentarische Opposition wurde sogar ganz in Ruhe galassen.

Was würde jetzt kommen?

Nach Rücksprache mit seinen engsten Mitarbeitern hatte der Ministerpräsident zwar das Leben der Gegner verschont, aber er hatte ein striktes Ausreiseverbot verhängt. Diese Leute sollten im Ausland keine Unterstützer mehr finden. Sie würden die nächsten Jahre unter strengen Auflagen leben, Meldepflichten einhalten und ständig beobachtet werden.

Wie leicht hätte die ganze Aktion ins Leere laufen können, durch Verrat oder durch Untreue.

Die wichtigsten Generäle des Landes hatten sich auf die Seite von Théras Onkel gestellt. Der Ministerpräsident hatte sie davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kurs ihres Landeschefs dem Land in den nächsten Jahren noch viel Nutzen bringen würde. Viele neue Firmen hatten sich bereits in Peru niedergelassen, und das Ansehen Perus auf der politischen Weltbühne war durch die Ausgrabung in Théluan und die Unterstützung durch die UNESCO enorm gestiegen. Dieses Kapital wollte man nicht verspielen. Schließlich vertrat der Ministerpräsident immer noch konservative Werte und er lockte mit Pfründen. Er galt zwar inzwischen als wirtschaftsliberal, aber er war einer von ihnen, und durch ihre Unterstützung war er den Generälen zu neuem Dank verpflichtet. Das machte sie mächtiger als zuvor. Zunächst schien danach die Gefahr eines neuerlichen Putsches gebannt. Man würde sehen, ob sich daraus eine neue Bedrohung entwickeln würde. Die Militärkommandanten profitierten direkt. Sie bereicherten sich an den eingezogenen Vermögen der Inhaftierten. Das war kriminell, aber es geschah mit dem Wissen und der Billigung des Ministerpräsidenten. Trotz dieser Bestechung war das Ganze eine Aktion auf Messers Schneide.

Plötzlich schien die politische Situation des Landes sicher und stabil. Zumindest vordergründig.

Der Ministerpräsident konnte seiner Tochter Sofia endlich das Versprechen abgeben, die Indios in diesem Land Stück für Stück mit den gleichen Rechten auszustatten, die auch die Weißen haben. Nicht sofort, denn das würde unmöglich sein, dies den Generälen gegenüber durchzusetzen, aber Stück für Stück, und das würde noch einiges an taktischem Vorgehen erfordern, um die mächtige Kaste der Generäle nicht doch noch gegen sich aufzubringen.

Vielleicht war es sogar ein Glück, dass dieses Beben und der Vulkan den Südosten des Landes so schwer in Mitleidenschaft gezogen hatten. Erst das Beben hatte diese gewaltige Solidargemeinschaft ermöglicht, die während des Sommers auf Initiative von Théras kleinem Bruder Pesa entstanden war. Erst die Folgen des Bebens hatte diese ultrakonservative Bewegung zu einer Einheit geformt und sie zusammengeschmiedet. Aber es waren letztlich mehrere glückliche Umstände, die den Putsch der Ultrakonservativen verhindert hatten.

5.

Es war Théra gewesen, die ihrem Onkel all die Namen der Personen gegeben hatte. Es war Théra gewesen, die dem Onkel sagen konnte, an welche Generäle er sich wenden durfte, ohne die Gefahr, hintergangen zu werden. Ohne Théras Hilfe wäre die Aktion nicht denkbar gewesen.

Diese völlig überraschende militärische Operation war es allerdings auch, die Papa und Théras großem Bruder Para große Sorgen bereitete. Sie waren zwar grob informiert worden, dass etwas passieren wird, und sie hatten sich schon selbst vorbereitet, auf ihre Weise einzugreifen, aber sie hatten gehofft, dass der Ministerpräsident das Richtige unternimmt. Sie waren aber wirklich nur sehr grob informiert worden. Irgendetwas ging da hinter ihrem Rücken vor, und diese plötzliche Gewalt und diese Ungewissheit waren äußerst bedrohlich. Man muss wissen, woher der Wind weht, um sich wirksam schützen zu können.

Jetzt zeigte sich, dass die übergrosse Vorsicht des Ministerpräsidenten auch Gefahren in sich barg.

Als Dennis und seine Freunde die ersten Gerüchte hörten und die Panzerfahrzeuge in Théluan sahen, da waren sie sofort in Alarmstimmung und beriefen den Familienrat ein. Es wurden Wachen ausgeschickt, um alle Truppenbewegungen zu melden und die Indios notfalls in die Berge zu schicken.

Der Ministerpräsident war selbst für Dennis nicht zu erreichen. Die politische Säuberungsaktion konnte auch für die Familie in ihrem Tal gefährlich werden.

Papa hatte in den letzten Jahren zwar viele Dinge zusammen mit dem Ministerpräsidenten in Bewegung gesetzt, aber diese Gewalt war beängstigend. Was war, wenn der Onkel solche Geheimgarden auch gegen ihre Familie sandte, owohl sie durch die Heirat von Sofia und Para miteinander verwandt waren? Was war, wenn irgendein Oberst nicht linientreu war und seine Leute gegen Théras Familie in Stellung brachte? Was war schließlich, wenn die Situation kippte und der Onkel plötzlich selbst Opfer einer Intrige wurde, und andere sich solcher Mittel bedienten, um die Chance auf einen Zweiten reaktionären Putsch zu nutzen? Von Mama wussten sie, dass so etwas in Südamerika jederzeit möglich war. In jeder Krisensituation kriechen die Ratten sinnbildlich aus ihren Löchern, um sich zu bereichern.

Noch während die Aktion lief, beschloss Dennis, in Zukunft Informanten und Vertrauensleute in wichtige Positionen in der Hauptstadt zu schleusen, um rechtzeitig gewarnt zu werden. Die Zukunft ihrer ganzen Stadt würde davon abhängen, aber das würde dauern. Man brauchte jetzt Informationen. Jetzt musste man handeln, und Théra erklärte sich sofort bereit dazu. Sie verfügte über einen seltenen Instinkt.

Théra setzte sich dafür ein, dass der Onkel (mit aller Vorsicht) mehr Vertrauen verdiente. Der Onkel war es, der in diesem Land vieles ermöglicht hatte, was „ihre Familie“ in den letzten Monaten und Jahren geleistet hatte. Nach dem großen Beben und dem gewaltigen Vulkanausbruch hatte er dafür gesorgt, dass das Militär uneigennützig half. Er hatte dafür gesorgt, dass all die Studenten und Krankenschwestern kamen, um den Erdbebenopfern zu helfen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Verwaltungen unbürokratisch halfen, und er hatte mitgeholfen, dass die in solchen Situationen unvermeidliche Korruption weit hinter dem zurückblieb, was man hätte erwarten dürfen.

Anderswo hätte das Militär die Überlebenden vielleicht ausgeplündert, und es hätte sich an den Hilfslieferungen bereichert. Es hätte Zigarette rauchend zugesehen, wie die Menschen auf offener Strasse krepiert wären.

Ohne die Hilfe des Militärs hätte es nach diesem Beben viel mehr Elend und Not gegeben. Es wären Seuchen ausgebrochen. Menschen hätten verhungern müssen. Théra rechnete es dem Onkel hoch an, dass er sich in dieser schwierigen Situation auf die Seite der Opfer gestellt hatte.

Théra glaubte nicht daran, dass der Onkel seine Garden unerwartet gegen Théras Familie schicken würde. Sie schüttelte den Kopf.

Sie sah die Besorgnis im Blick von Papa, Mama und Para. Sie verstand, was sie bedrückte, und sie beschloß, sich noch einmal einzumischen. Pubertät hin, Pubertät her. Es ging ums Überleben. Sie setzte sich sofort mit ihrer Tante in Verbindung, mit der Frau des Ministerpräsidenten. Während Dennis, Para und Alanque bereits Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, vergingen die ersten Tage nach Weihnachten jedoch ruhig und scheinbar ohne konkrete Gefahr.

Als Théra sich zwei Tage nach diesen Vorfällen mit ihrer Tante traf, da hatte ihr diese starke Frau mit viel Geduld zugehört. Dann hatte sie Théra erklärt, dass sie mit aller Vorsicht Vertrauen in den Ministerpräsidenten haben könne. Théra hatte die Hände der Tante gehalten. Sie war in ihren Kopf gekrochen und sie hatte gesehen, dass die Tante die Wahrheit sagte. Vielleicht würde einmal eine Situation eintreten, die alles veränderte, aber im Moment schienen ihre Familie und ihr Tal sicher zu sein. Die Tante war auf ihrer Seite, und dass die Tante nicht wusste, was da geschah, das war nicht anzunehmen. Sie hatte immer das Vertrauen ihres Mannes genossen.

Théra war beruhigt und sie teilte Papa und ihrem großen Bruder Para später mit, was sie gesehen hatte. Sie würden dennoch vorsichtig sein. Vielleicht war der Auftrag für ein Attentat auf ihre Familie ja nicht mehr zu verhindern gewesen.

 

An diesem zweiten Weihnachtsfeiertag geschahen für Théra zwei wichtige Dinge.

„Ich soll dir von meinem Mann ausrichten, dass er dir zu großem Dank verpflichtet ist“, sagte die Tante. „Durch deine Hilfe hast du einen offenen Bürgerkrieg verhindert. Es lässt sich nicht genau sagen, was passiert wäre, wenn wir deine Namensliste nicht gehabt hätten. Aber so viel ist sicher: wenn diese Leute massiv losgeschlagen hätten, dann hätte es Tausende von Toten gegeben. Mein Mann musste überraschend angreifen, um uns zu schützen. Er hat mir versichert, dass er diese Leute verschont. Er will ein Zeichen für Vertrauen setzen. In den letzten Jahren haben sich viele Indios auf die Seite meines Mannes gestellt. Wichtige Teile des Militärs halten ihm die Treue. Sie hätten sich den geplanten Putsch der ultrakonservativen Gegner nicht gefallen lassen. Das hätte in unserem Land Mord und Totschlag gegeben. Ich weiß von den Umsturzplänen an Ostern. Danach wären wir wohl alle nicht mehr am Leben, unsere gesamte Familie nicht, und auch viele unserer politischen Freunde.“

Sie sah Théra direkt an. „Ich spreche jetzt nicht nur von der Familie meines Mannes. Ich spreche auch von deiner leiblichen Familie, schließlich sind wir durch die Heirat von Sofia und Para miteinander verwandt. Für mich bedeutet das sehr viel. Vergiss das nicht.“

Sie fuhr fort: „Théra. Wir haben dir viel zu verdanken. Ich, mein Mann, meine Kinder, das ganze Land. Mein Mann möchte, dass du das weist. Er wird nie öffentlich Stellung dazu beziehen, weil er niemandem mitgeteilt hat, woher diese Liste stammt. Das bleibt unter uns. Aber mein Mann sagt, dass du von ihm jede Unterstützung bekommen kannst, die du dir wünschst. Es gibt jedoch ein paar Einschränkungen. Mein Mann wird sich nicht einseitig auf die Seite der Indios stellen. Er ist der Präsident aller Peruaner. Er hat gesagt, du sollst das wissen. Ich darf dir das sagen. Mit meinem Mann kannst du jetzt nicht sprechen. Er ist vorübergehend untergetaucht, zu seiner Sicherheit, und er koordiniert alle Maßnahmen von einem geheimen Ort, den nicht einmal ich kenne.“

Nach einer Gedankenpause fügte sie hinzu: „Ich meine, er ist wirklich der Präsident aller Peruaner. Auch der Leute, die jetzt verhaftet worden sind. Wir werden sie verschonen. Wir werden ihnen die Macht und die Geldmittel entziehen. Als Freunde werden wir sie jedoch nicht gewinnen. Niemals. Da müsste schon ein Wunder geschehen.“ Sie seufzte.

Théra nickte. Was die Tante sagte, klang für Théra sehr vernünftig. Sie atmete tief durch. „Wir werden noch oft miteinander sprechen, wenn du mir das erlaubst. Vielleicht als Tante und Nichte, vielleicht auch, weil du die First Lady bist, und ich ein kleines besorgtes Mädchen bin.“

Die Tante lachte Théra offen an. „Egal wie du das nennst. Du bist hier immer willkommen. Vergiss nicht, ich bin deine Freundin, aber man weiß nie so genau, wo der Wind einmal herweht.“

Dann kam das zweite wichtige Statement der Tante: „Jetzt will ich dir noch was privates sagen. Du bist ein taffes Mädchen. Aber du bist jetzt in einem Alter, wo du mit deinen Gleichaltrigen bald Probleme haben wirst. Nicht nur, weil du durch die Hormone verwirrt wirst, sondern auch, weil du etwas Besonderes bist. Ich spüre das. Du weist, dass ich meine Tochter liebe, aber es wäre schön gewesen, auch noch so eine Tochter zu haben, wie du das bist. Du sollst wissen, das du immer zu mir kommen kannst. Auch mit deinen privaten Sorgen.“

Théra nickte, aber sie vertraute sich der Tante in der Sache Pubertät nicht an.

Auch ihre übersinnliche Kraft konnte ihr da nicht helfen. Sie war ja gerade eine der Ursachen, dass sich Théra mit Gleichaltrigen nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge unterhalten konnte, die sonst beste Freundinnen untereinander auszeichnet.

6.

Niemand, der nicht zu Théras engster Familie gehörte, hatte bemerkt, dass Théras Berliner Geschwister Eva und Nils überhaupt in Peru gewesen waren. Nicht einmal Onkel Bübchen und Moses wussten davon, obwohl die sonst in alles eingeweiht wurden, was die Familie betraf.

Théra, Clara und die Kinder von Para waren nach der Operation in ihre kleine Stadt Théluan zurückgekehrt. Eva und Nils sprangen nach der Geheimoperation direkt nach Berlin zurück, denn auch sie hatten diese Kraft, den Raum zu überwinden, wie alle Kinder von Dennis und Para.

Die Kinder von Dennis hatten in diesem Sommer erstmals gemeinsam und wie eine eigenständige Geheimorganisation gehandelt. Sie hatten erlebt, was das Bündeln ihrer Kräfte bewegen kann. Sie würden das nächste Mal noch organisierter und noch sicherer vorgehen. Egal, welche Aufgabe sich dann stellte.

Sie hatten sich in Gefahr begeben und sie waren als Sieger aus der Situation hervorgegangen. Diese Erfahrung stärkte das Selbstbewusstsein.

Das Wissen um die Aufdeckung der Verschwörung blieb allerdings ein Geheimnis von Théras Familie und verließ diesen Kreis nie. Auch der Ministerpräsident verriet nie, wie er an diese wichtigen Informationen herangekommen war. Die ganze Geheimniskrämerei war sogar ein richtiger Schritt. Er schützte Théras Familie vor möglichen Racheakten.

Immerhin war Dennis so vorsichtig, dass er eine Gruppe von zwanzig absolut zuverlässigen Indios damit beauftragte, ihre Augen und Ohren offenzuhalten, und seine Familie rund um die Uhr zu bewachen, bewaffnet mit Walkie Talkies.

Théra dachte nach diesem Vorfall lange über Macht nach. In ihrer Familie gingen sie pfleglich mit ihrer Kraft um. Papa hatte stets von ihnen gefordert, ihre Macht nie zu missbrauchen. Langsam erkannte Théra, dass Macht eine dunkle Seite und eine Sonnenseite hatte.

So beschlossen Théra, Papa und Para die Ultrakonservativen weiter zu überwachen und sie würde auch ihren mächtigen Onkel von Zeit zu Zeit überprüfen. So viel Macht in einer Hand konnte nur gut gehen, wenn diese Macht nie missbraucht werden würde. Erstmals erhielt Théra eine vage Ahnung von Politik. Das ist ein Théma, das Jugendliche ihres Alters sonst überhaupt nicht interessiert. Bewusstes politisches Handeln war für Théra zu diesem Zeitpunkt noch viel zu abstrakt und viel zu weit entfernt. Théra hatte einfach aus dem Bauch heraus gehandelt, und sie hatte die richtige Eingebung gehabt.

7.

Der ganze Monat Dezember war für Théra nicht schön gewesen und auch ihr 14. Geburtstag war für Théra kein schönes Erlebnis. Die Pubertät und die Reaktion des Onkels auf den drohenden Putsch hatten Théra zugesetzt.

Dabei war in diesem Jahr so viel geschehen. Man könnte jetzt mit viel Hoffnung und Elan in die Zukunft blicken. Théra hätte jetzt viele weitere Aufgaben übernehmen können. Vieles war durch diese Solidarbewegung nach den Beben in Bewegung geraten, was vorher gestockt hatte. Viele Projekte mußten jetzt sinnvoll begleitet und weitergeführt werden, aber Théra wollte in diesen Wochen einfach nicht mehr.

Eigentlich konnte man sie verstehen. Es gibt immer einmal einen Punkt, wo man keine Kraft mehr hat und wo man nicht mehr will. Rückzug ist völlig legitim.

8.

Bereits vor Weihnachten waren die Wiederaufbauarbeiten in Théras kleiner Stadt weitgehend abgeschlossen worden, auch die Straße nach Cusco war längst wieder befahrbar.

Oben auf dem Berg hatte man die Schuttberge der eingestürzten Hochhäuser weggeräumt. Dort entstanden jetzt erdbebensichere Wohnanlagen nach dem Vorbild der Indiosiedlung. Die Einkaufszentren waren zum Teil abgerissen worden, und sie waren schon bald wieder geöffnet worden, um die Versorgung der Stadt sicherzustellen. Auch die zerstörten Schulgebäude waren wiederaufgebaut worden.

Théras jüngere Schwester Clara kannte diese Einflüsse der Pubertät noch nicht. Sie hatte viel zu tun. Clara half bereits im November und Dezember bei der Neuorganisation der Schule, und sie widmete sich auch der Pferdezucht ihres Bruders Para. Auch die Pferde verlangten nach ständiger Pflege und Aufmerksamkeit.

Théras kleiner Bruder Pesa war im Spätherbst mit seinen Bau-Kids aus Cusco zurückgekommen. Die Gruppe hatte sich langsam wieder in den Schulalltag eingeklinkt. Die Erfahrungen des Sommers mussten verarbeitet werden. Schließlich brachten sie noch 800 Kinder aus Cusco mit. Sie hatten ihre Eltern verloren und die Schule der Indios platzte jetzt aus allen Nähten. Dennoch waren erstaunlicherweise alle voller Leben und voller Enthusiasmus.

Nur Théra zog sich wieder zurück in ihre Art von Schneckenhaus. Théra sah alles, aber sie engagierte sich nicht mehr. Sie hatte Augen für Jungs, aber sie sah bald, dass es niemanden gab, zu dem sie eine intime Beziehung hätte aufbauen wollen. Nicht hier in Théluan. Selbst bei den Mädchen gab es niemanden, mit der Théra über ihre Probleme hätte reden wollen.

So entschloss sich Théra kurz nach Neujahr, ihre Schwester Clara einzuweihen. Vielleicht nicht in alles, aber doch in einiges.

Clara hatte schon längst darauf gewartet. Sie hatte ihre große Schwester beobachtet. Sie hatte ein paar Mal mit Papa und Mama über Théra gesprochen, aber die hatten nur geseufzt. Die Pubertät sei eine schwierige Zeit, Clara würde das auch noch erfahren.

Clara war zwei Jahre jünger als Théra. Sie verstand vieles von Théras neuen Nöten nicht aus eigenem Erleben, aber sie konnte gut zuhören, und sie beobachtete Théra jetzt viel genauer als vorher.

„Wenn du nicht mit Papa, Mama oder Para darüber reden möchtest“, sagte Clara, “dann solltest du vielleicht mal den Rat von Aussenstehenden einholen. Ende Januar werde ich mit Para nach Dubai fliegen. Komm doch einfach mit. Überlass Para und mir die Sache mit den Pferden und dem Reitunterricht für die Jungen des Emirs, und kümmere dich einmal ausschließlich um die Mädchen des Harems und deine Seele.“

Sie fuhr fort: „Die Frauen dort sind doch in diesen Dingen der Liebe erfahren. Sie können dir vielleicht mehr darüber sagen, was dich gerade bedrückt. Vielleicht können sie dir sogar helfen.“

Théra dachte lange darüber nach, dann nickte sie langsam und vorsichtig. Diese Frauen hatten nicht Théras Kräfte, aber sie hatten in ihrem Land eine besondere Rolle. Vielleicht würde ihr diese Gemeinschaft aus Frauen helfen können.

9.

Auch Dennis hatte Théra den ganzen Dezember über beobachtet. Er hatte sie ein paar mal in den Arm genommen, aber Théra hatte sich angefühlt, wie ein Stück totes Holz. Er sah das wirre Feuer in ihren Augen. Helfen konnte er nicht. Dieses Problem musste Théra selbst lösen. Es war ihr Leben.

Er hatte sich mit Théras Mutter besprochen und Alanque hatte sorgenvoll geseufzt. Théra war verschlossen wie eine Festung.

Als Théra in der zweiten Januarwoche den Wunsch äußerte, mit nach Dubai zu fliegen, da nickte Dennis. Er besprach sich mit Para und Clara und bat sie darum, ihre schützenden Hände über Théra zu halten. Théra brauchte jetzt ein stabiles soziales Netz.

Er ahnte, dass ein Ausbruch bevorstand und er sprang für zwei Tage nach Berlin, um Laura und die Freunde zu warnen. In so einer Phase konnte alles Mögliche geschehen. Es war eine wirklich gefährliche Situation. Es durfte nie passieren, dass Théra aus irgendeiner Laune oder Enttäuschung ihre Kräfte missbrauchte. Dann wäre der Teufel los. Gerade Théra mit ihrer außerordentlichen Macht brauchte jetzt eine Schar von Freunden, die ihr den nötigen Raum gaben, um diese schwierige Erfahrung zu bewältigen, und die sie stets beobachteten würden und sofort zur Stelle waren, um sie aufzufangen.

Dennis betete zu seinem verstorben Bruder Patrick, er möge Théra in dieser schwierigen Phase beistehen.

Gott sei Dank war diese Putschgeschichte glimpflich an ihnen vorübergegangen. Dennis hatte über Neujahr mehrere Geheimtreffen mit Sofias Mutter und dem Ministerpräsidenten gehabt, und er fand Théras Erkenntnisse voll bestätigt. Von diesem Ministerpräsidenten drohte ihnen derzeit keine Gefahr, und von den Generälen offenbar auch nicht. Dennoch hatten sie Glück gehabt, und Dennis erhielt ständige Berichte seiner eigenen Schutztruppe. Diese geheime Überwachung durfte nie einschlafen, denn Dennis wusste aus Erfahrung, dass Rache meist “kalt gegessen” wird, dann nämlich, wenn man wieder in den Alltag eingeklinkt ist, und die natürliche Vorsicht versiegt.

 

Man konnte sich jetzt mit aller Vorsicht wieder seinen wichtigen Aufgaben widmen. Auch der geregelte Fortgang der Ausgrabungen in Théluan gehörte dazu. Diese archäologische Fundstätte spülte immens viel Geld in die Staatskassen. Gerade in Zeiten der Krise war das überlebenswichtig, weil dieser ständige Zufluss von Reichtum wirtschaftliche und politische Stabilität sicherte. Durch die Funde waren viele Infrastrukturmaßnahmen und Projekte überhaupt erst finanzierbar geworden. Schließlich strahlte die Ausgrabung der alten Königsstadt als kulturelles Symbol eine ungeheure Kraft aus, weit über die Grenzen Perus.

So hatte die mit der Ausgrabung verwobene Situation einerseits die Putschgefahr durch die Ultrakonservativen heraufbeschworen, andererseits hatte sie die Familie von Théra beschützt. Es gibt Menschen, die sagen: in jeder Krise steckt auch die Chance für einen Neuanfang.

Der Ministerpräsident wusste jedenfalls genau, was er an Dennis und Alanque hatte. Die beiden sicherten dem Land einen steten Strom an Reichtum, der sich für alle bezahlt machte. Zwar hatte sich die Stiftung vertraglich zusichern lassen, 1/3 der Funde für sich zu beanspruchen, aber diese Stiftung investierte einen Großteil des Geldes direkt oder indirekt in soziale Projekte und in Infrastrukturmaßnahmen. So bekam der Staat tatsächlich einen Großteil des Stiftungsanteils wieder zurück, obwohl der Stiftung Steuerfreiheit zugesichert worden war.

Dann war da noch diese ungeheure Werbewirkung. Ohne Dennis und seine Stiftung hätte es diesen Einfluss auf die internationale Meinung nie gegeben. Von überall her kamen Menschen, um sich diese Ausgrabung persönlich anzusehen. Sie spülten wiederum neues Geld in die Staatskassen. Auf Auktionen bei Christies und anderen Häusern erzielten die Funde immense Preise, und wenn Sammlungen aus der Ausgrabung auf Weltreise gingen, um in verschienenen Städten ausgestellt zu werden, dann bildeten sich dort lange Schlangen von Interessenten.

Es war einfach notwendig, diesen Dennis und diese Stiftung zu schützen, und der Ministerpräsident hatte alle wichtigen Generäle überzeugen können, diesen Schutz, wenn notwendig, auch mit militärischen und polizeilichen Mitteln zu sichern.