Die wilden Zeiten der Théra P.

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Kapitel 2. Rückblick: Nach dem grossen Beben

1.

In den Monaten vor ihrem Zusammenbruch hatte Théra keine Zeit gehabt, um an sich selbst zu denken.

Erst war da dieses gewaltige Erdbeben, das ihre kleine Stadt erschütterte. Direkt im Anschluß ereignete sich dieser Vulkanausbruch, dessen pyroplastische Wolke die halbe Hochebene verbrannte. Die kleine Stadt, in der Théra mit ihrer Familie lebte, wurde nur einen glücklichen Umstand verschont. Fallwinde hatten diese Wolke in unbewohntes Gebiet gelenkt. Die einzige Verbindungsstraße zwischen der regionalen Haupstadt Cusco und ihrer kleinen Stadt Théluan war auf eine Breite von 1,5 Kilometern durch eine gewaltige Schlamm- und Gerölllawine verschüttet worden. Der ganze Abhang war ins Rutschen gekommen. Man hatte schweres Räumgerät einsetzen müssen, und man hatte die Strasse in diesem Abschnitt völlig neu bauen müssen, um die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und Baumaterialien auf dem Landweg sicher stellen zu können. Lufttransporte mit Hubschraubern konnten nur die anfängliche Hilfe sicherstellen. Schon das war eine gewaltige logistische Meisterleistung.

Die Katastrophe hatte in der Region viele Menschenleben gekostet. In ihrer kleinen Stadt war nur durch Théras Gespür und Papas entschlossenes Eingreifen das Schlimmste verhütet worden. Der Staudamm war durch das Beben gerissen, doch der See war bereits vorher abgelassen worden. Die erdbebensicheren Wohnbauten von Théras Indioviertel hatten dem gewaltigen Beben widerstanden. Mehrere Hochhäuser, Banken, Einkaufsmärkte und viele Gebäude im Villenviertel waren allerdings eingestürzt. Die wirtschaftlichen Schäden in der Stadt waren immens. 350 Menschen waren allein in Théluan umgekommen. Auch die einzige Brücke über den Fluss war zusammengebrochen.

Viel schlimmer hatte es die Weltkulturerbe-Stadt Cusco getroffen, die auf der abgewandten Seite des Epizentrums lag. Dort waren über 15.000 Menschen gestorben. Eine ganze 350.000-Einwohner-Stadt war jetzt ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Wasser und ohne Nahrung. Es war schlimmer, wie die Auswirkungen nach einem Flächenbombardement.

Théra hatte sich unmittelbar nach dem Ausbruch des Vulkans mit ihrer „zweiten Mutter“ Laura in Berlin kurzgeschlossen. Laura hatte als Geschäftsführerin der mächtigen „Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente“ die nötigen Verbindungen, um eine weltweite Hilfsaktion zu starten. Während Papa in Peru die nationale Hilfe auf den Weg brachte, waren Théra und Laura in Berlin damit beschäftigt, die internationale Hilfe zu organisieren, soweit sie das konnten. Théras zweite Mutter Laura hatte sofort alle ihre Musikerfreunde um Mithilfe gebeten. Sie setzte sich mit dem Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, dem Fernsehen und mit politischen Organisationen zusammen.

Eine große Hilfe war die Unterstützung durch Théras Tante Fatima und die Hilfe von Théras Halbbruder Jens Faruk gewesen. Er hatte die Idee, dieses Lied zu komponieren, das in den Folgewochen überall auf der Welt zum Symbol für die Zerstörung und den dringenden Wiederaufbau der Region wurde, und alleine in den ersten zwei Wochen der Kampagne über 100 Millionen Euro in die Kassen des Hilfsfonds spülte.

Théra selbst war schon zwei Tage später wieder nach Peru zurückgekehrt. Dort hatte sie sich der Öffentlichkeitsarbeit gewidmet. Sie war zu diesem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt, aber sie hatte diese besondere Gabe, um Menschen zu überzeugen. Sie trat im Fernsehen auf, sie sprach mit Zeitungen und dem Rundfunk. Sie holte ihre Schwester Clara zu Hilfe, die mit ihren blonden Locken und ihren blauen Augen in die Fernsehkameras weinte, und dann den Menschen Mut zusprach. Théra war in ihrer Familie nicht das einzige Ausnahmetalent.

Die blonde Clara hatte einen unglaublichen Erfolg bei den Menschen. Überall in Peru und in den Nachbaarstaaten wurde jetzt Hilfe organisiert. Viele Indios und viele Weisse schlossen sich zu einer wahren Bewegung für den Wiederaufbau zusammen. Cusco und Théluan waren immerhin nationale Kulturdenkmäler von internationalem Rang, und Cusco war darüberhinaus Provinzhauptstadt mit einer bis dato immensen wirtschaftlichen und religiösen Bedeutung.

Vor Ort waren eigentlich Théras Vater und ihr jüngerer Bruder Pesa die Initiatoren dieser Bewegung gewesen. Théra organisierte zunächst „nur“ die Öffentlichkeitsarbeit.

Die Stiftung erhielt das Privileg zur Verteilung der Hilfsgelder. Papa hatte Gelder für den Wiederaufbau von tatkräftiger Mithilfe abhängig gemacht. Keine Agonie, hatte er gefordert. “Spuckt in die Hande, packt an. Ihr könnt weinen, das Recht zur Trauer steht euch zu, aber ihr könnt auch arbeiten. Tut etwas für eure Zukunft.”

Théra und Clara baten über Fernsehen und Rundfunk überall um Mithilfe. So entstand eine regelrechte Euphorie des Wiederaufbaus.

Théras kleiner Bruder Pesa bewies sich als Praktiker und Organisator. Er und seine Indios aus der Siedlung, die in den letzten zwei Jahren so viel Spaß an Architektur und an Bauprojekten entwickelt hatten, organisierten die Hilfe vor Ort. Sie machten sich ihre Erfahrung zunutze.

Für alles, was das Bauen und Organisieren anbetraf, hatte der erst 10 Jahre alte Pesa ein unglaubliches Talent. Er hatte nicht die Fachkenntnis eines Ingenieurs, aber er war überzeugend und konnte Aufgaben zuteilen. Er hatte das richtige Gespür dafür, wer an welchem Platz gerade gebraucht wurde, denn auch er verfügte bereits über die geheimen Kräfte der Familie, wenn auch auf etwas anderen Gebieten als Théra und Clara.

Pesa wuchs in diese selbstgewählte Aufgabe regelrecht hinein. Er und seine vielen Freunde aus der Indiosiedlung sprachen sich für einen erdbensicheren Wiederaufbau aus. Sie halfen, wo sie konnten, durch eigene tatkräftige Mitarbeit, vor allem aber durch die Organisation der Hilfe durch andere. Die Bevölkerung der Region hatte bald einen eigenen Namen für sie gefunden: „Die Bau-Kids“. Nun ja. Eigentlich nannte man sie auf spanisch voller Hochachtung die „Grupo architectura del kids“.

Es war ein Phänomen. Die indianischen Kids im Alter zwischen sechs und achtzehn waren wie eine eingeschworene Gemeinschaft. Ihre Energie und ihre Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Sie organisierten Lastwagen und Baumaterialien. Sie sprachen mit Hausbesitzern und Banken. Sie redeten mit den Obersten der Hubschrauberbrigaden und der Bodentruppen. Sie überzeugten Baufirmen und Handwerker. Wenn sich Widerstand zeigte, blieben sie freundlich, aber sie waren hartnäckig wie die Schmeißfliegen. Sie sprachen immer wieder vor, und sie hatten stets neue überzeugende Ideen.

Sie gingen mit Mauleseln und Werkzeugen hinauf auf die Hochebene und halfen den Indios beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser. Sie sprachen mit wohnungslos gewordenen Menschen. Sie redeten mit Jugendlichen, die nach den ersten Zerstörungen in Cusco angefangen hatten Leichen zu fleddern und in den Trümmern der Häuser zu wühlen, um zu plündern. Sie überzeugten diese Jugendlichen, beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Sie setzten sich dafür ein, dass straffällig gewordene und von der Polizei aufgegriffene Jugendliche verschont wurden, wenn sie soziales Engagement zeigen. Sie initiierten in der zerstörten Stadt Cusco weitere solcher Hilfsgruppen aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Im Südosten Perus entstand eine aktive indianische Bewegung, die sich nicht nur um zivile Projekte und die Infrastruktur kümmerte, sondern eben auch für die notwendigen Reparaturen an den antiken indianischen Kultstätten. Es ging nicht nur um Wohnungen, Decken und Essen, es ging auch um die Bewahrung der historisch gewachsenen Kultur eines ganzen Kontinents. Plötzlich begann man das indianische Erbe der Inkas in Cusco und der Thé Krieger in Théluan ganz neu zu definieren. Dieses historische Erbe war es, was dieses Land so einmalig machte. Man konnte sogar von der Wiege der südamerikanischen Kultur sprechen. Die Zeugnisse dieser Hochkulturen durften nicht untergehen.

Die Schulen in der kleinen Stadt Théluan waren während des Bebens zum großen Teil zerstört worden. Während professionelle Baufirmen die Schulen wiederaufbauten (Gesetze und Verordnungen verboten es den Kids, dort mitzuhelfen), hatten die Lehrer die Schule unter Zeltdächern ins Freie verlegt. Einige von Ihnen hatten beschlossen, die Bau-Kids auf die Hochebenen und nach Cusco zu begleiten. Allen voran die neu eingestellten Polytechnik-Lehrer und die Betreuer aus der Indiosiedlung.

Auch in Cusco entstand ein völlig neues Lernsystem. Die Lehrer halfen den Kids bei ihrer Arbeit. Sie lebten mit ihnen zusammen in Zeltstädten und organisierten Verpflegung oder Transportmittel. Einmal am Tag zogen sich alle zurück und lernten gemeinsam. Bald nahmen auch die Kids aus Cusco daran teil. Sie besprachen Bauprojekte und lernten Pläne lesen. Sie lernten schreiben und rechnen an konkreten Projekten.

Weil die Gebäude der Stadt weitgehend zerstört oder einsturzgefährdet waren, entwickelten sich die mobilen Schulen unter freiem Himmel. Anderswo gibt es so etwas wie Projektunterricht. Dies hier war ein Lernen direkt im Alltag und unter den Bedingungen der durch das Erdbeben zerstörten Region.

In Cusco gab es fast nichts mehr. Kein Wasser, keine Nahrung, kein Haus, keine Matratze und an Kleidung nur das, was man auf dem Leib trug. Alles, was man zum Leben brauchte, musste erst einmal organisiert werden.

Es gab Berge von Schutt. Hunderte Verschüttete mussten mit Spürhunden mühsam aufgefunden werden. Tausende von Leichen mussten begraben, und die drohende Cholera-Gefahr musste gebannt werden. Der Ministerpräsident verhängte kurzerhand den Ausnahmezustand über die Region und erließ in Cusco ein nächtliches Ausgehverbot, das nur für Hilfskräfte mit Passierschein aufgehoben wurde. Wie gut, dass er das Militär in Bewegung gesetzt hatte. Ohne die Hubschrauber, die Lastwagen, das schwere Räumgerät und die disziplierte Hilfe des Militärs hätten die Überlebenden und Verletzten das nie geschafft. Théra hatte das alles hautnah erlebt.

 

Besser war das in Théras kleiner Stadt Théluan. Dort hatte das Militär unter der Leitung des Kathastrophenschutzes von Anfang an alles im Griff. Die Indianische Mehrheit der Stadt organisierte unter der Führung durch Théras Mutter eine flächendeckende Hilfe. Sauberes Wasser hatten sie genug, und ärztliche Hilfe wurde in eilig aufgebauten Zelten garantiert, die Théras Mutter Alanque zusammen mit einem Team aus Ärzten und Sanitätern aus Deutschland einfliegen ließ.

Aus dem Ausland trafen bald weitere Hilfsgüter und Spezialisten ein. Kleidung und Schuhe, Zelte, Decken, Suppenküchen, Wasseraufbereitungsanlagen, Medikamente, Stromgeneratoren, Säcke mit Mehl, Bohnen und Reis, Sanitäter, Ingenieure, Katasthrophenhelfer und Ärzte.

Die Baukids hatten viel zu tun. Zusammen mit dem Militär waren sie bei der gesamten Hilfe federführend. Auch das war nur möglich, weil sich der Ministerpräsident für diese Gruppe und den Wiederaufbau einsetzte. Er besprach sich mit seinen militärischen Beratern. Der Großteil des Wiederaufbaus würde zwar durch Pioniereinheiten, Baufirmen und professionelle zivile Gruppen erfolgen, die dem Kathastrophenschutz unter Théras Vater Dennis unterstellt wurden, aber die Hilfe der Baukids war so etwas wie die Seele des Wiederaufbaus.

Die Mithilfe der betroffenen Bevölkerung war mindestens genauso wichtig. „Wir wollen hier kein Gefühl von Hoffnungslosigkeit“, verkündete der Ministerpräsident über den Rundfunk. „Wir brauchen jeden, der zwei Arme und zwei Beine hat, um zu helfen“. Der Ministerpräsident war ein gewiefter Taktiker. Er würde gewinnen, wenn er sich als populärer Präsident des Volkes bewies und eine Vorbildfunktion einnahm. Er traf mit seiner Beschwörung mitten in die Volksseele. Er fand Unterstützung bei der Landeskirche. In Cusco waren auch alle Kirchen und das Kloster zerstört worden, wie schon in den Jahren 1650 und 1950 zuvor. Diesmal war aber alles anders, denn Théras Vater organisierte mit Billigung des Präsidenten die Hilfe mit Weitblick und Zivilcourage.

In der Schule der Kids gehörten Ausdruck und Sprachgewandtheit zum Unterricht. Man musste mit Erwachsenen verhandeln, sie um Mithilfe bitten, oder sie freundlich überreden. Es gab viele soziale Projekte, wie die Versorgung von Kranken und die Betreuung von Kindern, die bei dem Beben ihre Eltern verloren hatten.

Viele der Indiomädchen aus Théras Viertel hatten sich dieser Gruppe spontan angeschlossen. Sie gingen in die zerstörten Krankenhäuser und sie organisierten Kinderbetreuung unter freiem Himmel. Sie gingen zu überlebenden Indios und weißen Schülern, brachten sie dazu, eigene soziale Gruppen zu bilden und hielten die Kommunikationsverbindungen aufrecht.

Man brauchte für diese Aufgaben in Cusco viel neues Wissen. Die Lehrer lernten in dieser Zeit mindestens genauso viel, wie die Schüler. Es war eine gewaltige Zweckgemeinschaft.

Théras Onkel, der Ministerpräsident des Landes, hatte in einer öffentlichen Ansprache an die Solidargemeinschaft aller Peruaner appelliert. Er hatte um jede erdenkliche Hilfe gebeten. „Manchmal müssen wir die bürokratischen Hürden überwinden, wenn schnelle Hilfe geboten ist“, hatte der Ministerpräsident gefordert. Das war natürlich auch eine indirekte Aufforderung an alle Abzocker, sich da jetzt einzumischen (auch wenn der Ministerpräsident das so nicht wollte), aber Dennis war sehr rigide, um unberechtigte Ansprüche abzuwehren, und die Schar der Krisengewinnler möglichst klein zu halten. Ganz war der organisierte Betrug in dieser Situation allerdings nicht zu verhindern, zumindest nicht in Cusco.

Während Théras Vater Dennis und viele Helfer die Hilfe in Cusco mit Absicherung durch das Militär organisierten, hatte Théras Mutter Alanque die Aufgabe übernommen, den Wiederaufbau in Théluan zu überwachen. Als Leiterin der Ausgrabung und als Direktoriumsmitglied der Stiftung besaß sie die nötige Position, um sich Gehör zu verschaffen. Dennis schlug sie als stellvertretende Leiterin des Katastophenschutzes vor. Alanque hatte längst einen guten Draht zum Ministerpräsidenten des Landes, und der hatte bestimmt: „Sie organisieren das jetzt. Ich weiß, Sie können das. Wenn es Probleme gibt, dann rufen Sie mich an. Auch die Pioniere und der zuständige Oberst in Ihrer Stadt werden Ihnen unterstellt. Sie haben die zivile Leitung für den Wiederaufbau in Théluan und die Versorgung der Menschen mit Trinkwasser und Nahrung. Die Stadt ist unser wichtigstes Aushängeschild für die Weltöffentlichkeit. Machen Sie was aus der Situation.“

Der Oberst der ursprünglich zum Schutz der Ausgrabung bestellten Brigade arbeitete seit Jahren vertrauensvoll mit Théras Mutter zusammen. Alanque bildete aus ihren indianischen Arbeitern zwei Gruppen. Eine musste die Schäden in den freigelegten Arealen der historischen Ausgrabung begutachten und beheben, die andere wurde eingesetzt, um in der Stadt mit anzupacken.

Schnell hatten die Zeitungen und das Fernsehen des Landes dieses Théma aufgegriffen und sie berichteten mit bewegenden Bildern über diese tatkräftige Jugendgruppe aus Buben und Mädchen, die Zerstörungen und den Wiederaufbau. Aus New York kamen etliche Vertreter der UNESCO angereist, um sich die Zerstörungen am Weltkulturerbe in Cusco und Théluan anzusehen. Sie waren so beeindruckt von der Arbeit der „Grupo Architectura del Kids“, dass sie für den sachgerechten Wiederaufbau der Weltkulturstätten sofort eine Summe von zwei Millionen Dollar auftrieben, obwohl die Kassen ziemlich leer waren.

Viele Architektur- und Ingenieurstudenten schlossen sich Pesas und Alanques Gruppe an. Die freiwillige Arbeit wurde ihnen in ihrem Studium als Praktikum anerkannt. Lehrerstudenten, Schwesternschülerinnen und andere konnten ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, das ihrer Ausbildung gutgeschrieben wurde und sich in den Zeugnissen positiv niederschlagen würde. Die schwere Winterarbeit würde sogar doppelt honoriert werden. Der Ministerpräsident hatte sich eigenhändig dafür eingesetzt.

Die „Grupo Architectura del Kids“ war schon lange keine ethnische Gruppe von Indios mehr. Viele weiße Jungen und Mädchen waren jetzt Teil dieser Bewegung für den nationalen Wiederaufbau Südost-Perus, wie das in den Zeitungen genannt wurde.

Über den Winter würden viele Arbeiten klimabedingt weitgehend eingestellt werden müssen. Dann begann die wirklich harte Arbeit um das langfristige Überleben der obdachlos gewordenen Menschen. Im Frühjahr würde Pesas Organisation diese erfolgreiche Projektarbeit dann fortsetzen.

Auch in der kleinen Stadt Théluan würde die Schule in Zukunft nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Erfahrungen der Schüler waren Gold wert, und die Lehrer nahmen sich vor, die gemeinsamen Erfahrungen über den Winter in einem Buch zusammenzufassen, um das „Lernen im Projekt“ - wie sie das nannten, als Idee für andere Schulen anzuregen.

Viele obdachlose Kinder aus Cusco wurden über den Winter von Familien in Théluan aufgenommen. Die Siedlung der Indios wuchs schlagartig um 800 Kinder und Jugendliche an. Jede Familie nahm mindestes ein Kind auf, damit es ein Dach über dem Kopf hatte. Eine wahre Herausforderung für Eltern, Lehrer und Schüler.

2.

All das hatte auch einige Unruhe im Land ausgelöst. Die Indios fanden plötzlich Gehör. Der Ministerpräsident setzte sich für sie ein. Man sprach über die soziale Lage. Die Fernsehsender verbreiteten immer wieder eine indianerfreundliche Stimmung, ja Bewunderung. Das war nicht normal.

Die Weißen beherrschten in Peru das politische und wirtschaftliche Geschehen. Nicht alle spanischstämmigen Weißen waren mit dieser Entwicklung einverstanden. Es gab wichtige Männer und Frauen, für die Indios immer noch als „unwertes Leben“ galten, oder jedenfalls als Volk, das der herrschenden weißen Kaste an Intelligenz und Machtstreben weit unterlegen war. Indios konnte man benutzen. Sie leisteten Garten- und Hausarbeit, man konnte sie in die Bergwerke schicken und körperlich gefährliche Arbeiten verrichten lassen, und man konnte ihnen den Job jederzeit wieder wegnehmen. Die Indios machten das Geldverdienen einfacher, solange sie keine politische Stimme und keine Interessenvertretung hatten. Es hatte in der Vergangenheit sogar Zwangssterilisationen gegeben, um diese Bevölkerungsgruppe zu dezimieren.

Man wollte Schürfrechte und Land, aber man wollte den Indios nichts für die Nutzung ihres Landes zahlen, für das es nicht einmal eingetragene Rechte gab, sondern nur einen historischen Anspruch, der nicht einmal in den Grundbüchern stand. Dann war jedoch diese historische Stadt entdeckt worden, und die Großgrundbesitzer hatten nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sich daran privat zu bereichern, weil die Stiftung von Théras Eltern dort alles kontrollierte und für eine vertragliche und gerechte Verteilung der Funde zwischen den Staaten Peru, Bolivien und der beteiligten Stiftung aus Berlin sorgte.

An solchen Katastrophen wie diesem Erdbeben konnte man viel Geld verdienen. Hilfgelder konnten unterschlagen werden. Man konnte überteuerte Serviceleistungen berechnen, man konnte minderwertige Baumaterialien verwenden und teuer verkaufen. An so einem Unglück konnte man mit etwas Geschick sehr reich werden. Leider machte ihnen der Ministerpräsident einen Strich durch die Rechnung. Das Militär hatte strikte Anweisungen. Fast alle Hilfsgelder liefen über diese Stiftung in Théluan und an diesen Direktor der Stiftung (Théras Vater Dennis) war nicht ranzukommen. Er galt als unbestechlich. Jedes einzelne Angebot und jede Rechnung wurde genau geprüft und die Arbeit und die Zusammensetzung der Baumaterialien wurde überwacht. Deutsche Gründlichkeit mochte ja etwas Positives sein, aber in dieser Konstellation fand man das als lästig.

Der Ministerpräsident des Landes war der führende Kopf der konservativen Partei, aber der gegenwärtige Kurs des Ministerpräsidenten war ihnen zu indianerfreundlich. Er kollidierte mit den egoistischen Gewinninteressen einiger wichter Familien. Eine konservative Volkspartei zu sein, bedeutet ja nun nicht, dass man auch eine Politik für die Indios in diesem Land machen musste. Jedenfalls konnte man doch nicht von der weißen Elite verlangen, dass sie ihre ererbten Privilegien der ungezügelten Bereicherung einschränken oder gar aufgeben müssten. Der Ministerpräsident stellte jetzt offensichtlich einige ihrer innersten Werte auf den Kopf, auch wenn sie sachlich noch nie zu rechtfertigen gewesen waren.

Einige dieser Familien hatten sich in Théluan sogar Grundbesitz gesichert. Sie hatten von dem Bauboom profitiert, manche als Makler oder als Finanzdienstleister, aber sie hatten in den letzten Jahren auch zusehen müssen, wie die Indios in dieser kleinen Stadt immer selbstbewusster wurden. Da musste man gegensteuern. Man wollte die Ausgrabung der „Heiligen Stadt“ in Théluan nicht unbedingt behindern. Sie lieferte ungeheuer viel Geld in die Staatskasse, aber die Familien wollten an diesem Ausgrabungsboom kräftig mitverdienen. Es gab da viele potenzielle Möglichkeiten, wie Leiharbeit, Unterschlagung oder auch Diebstahl. Nur blöd, dass diese Stiftung von Dennis ein Machtfaktor war, an dem man in Théluan nicht vorbeikam. Diese Stiftung musste aus der Sicht dieser Leute eine andere politische Richtung bekommen. Dieser Dennis und diese Leiterin der Ausgrabung, diese Indianerin Alanque mussten weg. Man hatte bereits mehrfach versucht, sie zu verunglimpfen, indem man ihnen Unsauberkeiten in der Abrechnung und illegale persönliche Bereicherung vorwarf, aber das hatte nichts geholfen. Aus dem Nachbarland Bolivien (einem Land, das von der Beteiligung an der Ausgrabung in Théluan genauso profitierte, wie Peru selbst) hatte es lautstarke Proteste gegeben. Der peruanische Präsident hatte sich durch die Vorwürfe aus dem eigenen Land sogar angegriffen gefühlt, und er hatte diese Unterstellungen schließlich unterbunden. Dem Landesrechnungsamt lagen Beweise vor, dass die Stiftung korrekt abrechnete.

Dieser Präsident hatte sich in den Augen dieser Ultrakonservativen zu weit aus dem Fenster gelehnt. Er war nicht mehr tragbar. Auch er musste weg.

 

Während der Wiederaufbau organisiert wurde, entstand eine wirklich gefährliche politische Bewegung. Sie war anfangs zahlenmäßig relativ klein, aber sie war mächtig, weil sie viel altes Geld vertrat. Es gab immer mehr Minister, hohe Beamte, Militärs, Polizisten, Richter, Journalisten und Fernsehleute, die jetzt den heimlichen Widerstand gegen diesen Ministerpräsidenten und gegen Dennis Stiftung organisierten. Popularität hin, Popularität her. Diese Art von Volkstümlichkeit wollten sie nicht mehr länger dulden.

Alles war schlimmer geworden mit dieser unseligen Heirat zwischen Sofia (der Tochter des Ministerpräsidenten) und diesem Mischling, diesem Para, der als Sohn von Dennis galt. Das war ein falsches Signal gewesen. Mochte der noch so geschickte Hände mit der Zucht und mit der Heilung von Pferden haben. Man hätte das verhindern müssen.

Ein Putsch dieser Ultrakonservativen hätte zu diesem Zeitpunkt diese ganze Solidargemeinschaft in Théras Tal in ernste Schwierigkeiten gebracht und nicht nur das. Die Drahtzieher scheuten nicht vor Mord und Totschlag zurück, wie das oft so ist, und sie warteten auf einen günstigen Zeitpunkt, um loszubrechen und die Macht im Land zu übernehmen. Ein einzelner Mord würde da nicht helfen, obwohl man solche Pläne bereits in der Schublade hatte. Dennis, Alanque und dieser Para standen bereits im Fadenkreuz. Killer waren bereits angeheuert. Man musste diese Sache nur noch gut organisiert durchziehen.

Die Bewegung rekrutierte sich aus Mitgliedern der konservativen Volkspartei. Der Widerstand gedieh heimlich, und die Gruppe gewann immer mehr (weiße) Anhänger, die im Untergrund schwerbewaffnete Milizen bildeten, und versuchten, neue Anhänger beim Militär und in der Polizei zu rekrutieren.

Sie hatten den Ministerpräsidenten lange gestützt. Er war ja durchaus kein Mann der Milde. Er hatte seine Karriere mit Weitsicht, mit Härte und Durchsetzungsgefühl geplant und organisiert. Dieser Präsident war ein gewifter Taktiker, und ein gefährlicher Mann mit vielen Verbindungen und viel Unterstützung bei den wichtigsten Militärkommandanten. Man musste vorsichtig sein.

Die Bewegung wollte die Partei nicht spalten. Sie wollte die Macht in einem Staatsstreich übernehmen, und es schien notwendig zu sein, dies bald zu tun. Man würde versuchen, die Macht mit einem Schlag und mit brutaler Gewalt an sich zu reißen. Man musste nur noch einige führende Militärs und Polizeichefs überzeugen, dann würden sie ihren Überraschungsangriff starten, und dann würden sie alle die Gegner mit einem großen Rundumschlag niedermachen. Man würde jedoch damit warten, bis die ausländischen Pressevertreter das Land wieder verlassen hatten, die nach dem Beben in der Region Cusco zu Hunderten herumschwirrten wie die Schmeißfliegen, um ihre Bilder zu machen.

3.

Als Erste hatte die Frau von Théras großen Halbbruder Para damals die Gefahr durch die Ultrakonservativen erkannt. Das war bereits, als sie Para geheiratet hatte. Para war ein Mestize (der Sohn einer Buschindianerin und eines Weißen) und Sofia hatte bemerkt, dass viele Parteifreunde ihres Vaters mit dieser Hochzeit nicht einverstanden waren. Das galt vielen als „Rassenschande“. Dabei war diese Einstellung völlig verlogen. Die weiße Elite hatte durchaus keine Bedenken, ein Indianermädchen zu schwängern, aber für weiße Frauen der gesellschaftlichen Elite galt es als Tabu, einen Indianer oder einen Mestizen zu heiraten. Das gehörte sich einfach nicht. Sofia hatte sich über dieses Tabu hinweggesetzt. Sie hatte sich über dieses “Gefühl” (denn anfangs war es nur ein Gefühl) mit ihrem Mann und mit ihrer Mutter besprochen, aber es dauerte, bis der Ministerpräsident des Landes über einige sichere Erkenntnisse verfügte. Die Gegner waren sehr vorsichtig. Viel wusste er nicht, und er kam mit seinen Nachforschungen nicht weiter.

Einige Wochen nach dem Beben hatte sich Sofias Vater schließlich vertraulich an Dennis gewandt. Vielleicht könne der in dieser Angelegenheit helfen. Das war vielleicht gerade noch rechtzeitig. Nach einem langen Gespräch im Familienkreis über die drohende Gefahr im Lande hatte Théra die Initiative ergriffen. Sie setzte sich dafür ein, dem Onkel beizustehen, und Théra nahm sich eine Auszeit, um diese Hilfe zu organisieren. Im Nachhinein gesehen, war es Théras Entschlossenheit, die ihrer Familie letztlich das Leben rettete.

Sie bat ihre Geschwister um Unterstützung. Ihre Schwestern Clara und Eva, ihre Brüder Pesa und Nils und ihre Halbschwester Ana Théla. Sie hatten alle diese übernatürlichen Fähigkeiten, die auch Théra hatte. Vielleicht nicht alle, aber doch die meisten. Nur Raoul Pelé war noch zu klein, und Théras kleiner Bruder Pesa entschuldigte sich. Er war fest in die Organisation der Grupo Architectura del Kids eingebunden. Er war unabkömmlich, aber er würde sich vorsehen.

Noch während Théra sich im Fernsehen für den Wiederaufbau einsetzte, und noch während ihr Bruder Pesa all diese Bautrupps in Gang setzte, widmete sich Théra bereits ihrer selbstgewählten Geheimaufgabe.

Théra und Ihre Geschwister setzten ihre Verwandlungskünste ein und sie fanden auf einem drei Monate dauernden „Feldzug“ heraus, dass da ein Putsch vorbereitet wurde. Sie mussten lernen, dass ihre Familie als Feind dieser Menschen galt. Sie fanden heraus, wer zu dieser innerparteilichen Opposition gehörte.

Théra und ihre Geschwister hatten das nicht ganz ohne die Hilfe und Erfahrung von Papa und ihrem großen Bruder Para zu Wege gebracht, aber die beiden Erwachsenen leisteten ihnen in dieser Sache nur Starthilfe, und halfen hin und wieder bei der Analyse von Fakten und Daten. Dennis und Para hatten ohnehin mit dem Wiederaufbau alle Hände voll zu tun. Sie vertrauten Théras Instinkt.

Sofia und ihre Mutter (die Frau des Ministerpräsidenten) waren für Théra eine grosse Hilfe. Sie hatten einen Anfangsverdacht. Sie nannten Namen. Sie kannten Orte, wo sich solche Leute gewöhnlich treffen. Golfclubs, Offiziersclubs, Presseclubs, Tennisclubs, einige Privatwohnungen und die Hinterzimmer einiger Cafés in der Hauptstadt.

Die ganze Spionageaktion war aber letztlich ganz die Angelegenheit der Kinder. Sie waren die Aktivisten bei diesem „Feldzug“. Es war ihr „Gesellenstück“.

Sie verwandelten sich in Tiere. Sie hörten Telefongespräche mit, sie wohnten, unsichtbar für ihre Gegner, geheimen Versammlungen bei. Sie fanden Bankverbindungen heraus, sie hörten, dass der Putsch an Ostern stattfinden sollte, wenn alle Verbindungen hergestellt sind, und wenn alle in der Kirche sind, oder bei den Prozessionen mitlaufen. Sie verrieten schließlich die Köpfe der Bewegung an Théras Onkel. Es war eine lange Liste von Namen.

Es war letztlich Glück, dass der Onkel sich Théras Argumenten beugte, auf sie hörte, und seine Geheimpolizei anwies, dieses Problem schnell und zügig zu lösen. Es war Glück, dass der Leiter dieser Behörde, ein Generaloberst Fernando Méndes auf der Seite des Ministerpräsidenten stand, und die Aktion so lange geheimhielt, bis sie zuschlugen.

4.

Der Ministerpräsident schickte seine Geheimpolizei in der Nacht des 24. Dezember aus. All die politischen Gegner in seiner eigenen Partei wurden verhaftet. Geheime Waffenlager wurden ausgehoben. Es gab keinen Haftbefehl und keinen richterlichen Erlass. Niemand wusste genau, was da passiert. Sie kamen mit Hubschraubern und schnellen Geländewagen. Überall im ganzen Land kreuzten plötzlich die schwarzen Garden in Begleitung von Mannschaftswagen und gepanzerten Fahrzeugen auf. Planen wurden zurückgerissen. Schwerbewaffnete sprangen heraus und stürmten Gebäude. Sie nahmen Menschen mit, sogar in Théras kleiner Stadt Théluan. Sie hatten gewartet, bis sich die Familien nach dem Kirchgang, nach den weihnachtlichen Gesängen und den Geschenken schlafen gelegt hatten. Dann hatten sie zugegriffen. Sie traten Türen ein. Sie zerrten Menschen aus ihren Betten. Sie rissen Telefonleitungen aus der Wand und beschlagnahmten Mobiltelefone und Laptops. Sie nahmen Schlüssel, Aktenordner, Notizbücher, Geld, Scheckkarten und Sparbücher mit. Sie waren brutal und untersagten jeden Hilferuf, oder gar die Einschaltung eines Anwaltes unter Androhung von Schlimmerem. Auch einige hohe Militärs und Geheimdienstoffiziere wurden Opfer dieser Maßnahme.