Die Suche nach der Identität

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Laura hatte Lust auf Honig Pops mit Milch. Dann aß sie Weißbrot mit Schinken und trank Tee dazu. Sie nahm Gurke und Tomate. Sie hatte richtigen Hunger. Dennis lächelte. Er strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr im Eifer über die Augen gerutscht war.

„Übrigens“, meinte Conny, „wir Mädels haben heute wegen dir die Schule geschwänzt. Morgen früh muss ich wieder da sein. Ich steh kurz vor dem Abitur. Du weißt wohl nicht mehr, was Schule bedeutet?“

„Oh doch“, hatte Dennis geantwortet, „aber anders, als du das denkst. Dort wo ich war, habe ich einige Schulen gegründet. Wir haben eine Schriftsprache entwickelt. Es wurde Schreiben, lesen und Rechnen unterrichtet. Für Erwachsene. Ich selbst habe so was wie eure Schule schon lange nicht mehr gesehn. Es gab anderes, das wichtiger war. Es war alles anders. Aber du bringst mich auf einen Gedanken.“

„Ich bin offiziell tot. Ich kann mir auch nicht vorstellen, so eine offizielle Schule noch mal zu besuchen, mit all den Zwängen. Aber die Schule der Kids - wenn es sie noch gibt - die würde ich gern besuchen.“

„Das ist kein Problem“, hatte Laura geantwortet. Bübchen, Moses und die anderen werden aus dem Häuschen sein, wenn sie dich wiedersehn’.“

Laura blieb über Nacht. Das Bett war eng. Es war ihnen egal. Sie lagen beieinander.

In dieser Nacht erzählte Dennis leise von seiner Reise zu den Théluan. Er war völlig offen und ehrlich. Er erzählte von Polia und der Königin. Er erzählte von seinen Kindern, die er geliebt hatte. Er erzählte von den Anden, dem Urwald, den Festen und den Kämpfen mit Puma, Bär und den Kriegern der Karancula. Er erzählte von der Steppe und auch von Handwerkern, den Abwassersystemen, den Adobebauten, den Hochzeiten, dem tiefen Winter, von den Steinen und von dem Gold.

„Du musst eins verstehen“, hatte er am Anfang gesagt, „das was ich dir jetzt erzähle, kommt dir vielleicht vor wie ein Märchen. Alles ist wahr. Es war eine komplett andere Gesellschaft. Danach wirst du vielleicht verstehen, dass es schwer für mich ist, mich hier wieder einzuklinken. Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich tot bin. Im Untergrund, mit den Kids, werde ich schnell wieder Fuß fassen. Ich bin froh, dass es euch gibt.“ Er fügte hinzu: „Ich bin froh, dass es dich gibt.“

Laura hörte zu. Sie staunte. Sie streichelte die Narben in seinen Handflächen. Sie stellte ein paar mal Fragen. Sie ließ Dennis reden. Sie saugte Dennis Informationen auf und sie war dankbar, dass er ihr alles erzählte. Sie liebte ihn dafür, dass er seine Kinder geliebt hatte. Dennis hatte ihr erklärt: „Vielleicht ist das komisch für dich. Aber dort beginnen die Mädchen im Alter von 12 ihre Kinder zu kriegen. Sie haben in ihrem kurzen Leben 10, 12 und manchmal 15 Kinder. Einige sterben. Andere leben und erhalten die Art. Du kannst das nicht vergleichen mit heute. Alles ist reduziert auf eine Zeitspanne von etwa 30, 40 oder 50 Jahren Leben. Ich selbst wäre dort sicher nicht älter geworden.“

„Manomann“, sagte sie gegen Ende. Das, was du erlebst hast, erleben andere ihr ganzes Leben nicht. Du kannst dankbar sein“. Dennis hatte genickt. „Ja ich kann dankbar sein. Ich bin Patrick sehr dankbar.“ Dann erzählte Dennis das erste Mal in seinem Leben von Patrick. „Das bleibt unter uns“, warnte er Laura. „Ich kann einiges kontrollieren, aber nicht alles. Ich bin nicht der Gott, den ich da unten gespielt habe. Dort hat mir Patrick das Leben gerettet. Hier ist die Welt anders.“

Laura hatte genickt.

Es wurde eine lange Nacht der Bekenntnisse. Denn auch Laura erzählte von sich. Von der Stiftung, von Allan und Susi. Von den Kids und von Connys Erfolgen. Sie erzählte Dennis auch von ihren Liebhabern. „Anders als bei dir, haben die mir nie etwas bedeutet. Das gehörte dazu, aber ich bin durch dich verwöhnt worden. Du warst nicht zu ersetzen, auch wenn wir vorher noch nie… .“

5.

Am nächsten Morgen ging Laura in die Schule. Es fiel ihr schwer, nach allem, was sie in dieser Nacht von Dennis gehört hatte. Dennis war dieser Schule längst entwachsen. Sie fühlte, dass sie eine Gefangene dieses Systems war. Dennis hatte das Privileg gehabt, all diesen Zwängen zu entwischen. Er hatte frei wie ein Vogel gelebt. Die Zwänge, die sich dort stellten, hatte er nur durch seine und die Kraft seines Bruders überwunden, und, das war Laura in dieser Nacht klar geworden, durch die Liebe zu den anderen Menschen. Nicht nur zu Polia oder der Königin. Es war die gegenseitige Liebe, die Dennis schon früher stets versprüht hatte. Er wirkte ansteckend. Sie war glücklich. Dieser Dennis. Er war etwas Besonderes. Sie würde es festhalten, dieses Glück, solange es ihr vergönnt war.

Sie hatte Dennis vorgewarnt. „Heute Nachmittag habe ich zu tun. Die Stiftung hat viele Aufgaben. Ich kann mich nicht entziehen. Heute Abend bin ich wieder da.“

Auch Conny ging zur Schule. Als sie mittags kam, setzte sie sich erst mal hin, und büffelte englische und französische Vokabeln. Sie hatte Algebra und Rechenaufgaben. Dennis hatte ihr eine Weile zugeschaut und sich dann unsichtbar gemacht. Um halbvier kam Conny in Dennis Zimmer. Sie sah, dass Dennis ihr ein leeres Heft und verschiedene farbige Stifte geklaut hatte. Er zeichnete.

Sie setzte sich neben ihn und schaute ihm zu. Sie ließ sich erklären, was es war. Pyramiden, Lamas, Bär, Trachten, Masken und Krieger. Dennis war nicht der beste Zeichner, aber er hatte Talent. Er hatte das nie zuvor gemacht. Er kämpfte mit der Technik. Aber die Figuren und Gegenstände flossen klar und deutlich aus seiner Vorstellung auf das Papier.

Dann sagte Dennis: „Noch etwas. Die Musik. Hör mal zu… .“ Er erzählte von den Musikgruppen, von den Instrumenten, von schrillen, schrägen, lustigen, fröhlichen und kämpferischen Liedern. Er erzählte von den Festen und den Hochzeiten. Von Tanz und Orgien. Er merkte, dass er Conny faszinierte.

Dann hatte Dennis eine Idee. "Du hast doch eine Geige hier." Hol sie mal her. Dann begann er Conny leicht zu dirigieren. Spiel irgendein Stück. So jetzt versuch das mal fröhlicher. Noch fröhlicher. Steigere das bis zur Ekstase… und jetzt mach es traurig, wie bei einem Todesfall…

Sie wurden unterbrochen. Trifter ließ sich ankündigen.

Er hatte schnell gehandelt. „Das Gold ist weg“, sagte er. „Die Achate, die Topase und die Smaragde auch. Das waren wertvolle Steine. Alles zusammen gerechnet hat das 160.000 gebracht. Viel mehr, als ich vermutet hatte. Die Qualität ist einmalig. Die Händler waren begeistert. Sie haben gefragt, wo das her ist. Sie wollen mehr. Das Gold war reine 999er Qualität. Besser geht’s nicht. Ich habe für dich ein Konto angelegt. Auf meinen Namen. Hier hast du 5000. Das sollte fürs erste reichen. Außerdem habe ich dir eine Monatskarte gekauft.“

Er fuhr fort, „die andern Sachen hab ich den Safe gelegt. Ich weiß, wer solche Gutachten macht. Morgen geh ich dahin. Einen der Brillianten habe ich prüfen lassen. Der Gutachter war außer sich. Das ist ein ganz seltenes Stück. Er wusste, dass so etwas am Hofe der spanischen und portugiesischen Könige zu finden ist. Es gehört dort zum Kronschatz. Ich habe ihm gesagt, dass der Stein unverkäuflich ist, und ich habe ihm versichert, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Er wollte sich nicht festlegen, aber er hätte mir für den Kleinsten der Steine sofort 100.000 gegeben. Bar auf die Hand. Es gäbe dafür im Moment keinen Markt, aber wenn man diesen Stein ordentlich einführt, würde er mehr bringen als jeder lupenreine weiße Diamant. Er war sich sicher. Allerdings müsste man ihn umschleifen, hatte er gesagt.“

„Noch etwas: Die Sache mit den Papieren hab ich „dem Dicken“ überlassen. Er will ein Foto von dir. Das Ganze ist eine knifflige Sache. Es wird eine Weile dauern, wenn du die Existenz eines Verstorbenen annehmen willst. Ich soll dir ausrichten, nur falsche Papiere auf einen Phantasienamen sind unproblematisch, die kannst du in einer Woche haben. Das kostet inclusive Führerschein 15.000. Also, was sagst du?“

„Trifter“, sagte Dennis, „du bist der Beste. Ich möchte dir danken. Phantom-Papiere will ich jetzt nicht. Wenn du erlaubst, werde ich eine Weile untertauchen zu den U-Bahnkids. Zu Conny kann ich hoffentlich immer kommen, wenn sie nicht grade ein Konzert hat.“

Er sah, dass Conny nickte. „Noch etwas. Ich hab gestern mit Laura über die Schule gesprochen. Ich bin offiziell tot. Außerdem hab ich zu viel erlebt, um das noch einmal anzufangen. Aber ich möchte in die Schule der Kids gehen, wenn es die noch gibt. Ich kann einiges dazu beitragen, glaube ich.“

Trifter war hocherfreut. „Abgemacht. Aber bleib vorerst hier, solange Conny es dir erlaubt. Ich freue mich auf dich. Alle werden sich freuen.“ Er verabschiedete sich. Er hätte noch zu tun. Es gäbe noch zwei Abendseminare.

Conny erklärte Dennis, dass Trifter studierte. „Er lässt sich etwas Zeit. Er hat zu viele andere Aufgaben, aber es läuft ihm nichts weg. Trifter wird nie in die Verlegenheit kommen, um einen Job zu bitten. Er könnte jeden Job haben. Auch jetzt schon.“

Dennis lächelte. Er hatte nichts anderes erwartet.

Dann nahmen sie ihre Übungen wieder auf.

„So, sagte Dennis. „Das letzte Stück noch mal. Dann versuch es kämpferisch zu spielen, als wolltest du einer 5000 Mann starken Armee Mut zum Kampf einflößen.“ Er hörte zu. Er korrigierte. Er ließ manche Stücke noch mal und noch mal und noch mal spielen.

„Ich sehe, dass du begreifst. Deine Stücke da. Sie sind viel zu einseitig. Musik ist viel mehr als das. Deine Komponisten haben die Stücke für bestimmte Stimmungen geschrieben. Höfischer Tanz, kirchliche Rituale, bürgerliches Spektakel, so etwas. Vielleicht auch nur, um zu zeigen, was sie drauf haben. Ich habe gelernt, dass Musik Leben bedeutet. In all der Bandbreite. Es kann jede kleine und große Gruppe in bestimmte Richtungen beeinflussen. Du bist der Dirigent. Wenn dir das gelingt, dann bist du frei.“

 

„Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Südamerika. Besorg mir auch Unterlagen über die Musik in andern Ländern. In Afrika, Asien, den Steppen Russlands und Sibiriens. Ich will mehr darüber wissen.“

All das hatte Conny längst auch gewusst, aber sie hatte dieses Klangerlebnis dennoch nie gefunden. Dennis zeigte ihr das Ganze in einer Klarheit und Deutlichkeit auf, die verblüffend einfach schien.

„Ich habe alle Konzerte bis zu meinem Abitur aufgeschoben. Aber lass uns jeden Tag üben, wenn du willst. Ich bin froh, wenn du mir zuhörst und mich korrigierst. Ich habe auch meinen Geigenlehrer. Er kommt manchmal. Du kennst ihn.“

Es war ein langer Nachmittag geworden. „Ich bin müde“, hatte Conny gesagt. Es waren viele neue Ideen. Ich muss das erst noch verarbeiten. Ich brauche meinen Nachtschlaf. Morgen ist wieder ein anstrengender Schultag. Lass uns etwas essen."

Noch in ihren Vorbereitungen kündigte sich Laura an. Sie war glücklich, die beiden Freunde zu sehen, aber auch sie war müde. Sie aßen etwas, dann sagte Dennis. „Ich muss raus hier. Ich weiß, dass ich keine Papiere habe, aber ich werde mir zu helfen wissen. Trifter hat mir eine Monatskarte gegeben. Ich kann überall hin. Wollen wir ein wenig laufen? Es ist noch lange hell. Vielleicht an den Müggelsee?” Laura war einverstanden. Vielleicht war es genau das, was sie jetzt auch brauchte. Sie nahmen einen Schlüssel vom Bord (Laura kannte den Platz) und sagten der Wache Bescheid. Dann verließen sie das Haus. Es wurde eine schöne Nacht.

Der Himmel war sternenklar - zumindest für Berliner Verhältnisse. „Du hättest einmal den Himmel da unten sehen sollen“, sagte Dennis. „Das hier über uns ist nur ein trüber Abklatsch. Dann zeigte er Laura einige Sternbilder. „Die Menschen da unten haben sich ganz nach Sternen und der Sonne gerichtet. Sie hatten Kalender, die über viele Jahre im Voraus für jeden Tag genau den Sonnenaufgang und Untergang festlegten. Wir brauchen dafür einen Chronometer und so ein Zeug. In diesen Sachen waren uns die Indios weit voraus.“

Dann hatte Dennis gesagt „Ich werde noch ein paar Tage bei Conny bleiben, aber ich werde hier verrückt. Ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein. Ich muss etwas tun. Ich werde zu den Kids geh’n. Mal seh’n, ob die Aufgaben für mich haben. Du weißt, wo du mich finden kannst.“

Er ergänzte, „übrigens, wohnt Conny alleine in diesem riesigen Haus?“ Laura schüttelte den Kopf. „Im Westflügel gibt es eine zweite Wohnung. Dort wohnen Connys Eltern. Wir haben sie dir noch nicht vorgestellt, weil das vielleicht riskant ist. Wir wollen nichts unbedachtes tun. Conny geht manchmal rüber zu ihnen, aber sie lassen Conny völlig in Ruhe.“

Kapitel 2. Die schwierige Suche nach der Identität

1.

Am nächsten Vormittag dachte Dennis lange nach. Er war alleine. Er hatte Zeit. Die Sache mit seiner Identität ging ihm nicht aus dem Kopf. Es passte ihm nicht, dass er den Namen und die Rolle eines Fremden übernehmen sollte. Da war da diese Stiftung um die er sich kümmern wollte. Da waren diese Kids seiner alten Gruppe: Allan, Susi und Roman. Da war seine Mutter und da war Conny… Er würde den Freunden schlecht erklären können, dass er plötzlich einen andern Namen trägt, oder dass er ganz woanders geboren ist, dass seine Mutter und sein Vater auf einmal ganz andere gewesen sein sollen, also, dass er eigentlich gar nicht Dennis ist.

Auf diese Freunde wollte er aber in keinem Fall verzichten. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. All das mit der angenommenen Identität eines andern kam ihm unehrlich und verlogen vor. Wie sollte das gehen, mit einer falschen Identität für seine Freunde oberhalb der Tunnel zu sorgen? Er wollte kein Leben im Untergrund.

Im Dunkel der Tunnel, im Verborgenen der Illegalität, da war das kein Problem. Aber dann könnte er auch offiziell tot bleiben und illegal weiterleben. Dann bräuchte er nicht einmal einen Pass. Das wäre sogar der beste Schutz gegen eine Entdeckung durch die „Men in Black“. Aber das würde Dennis nicht reichen. Er hatte Ziele. Wie sollte er mit einer falschen Identität Conny auf ihren Reisen begleiten und erklären, warum gerade er für Conny den Berater spielt? Die Direktorin, der Dirigent. Alle kannten ihn. Wenn er die Öffentlichkeit nicht scheuen wollte, so musste er seine eigene frühere Identität wiedererlangen.

Dennis behielt seine Gedanken zunächst für sich.

Als Conny kam, gab sie Dennis einige Bücher und einige CDs. Sie gab ihm Kopfhörer und einen kleinen Recorder. Sie selbst lernte zunächst für die Schule.

Dennis überflog die Bücher. Es ging über Kulturen und ihre Musik. Die CDs enthielten Flamenco, chinesische Oper und indonesische Gammelanmusik.

Dennis hörte genau zu. Ja. Einiges war urtümlich. Manches kam dem ganzen schon recht nah. Dennoch fehlte irgendwas. Er grübelte, aber er kam nicht drauf.

Irgendwann kam Conny. Sie sei fertig. Sie fragte nach Dennis Meinung. Dennis winkte zunächst ab.

„Gleich kommt mein Geigenlehrer“, sagte Conny. „Dann können wir das von gestern mal fortführen und mit ihm besprechen.“

Dennis kannte den Geigenlehrer bereits. Ein kleiner dunkelhaariger Mann in einer grauem Weste. Dennis hatte ihn nie anders gesehen, als in dieser grauen Weste, die er auch heute wieder trug. Der Name passte zu seinem Äußeren. Alois Punkbacher. Aber Alois war nicht der tumbe Bayer, den man hinter dem Äußeren vermuten konnte. Er konnte mal Geige spielen, wie kaum ein Zweiter, aber ein Unfall hatte seine beiden Hände gebrochen. Danach war es mit dem spielen vorbei. Alois Punkbacher war Geigenlehrer geworden.

Alois war erst überrascht, dann tief erschüttert und schließlich überglücklich, als er Dennis lebend vor sich sah. Er befühlte Dennis, um sich zu vergewissern, dass er wirklich vor ihm stand. Er umarmte Dennis. Ein paar Tränen liefen die Wangen herunter. Er wischte sie verschämt weg. Aber dann wurde er ganz der Lehrer. „Ich wäre heute sowieso gekommen, aber Laura hat etwas angedeutet. Was habt ihr beide da ausgeheckt?“

Laura und Dennis einigten sich kurz auf ein Stück, dann begann sie. Sie spielte besser als gestern. Sie hatte sich etwas eingeübt. Dennoch fehlte etwas.

„Deine Geige da - deine dritte Geige - hast du sie noch“, fragte Dennis. Er schickte Laura, um sie aus dem Safe zu holen.

Er hörte zu, wie sie die Geige stimmte. Dann begann sie mit dem ersten Stück.

Dennis schüttelte den Kopf. „Nein nein. Versuche das Stück lustig zu spielen. Mach das bitte noch mal.“

Conny versuchte es. Sie versuchte es noch mal und noch mal.

Alois sah, dass Conny unglücklich war. Diese Geige war immer noch ihr Feind. Aber er hatte etwas herausgehört. Etwas, was vielleicht nur er mit seiner langen Erfahrung als Geigenlehrer hören konnte. Er hatte bisher nur nie darauf geachtet.

„Gib mal her“ bestimmte Alois. Dann stimmte er die Geige um. Alle Seiten klangen eine Nuance höher. Kaum merklich. Er gab die Geige an Conny zurück. Er nickte ihr aufmunternd zu.

Conny probierte es erneut. Sie sah, wie Dennis und Alois aufhorchten. Sie probierte es noch einmal. Es klang wirklich anders.

Sie probierte die ganze Passage aus zehn Minuten. Dann blieb sie still sitzen und lauschte den Tönen nach.

Sie gab Alois die Geige zurück und bat: „Stimm mir das mal nach unten. Gerade so einen Tick“.

Es dauerte einen Moment, dann hob Conny die Hand. „Das sollte genügen.“ Sie versuchte dasselbe Stück nun tragend und traurig zu spielen. Sie stellte sich vor, dass sie einen Trauerzug auf den Friedhof begleitet und alle zum weinen bringen will. Sie sah, dass Alois und Dennis beeindruckt waren.

„Gib noch mal her“, meinte Alois. Er stimmte die Geige erneut, aber diesmal in der normalen Tonlage, die sich nur geringfügig unterschied.

„Pass auf. Jetzt kommt etwas schwieriges. Versuch mal durch deine Grifftechnik genau diesen Bruchteil des Tones auszugleichen. In der Quint geh einfach eine Seite nach unten. Das sind völlig neue und ungeübte Grifffolgen, aber versuch’ es. Spiel erst fröhlich und geh dann in die trauernden und klagenden Klänge über.“

Conny versuchte es. Es war höllisch schwer. Sie musste umdenken, aber sie sah, wie Alois zustimmend nickte.

„Ich glaube, dass du eben gelernt hast deine dritte Geige zu spielen“, sagte er. „Du wirst dieses Instrument lieben. Vielleicht ist sie sogar besser als die Stradivari. Ist es möglich, dass die Geige ganz bewusst für die Veränderung solcher Stimmungslagen gebaut wurde???“

Conny schaute Alois lange an. „Kannst du eben mal Anton anrufen“, bat sie. „Er soll sofort kommen.“

Während Alois telefonierte, führte Conny Dennis in den Keller des Hauses. Dennis war platt. Er hatte noch nie ein Tonstudio von innen gesehen. Hier war alles da.

Laura schaltete das Licht und die Maschinen ein. Sie zeigte Dennis einige Hebel und Knöpfe. „Ich will das Klanggefühl hören“, sagte sie.

Anton kam mit hochrotem Kopf und tiefschnaufend an. „Fahrrad“, sagte er nur. Er war ein junger Mann, vielleicht 28.

„Das ist mein Toningenieur“, stellte Laura ihn vor. “Er heißt Anton, … und das ist Dennis“, sagte sie. Sie wandte sich an Alois und Anton. „Übrigens: Ihr habt Dennis heute nicht gesehn. Ihr wisst auch gar nicht, wer das ist. Ist das klar?“ Sie schauten verwundert, dann nickten sie.

Laura erklärte Anton, worum es geht: „Vielleicht habe ich eben gerade meine dritte Geige entdeckt. Das wird jetzt noch etwas unbeholfen klingen, aber versuche mit der Aufnahme genau die verschiedenen Stimmungen von überschwänglich bis todtraurig zu erfassen, die ich in ein und demselben Stück spiele.“

Conny ging durch die Glastür. Sie setzte die Kopfhörer auf, sie schaltete das Mikrofon ein. „Eins zwei drei“, sagte sie, klinkte ein kleines Mikrofon an die Geige und begann. Sie sah kurz zu Anton und als er nickte, legte sie los. Sie spielte immer dasselbe Stück, fand einen Übergang und spielte es erneut. Sie gab sich jede erdenkliche Mühe, den Tonfall und die Stimmung zu ändern. Es war nicht nur die Höhe der Töne.

Sie spielte manchmal ein Tick schneller, dann wieder einen Tick langsamer. Kaum merklich. Manchmal weicher, manchmal härter.

Dennis sah, dass es Conny viel Mühe bereitete. Sie schwitzte. Doch mit jedem Stück wurde es etwas einfacher. Dann spielte sie das Ganze noch einmal. Sie versuchte jetzt ihren ganzen Körper und all ihr Gefühl und ihr Können in die Stimmungslagen reinzupacken.

Danach war sie am Ende. Sie zitterte. Dennis ging zu ihr, nahm ihr die Kopfhörer ab und nahm sie in die Arme.

Alois kam, nahm ihr die Geige aus der Hand, stellte sie ab und gab Anton ein Zeichen. Anton verschwand, dann kam er mit einem Glas, mit Wasser und mit zwei verschiedenen Säften im Arm zurück.

Er stellte das vor Laura hin und verschwand erneut. Er kam mit drei weiteren Gläsern zurück. Er musste häufig Gast in diesem Hause sein, dachte Dennis.

Laura war völlig erledigt, aber sie erholte sich schnell. Sie trank etwas Saft und bot auch den Freunden an.

Dann sagte sie: „Lass mal hören, aber nur die letzten 30 Minuten.“ Sie gingen zurück zum Mischpult. Anton gab jedem einen Kopfhörer, während er zurückspulte. Dann begannen sie der Musik zu lauschen.

Sie hatten die Türglocke nicht gehört. Laura schlüpfte hinter ihnen herein. Alois gab ihr einen Kopfhörer und gab ihr das Zeichen, sich hinzusetzen.

Als die Musik zu Ende war blieb Conny minutenlang sitzen. Sie war tief in sich versunken. Dann nahm sie den Kopfhörer ab und sagte: „Das wird ein schweres Stück Arbeit. Fast jeder Griff ist anders.“

Alois atmete tief ein. Dann nahm er Connys Hand. “Eben”, sagte er, „hast du eine Zaubergeige geschenkt bekommen. Sei dem Schicksal dankbar dafür.“

 

Laura hatte gehört, dass irgendetwas anders klang, aber sie konnte sich noch keinen Reim daraus machen. Sie sah Dennis lächeln.

Conny sagte nur: „Ich werde eure Hilfe brauchen, um das umzusetzen. Technisch können mir Anton und Alois helfen. Von dir Dennis, will ich mehr über deine musikalischen Erlebnisse hören. Laura soll sich darum kümmern, ob es einen Markt dafür gibt. Nicht gleich. Das ist alles noch zu neu… und auch noch zu unsicher in meinem Spiel.“

Sie wandte sich an Laura: „Hör dir dieses Band noch mal an, zusammen mit Alois und Anton. Lass dir erklären, worum es geht. Dann komm wieder zu uns. Sie nahm Dennis mit. Dieses Mal setzte sie sich in den Salon des Hauses. „Zeig mir noch mal deine Zeichnungen“, bat sie.

Dennis holte seine Entwürfe. Laura sah sie lange an. „Erzähl mir mehr.“

Dennis ließ sich Zeit.

Als Laura, Alois und Anton hinaufkamen, gab Ihnen Laura die Zeichnungen und bedeutete ihnen, Dennis Erzählung einfach nur zuzuhören.

Dennis erzählte weiter: von der Musik der Théluan, von den Theaterspielen, von den Stimmungen und der Wirkung der Musik auf die Menschen.

Laura hatte Tränen in den Augen. „Mein Gott. Wie lange habe ich darauf gewartet… .“

Sie fühlte einen Quantensprung in ihrer Musik. Vielleicht noch nicht ganz. Sie hatte gerade den ersten Zipfel davon zu fassen gekriegt. Darauf hatte sie acht Jahre lang gewartet. Irgendwann hob sie den Kopf.

„Ihr habt heute nichts gehört“, sagte sie bestimmt. „Ihr habt nichts gesehen. Ich habe ganz normal geprobt. Und zu keinem ein Wort über Dennis.“ Sie sah Alois und Anton durchdringend an. Sie nahm ihnen das Versprechen ab.

Dann wollte sie mit Laura und Dennis alleine sein.

Nach einer ganzen Weile sagte sie: „Die Frage ist, was ich aus dieser neuen Erkenntnis für Schlussfolgerungen ziehe. Ich habe eben meine Dritte Geige entdeckt. Sie wird mir noch viele Schwierigkeiten bereiten. Das eben war weit entfernt von dem, was ich perfekt nenne. Aber ich habe eben eine Vorahnung bekommen, was Dennis mit der Allmacht der Musik angedeutet hat.“

„Ihr wisst, dass ich bereits jetzt mit den Stimmungen der Zuhörer sehr gut spielen kann, aber ich kann mir vorstellen, dass ich mit dieser Art der Musik einen Mann dazu bringen kann, seine Frau umzubringen, die er liebt, einen Krieg auslösen, oder Ehen stiften kann. Das hat Alois vorhin gemeint, als er diese Geige als Zaubergeige bezeichnet hat.“

Sie sah die Freunde an, „all das ist noch unkontrolliert. Neu. Außerdem ist mein Abitur jetzt das Wichtigste.“ Sie sah zu Dennis. „Im Sommer habe ich mehrere große Konzerte. Dann sollten wir reisen.“

Laura war verblüfft. Sie hatte die Musik gehört, Sie hatte Unterschiede gehört. Alois und Anton hatten versucht zu erklären. So hatte sie Conny noch nie reden hören.

Auch Dennis hatte lange zugehört. Dann begann er von seinen Überlegungen am Vormittag zu erzählen.

Conny und Laura sahen sich an. Sie schwiegen.

Dennis fügte hinzu: „Ich will mir die Sache noch ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen. Wenn Trifter mit dem Ergebnis der Untersuchung kommt, will ich auch „den Dicken“ und euch beide sehen. Dann werde ich mich entscheiden.“

Conny war von der ganzen Sache ermüdet, obwohl sie innerlich aufgewühlt war. Es wäre jetzt schön, so einen Freund wie Dennis an ihrer Seite zu haben. Sie seufzte. Dann ließ sie die beiden alleine und ging ins Bett.

Sie hörte an diesem Abend noch lange Musik über Kopfhörer. Dann schlief sie ein. Als sie am Morgen aufwachte, hatte sie die Kopfhörer immer noch auf.

2.

Auch Dennis und Laura gingen ins Bett. „Ein ereignisreicher Tag, was“, fragte Laura. Dennis schwieg lange.

„Die Festung“, sagte Dennis nach einer Weile. „Ist das noch dieselbe?“

„Nein, wir haben damals das Quartier gewechselt. Wir haben die alte Festung nie mehr betreten. Willst du wissen, wie du dahin kommst?“

Dennis nickte. „Morgen, vor deiner Schule, kannst du mich dahin bringen?“

Laura stellte den Wecker. „Morgen ist Schultag der Kids. Da kommst du gerade recht. Vielleicht solltest du auch ein Handy haben. Ich hab’ dir eins besorgt und die wichtigsten Nummern eingespeichert. Es ist lange her. Erinnere dich. Du nennst am Telefon keine Namen.“

„Die Sache mit der Identität“, meinte Dennis, „das ist mir wirklich wichtig. Wenn ich zum Beispiel in der Stiftung auftauche, dann werden mich alle erkennen. Naja, ich nehme nicht an, dass du alle ausgewechselt hast.“ Als Laura den Kopf schüttelte, fügte er hinzu. „Ich kann das doch nicht alles aufgeben, jetzt wo ich wieder hier bin. Ich will dir nicht ins Handwerk pfuschen. Du leitest jetzt die Stiftung, aber ich kann mir vorstellen, dass ich dort weiter gebraucht werde.“

Laura gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab nichts sagen wollen. Es ist schließlich deine Entscheidung. Aber so denke ich das auch. Das da eben (und sie meinte Conny damit) war genau das, was uns in den letzten beiden Jahren gefehlt hat. Ich nenne es die kreative Inspiration. Das, was du eben in Conny ausgelöst hast. So wie du damals die Geigen gefunden hast, so wie du Hakim oder den Chemiker entdeckt hast. Ich kenne niemanden, der diese Fähigkeiten hat, außer vielleicht Trifter und „den Dicken“. Aber die haben ihre Talente auf ganz anderen Gebieten. Du hast uns wirklich gefehlt. Ohne dich ist die Stiftung nicht mehr das gewesen, was sie einmal war. Wir sind größer geworden, wir haben Einfluss. Aber niemand hat jemals Talente so sicher entdeckt, wie du. Ich sehe, du schüttelst den Kopf. Ich sehe, dass du bescheiden geblieben bist. Auch das ist eine deiner liebenswerten Eigenschaften. Denk’ darüber nach.“

Weil Dennis nichts mehr dazu sagen wollte, löschte sie das Licht.

3.

Am nächsten Morgen waren sie vor Conny wach. Laura brachte Dennis in den neuen Bunker, dann beeilte sie sich, um pünktlich in ihre Schule zu kommen.

Das Wiedersehen glich einem Tumult. Dennis wurde mit Fragen bombardiert. Sie lachten. Sie waren ausgelassen. Moses fing an zu tanzen und es gab viele neue Mitglieder in der Gruppe der U-Bahnkids. Schließlich rief Bübchen „Alle mal Ruhe. Schluss jetzt. Kann ja keiner ein Wort verstehen. Dennis kommt nicht dazu etwas zu sagen, vor lauter Geplapper. Außerdem gibt’s hier viele Neue, die Dennis nur vom Hörensagen kennen.“ Dann stellte er Dennis alle Kids vor. Er mahnte: “Wenn es jemanden gibt, außer Trifter, Laura und dem Dicken, dem wir alle zu Dank verpflichtet sind, und den wir alle lieben, dann ist das Dennis.“ Er schnitt Dennis Einwand ab. „Halt die Klappe. Wir haben dir alle viel zu verdanken. Ich weiß, dass du das nicht gern hörst. Also, lass mich das einmal sagen. Ich sprech auch nie wieder drüber.“ Zu den Neuen gewandt, sagte Bübchen: „Wenn ihr jemanden braucht, der euch zuhört, dann wendet euch an Dennis.“

Jonas wollte auch etwas sagen. Er wurde von Dennis unterbrochen. „Das ist zuviel der Ehre“, sagte Dennis. „Ich war immer nur einer von euch und ihr wisst das. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr wart es, die mir den Weg gezeigt habt. Ich habe euch zu danken, nicht umgekehrt.“

Jonas machte eine Bewegung die ausdrückte, „seht ihr, das ist es, was Bübchen meinte. So ist er…“, aber er kam nicht dazu, das auszusprechen. Trifter kam gerade durch die Tür.

„Heute ist Schule“ sagte er. Zu Dennis gewandt, fragte er: „Schon einander vorgestellt?“ „Naja meinte Dennis. Ein paar Worte muss ich wohl noch sagen. Ich sehe da lauter Fragezeichen sitzen.“

Dann begann Dennis in groben Zügen zu erzählen, wo er gewesen war und dass es ihm nicht möglich war, Kontakt mit den Kids aufzunehmen. „Aber“, fügte er hinzu. „Wie ich angedeutet habe, habe ich dort unten einige Schulen gegründet. Alle diese Schulen waren euerm Schulkonzept nachempfunden. Damit sind wir auch schon bei unsrer Schule. Ich selbst habe zwei Jahre lang keine „normale“ Schule gesehn. Ich bin nicht traurig darum. Es gibt wichtigeres.“ Er hörte einiges Gelächter. „Aber…“, Dennis hob den Zeigefinger. „Schule ist nicht Schule. Unsere Schule der Kids habe ich genossen. Sie hat mir geholfen das Leben da unten besser zu verstehen. Ich möchte, wenn es geht, jetzt regelmäßig an eurer Schule teilnehmen und ich glaube, ich kann euch auch einiges erzählen. Die Welt ist viel größer, als dieses kleine Berlin.“