Die Schamanin

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2.

Gegenüber der antiken Königsstadt liegt ein weiterer Berg, der immerhin bis auf 3200 Meter Höhe aufsteigt. Dort liegt eine große Siedlung der Indianer, die einmal erdbebensicher gebaut worden war, drei Schulen, mehrere Hochhäuser und eine große Kirche, oben auf dem Gipfel des Berges.

Die meisten Indianer hatten die Gebäude längst gekauft, in denen sie seit Jahrzehnten zunächst zur Miete wohnten, und dort gibt es auch ein großes indianisches Kulturzentrum, mit Versammlungsraum, Läden, einem Restaurant und mit Rückzugsräumen. Es gibt mehrere Sportplätze, es gibt eine eigene Indianerpolizei, die aber eher wie eine Gruppe aus Sozialarbeitern organisiert ist, und die als eine Art Anlaufzentrale für Informationen gilt, und hier in diesem Viertel befindet sich auch die Klinik von Clara und Raoul.

Die Bebauung der Indianersiedlung zieht sich um den halben Berg und geht an ihrem unteren Ende über in diverse Handwerksbetriebe und Industriegebäude, die sich links und rechts des Flusses unterhalb der Stadt ausbreiten. Hier liegen auch das Elektrizitätswerk, das Wasserwerk, die Kläranlage, ein großes Sägewerk und diverse Märkte (Baumarkt, Discounter und ein Möbelladen). Es gibt Glaser, Heizungsbauer, Maurer, Elektriker oder Gärtner, und es gibt insgesamt zwei große Brücken, welche hinüber ins Verwaltungszentrum der Stadt führen. Dort gibt es Banken, Versicherungen, Makler und verschiedene Dienstleister, ein städtisches Krankenhaus, sowie das Rathaus und mehrere Praxen und Kanzleien, eine Großwäscherei, einen Busbahnhof, die Post, und mehrere Hotels.

Auf dem dritten (der Ausgrabung gegenüberliegenden) Berg liegt der große Hotelkomplex von Solveigs Familie mit Event-und Sporthalle, bevor die Bebauung in hunderte von Villen übergeht, wo die besserverdienenden Weißen wohnen. Oben, am Ende des recht steilen Berges liegt noch ein Golfhotel und ein Reitstall. Dort oben in dem Villenviertel findet man auch die Kirche der weißen Mittel-und Oberschicht.

Der Berg geht oben in eine Art Hochland über, das wellig ist und aus dem sich einzelne Bergkuppen bis über 4000 Meter erheben. Dort liegt der Golfplatz. Es gibt einen Gelände-Reitparcours und Anlagen zum Spring-und Dressurreiten. Es gibt hier oben auch riesige Flächen von Solarmodulen, die den nötigen Strombedarf der Stadt ergänzen, und dort oben auf der Hochebene liegt auch der kleine Flugplatz der Stadt. Die Straßen sind steil und man kommt dort nur mit geeigneten Fahrzeugen hinauf. Im Winter geht hier ohne einen Geländewagen gar nichts.

Oberhalb des höchsten Berges, auf dem die antike Stadt einmal gebaut worden war, senkt sich die Landschaft etwas ab und geht auch dort in eine Art Hochland über. Auf dieser Hochfläche liegt etwa 120 Km weiter aber auch jener Vulkan, der sich noch einmal 1.000 Meter über die Hochebene erhebt, und der einmal diese Königsstadt unter den Auswürfen von Vulkangestein und Asche begraben hatte.

Dort oben gibt es eine Pferdezucht und noch ein Hotel, das von interessierten Besuchern aus Basislager für Bergtouren im Hochland genutzt wird. Dort ist Naturschutzgebiet. Es gibt Ranger, die über das Gebiet wachen. Es gibt Führungen. Jenseits der großzügigen Koppeln für Pferde aus der Zucht von Solveigs Onkel Nakoma findet man seltene Tiere, wie Bären, Riesengürteltiere oder den Berglöwen, wilde Hunde, Condore und wilde Lamas. Diese Hochebene erstreckt sich bis zu den Bergketten, die man übersteigen muss, wenn man zum Titicacasee oder nach La Paz hinüber wandern will. Es gibt da einige Pässe, wo das möglich ist, und viel weiter im Westen gibt es auch Straßen, welche die Regionalhauptstadt Cusco mit dem berühmten Titicacasee verbinden, also jener riesige Hochsee, dessen Ränder schon bei den Inkas dicht besiedelt waren.

Nakoma, der ein Onkel von Solveig ist, der ist der Besitzer dieses Gestüts 20 Km südwestlich von Ciudad del Sol, und er hatte von der Regierung die Aufgabe erhalten, über dieses Naturschutzgebiet zu wachen. Er hatte dieses Gebiet einmal gekauft, mit der Auflage, hier für Ordnung und Einhaltung von Naturschutz und für den Erhalt der Arten zu sorgen. Der riesige Privatbesitz von über 25 tausend Quadratkilometern läuft bis hinüber nach Cusco und umfasst auch mehrere Seitentäler. Es gibt hier oben mehr als zwei Dutzend Ranger und es gibt Fremdenführer, welche die Besucher auf Pferden oder zu Fuß durch dieses Hochland führen. Bis auf einen kleinen Teil, der für die Zucht von Pferden genutzt wird, und wo die Farm und das hauseigene Hotel stehen, ist das komplette Gelände unbebautes Naturschutzgebiet. Allerdings gibt es hier oben einige Schutzhütten, die Solveigs Familie einmal angelegt hatte.

Solveigs Familie ist hier so etwas, was man anderswo die Familie des Patrons nennt. Obwohl es andere Reiche Familien in der Stadt gibt, ist Solveigs Familie der Schutzpatron der Stadt, ohne deren Wissen und Genehmigung nichts möglich ist. Anders als bei anderen Patrons achtet die Familie von Solveig allerdings auf ein großes Gleichgewicht unter den Kräften, unter ihrer Führung. Anders wäre das nicht denkbar gewesen, denn schließlich wohnen hier auch bedeutende Politiker und Wirtschaftsgrößen, zumindest mit Zweitwohnsitz, die sich einmal in Ciudad del Sol eingekauft hatten, bevor dieser ganze Hipe rund um die alte Königsstadt entstanden war. So ist denn auch das “Weiße Ciudad del Sol” ein Stadtteil der Reichen, mit einer eigenen Schule, nur für die Kinder der weißen Oberschicht. Nun ja. Inzwischen ist dieses Credo aufgeweicht, durch den Einfluss von Leon und seiner Tochter Chénoa, die bei der Geburt von Solveig die geschäftsführende Direktorin aller süd-und mittelamerikanischen Aktivitäten der Company ist, die der Stiftung gehören, und deren Sitz in Berlin liegt. Das ist weit weg, aber bei multinationalen Firmen ist das so.

Der Nordwesten Perus liegt ja in einer gemäßigten Klimazone, fern des Äquators. Es gibt es hier oben Berge, die auf über 6000 Meter aufsteigen. Früher lag auf den Gipfeln dieser Berge einmal ewiger Schnee, aber die globale Klimaerwärmung hatte diese Gletscher zum Schmelzen gebracht. In der Zeit, als Solveig geboren worden war, gab es dort nur noch vereinzelte Gletscher, welche die Berge auf der sonnenabgewandten Seite weiß leuchten ließen. Später fielen diese Gletscher dem Klimawandel ganz zum Opfer. Im Winter kann es hier oben dennoch sehr kalt werden. Manchmal 20 Grad Minus, und dann fallen immer noch Unmengen an Schnee, so dass die Besucher im Winter richtige Expeditionen mit Winterbiwaks und Schiern unternehmen können. Motorschlitten sind hier oben im Naturschutzgebiet untersagt, und auch die Jagd mit Schusswaffen ist hier verboten, aber die Ranger führen die Besucher immer wieder zu Fotoexkursionen, und solche Bilder von Bären, Riesengürteltieren, Pumas, Adlern, Geiern oder wilden Lamaherden sind äußerst beliebt. Von Frühjahr bis Herbst werden für diese Exkursionen hochgebirgstaugliche Pferde eingesetzt, die Nakoma da oben züchtet. Es gibt da eine robuste Hochland-Rasse aus kleinen ponyhaften Pferden mit dichtem Fell, die klettern können wie die Bergziegen, und es gibt eine äußerst edle Züchtung aus Mustangs und Arabern. Die Pferdezucht von Solveigs Onkel Nakoma hatte schon Weltruhm, als Solveig noch nicht geboren war.

Solveigs Onkel Nakoma und seine Frau Mercedes, die Tierärztin ist, die züchten auf ihrer Ranch aber auch Hütehunde. Eine wilde Kreuzung aus mehreren Rassen, wie z.B. anatolische Hirtenhunde, irischen Wolfshunden, bulgarischen Karakatschans, australischen Shephards, Border Collies, belgischen Schäferhunden und Bobtails.

Das sind richtige Arbeitshunde, und auf den Exkursionen im Hochland sind sie den Rangern ständige Begleiter, auch als Schutz vor Bären und dem Puma, der hier auch Berglöwe genannt wird.

3.

Ein Großteil der Einwohner arbeitet direkt oder indirekt für die Ausgrabung und für den Fremdenverkehr. Es gibt geschickte Handwerker, die indianische Kleidung herstellen und verkaufen. Es gibt Weber und Gerber. Es gibt Küchenhilfen und Bedienungen. Es gibt Fremdenführer und Seminarleiter. Es gibt auch eine große Wachmannschaft und es gibt die vielen indianischen Helfer der Archäologen, die da immer noch in dem noch unerforschten Gebiet der alten Königsstadt Meter für Meter freilegen. Natürlich gibt es auch die vielen Hotelangestellten, und auch die Wäschereien, die Banken und Versicherungen, Busunternehmen, Taxis und Makler leben vom Tourismus.

Die gesamte Stadt ist durch diese Ausgrabung geprägt. Mehr noch: eine ganze Region, denn die Wirtschaft der Stadt schafft auch in anderen Regionen Arbeitsplätze, ob im produzierenden Gewerbe, in der Dienstleistung, im Handel, in der bäuerlichen Produktion oder im Tourismus. Auch die Banken profitieren von diesem ewigen Kreislauf des Geldes.

Solveig ist also genau genommen „ein Kind dieser Ausgrabung“, denn diese bestimmt das gesamte Leben in der Stadt.

Solveig wohnt unmittelbar neben der Klinik ihrer Eltern in einem dreistöckigen kleinen Haus, das wie alle Häuser der Indios einmal erdbebenfest gebaut worden war und einen kleinen Garten hat. Sie ist zu dreivierteln indianischer Herkunft und zu einem Viertel weiß, aber sie hat in ihrer Kindheit gelernt, sich als eine Indio zu fühlen. Sie trug in ihren Kinderjahren indianische Kleidung und sie spricht die Sprachen der Aymara (Bolivien) und der Quechua (Peru), die sich in einigen Dingen unterscheiden.

Als sie noch sehr klein war, wurde sie von Mama stets in diesem Tuch herumgetragen, mit dem indianische Mütter ihre Babys am Körper tragen. Sie nahm dann unmittelbar an den Behandlungen teil, die ihre Mutter da mit ihren Patienten hatte. Sie wuchs in diese Klinik hinein. Es gab zwar ein Hausmädchen und ein Kindermädchen, aber auch ihre größeren Geschwister waren oft bei der Mutter in der Klinik. Bei den Indianern ist die Familie Teil des Lebens und des Arbeitens, und so bestand von Anfang an ein sehr enger und natürlicher Kontakt zu den Geschwistern, zu der Arbeit der Eltern und auch zu all den Patienten dieser Klinik.

 

Gewiss, es gab Arbeiten, da wurde Solveig nicht mit hingenommen, etwa zu Untraschalluntersuchungen oder zu Rönt-genaufnahmen, und auch nicht zu Operationen, wo es um klinische Sterilität geht, aber es gibt etwas Besonderes, und das kam von Solveigs Mutter Clara.

Clara hatte ihre geheimen Kräfte von Großvater Leon geerbt. Sie ist eine Heilerin, die in die Körper und die Gehirne fremder Menschen kriechen kann, um sich dort umzuschauen, und um dort heilende Prozesse zu stimulieren, und zu solchen Ausflügen nahm Clara ihre Kinder schon rechtzeitig mit. Die Kinder wuchsen praktisch in diese Kraft hinein, die man als Außenstehender meist als „heilende Hände“ bezeichnet.

Sie wurden aber auch Zeuge, wenn Mama allerlei Mixturen anwendete, die aus dem Urwald des Amazonas stammen. Manchmal springt Clara dorthin, um solche Heilmittel zu suchen, und sie nimmt dann meist auch ihre Kinder mit. Manchmal werden solche Heilmittel auch von Onkel Nakoma zur Verfügung gestellt, der dort oben auf dem Hochland sein Gestüt hat, und der auch als ein Heilkundiger gilt (auch wenn er diese Fähigkeit nur an Tieren ausübt). Er und seine Frau Mercedes besitzen dort oben neben ihrem Gestüt auch eine Tierpraxis, und die Kinder von Nakoma und Sofia (die schon groß waren, als Solveig geboren wurde), die assistieren ihren Eltern.

So wurden die vier Kinder von Clara bereits frühzeitig in all diesen Heilmitteln unterrichtet. Es gibt da Blüten, Pulver, Baumrinden, Wurzeln, Beeren, Tees, oder Extrakte von Tieren. Es gibt da zum Beispiel eine Kröte, die mehr als 20 cm groß werden kann. Sie erzeugt ein Sekret, das wie ein schaumiger eitriger Schleim aussieht, und das man auf stark entzündete offene Wunden streicht. Die Entzündungen gehen innerhalb weniger Stunden zurück und es bildet sich ein dicker Schorf. Die Wunde eitert nicht und das Fieber geht schnell zurück. Es ist ein Mittel, viel wirksamer als eine Tetanusspritze.

4.

Als Solveig noch klein war, lernte sie all diese Dinge von ihrer Mutter, von Onkel Nakoma, und auch von ihren größeren Geschwistern. Sie nahm dieses Wissen in sich auf, wie die Muttermilch in ihrer Babyphase.

Solveigs Mutter Clara kann bei vielen Leiden helfen, wo es sonst keine Hilfe gibt, und das hatte sich schon lange vor der Geburt Solveigs bis in die Nachbarländer herumgesprochen.

Was Solveig damals noch nicht wusste, das war, dass ihre Mutter den Indios in dieser Stadt und in weiter Umgebung als Gottesgeschenk gilt. Clara und Raoul waren Indios wie sie, und sie sorgen für ihre Quechua und Aymara Indianer. Es gibt sogar eine Krankenkasse, die den Indios in Peru eine kostenlose Behandlung ermöglicht. Solveigs Großvater Leon hatte das einmal eingeführt.

5.

Solveig ist das jüngste und letzte Kind von Clara und Raoul, und als Nesthäkchen genießt Solveig einerseits eine besondere Fürsorge, andererseits ist sie von Aufgaben freigestellt, die ihre größeren Geschwister haben. Die kleine Solveig schwebt in ihren jungen Jahren sozusagen in einem freien und sorgenfreien Raum.

Nun, zumindest, was den Schutz der Familie betrifft. Natürlich ist Solveig ein Kind ihrer Zeit, und sie ist – natürlich – all den klimatischen Veränderungen ausgesetzt, wie alle anderen Kinder ihrer Zeit. Allerdings ist Solveig 2040 geboren. Das ist eine Zeit, in der das Maunder Minimum dem Planeten Erde noch einen gewissen Schutz gewährt. Solveig ist also ein Kind der relativ gemäßigten Übergangszeit in die tropisch-klimatischen Zonen, die sich dann später entwickeln sollten.

Weil es in ihrer Familie üblich ist, die gesamte indianische Siedlung als ihre „Familie“ zu betrachten, wird Solveig schon früh zu Hausbesuchen mitgenommen, und sie lernt schon frühzeitig andere Familien und Kinder kennen. Spätestens seit sie in den Kindergarten geht, der nur zwei Straßen weiter liegt, beginnt Solveig regelrecht aufzublühen.

Nicht nur das Zentrum der Quechua und der Aymara ist ihr Zuhause, auch die vielen Häuser der Indios der Umgebung werden zu Solveigs zweitem Zuhause.

Solveig geht mit anderen Kindern. Sie spielt mit ihnen, sie wendet an, was sie von Mama bereits gelernt hat. Sie kann in fremde Körper hineinkriechen, und sie kann Stimmungen aufspüren und mit leichter Hand steuern. Es dauert nicht lange, da wird Solveig als kleiner Engel angesehen, der gute Stimmung verbreitet, Konflikte in sich zusammenfallen lässt, der Krankheiten aufspürt und der (anfangs noch mit Hilfe ihrer Mutter oder Geschwister) Heilungsprozesse stimulieren kann.

Solveig hat keine Scham, mit den anderen Familien zusammen Kartoffeln zu schneiden, Bohnen zu schnippeln, das Schiffchen beim Weben zu führen, oder bei diesen Gastfamilien zu schlafen, oft mit zwei anderen Kindern in einem Bett. Sie singt viel, sie ist fröhlich und unbeschwert. Mama kann sich über ihre Energieströme jederzeit drahtlos mit Solveig in Verbindung setzen und weiß so immer, wo Solveig gerade ist, wenn sie einmal nicht nach Hause kommt.

Manchmal schickt sie einen der Geschwister oder das Kindermädchen, um Solveig nach Hause zu holen, manchmal wird Solveig von einem Mitglied der Gastfamilie nach Hause gebracht, manchmal meldet sich Solveig einfach zu Hause ab und verbringt mal zwei Nächte in der einen, dann in der anderen Familie.

Clara weiß stets, wo sich Solveig gerade aufhält, und sie lässt Solveig diese Freiheit der Entscheidung zunehmend öfter. Auch Clara hatte als kleines Kind diese Freiheit einer langen Leine genossen. Es ist das Markenzeichen ihrer Familie.

6.

Solveig hat eine etwas ältere Cousine, mit dem Namen Clarissa (die Tochter ihrer Tante Chénoa), und die ist genauso neugierig und unternehmungslustig wie Solveig. Die beiden sind richtig dick befreundet, und sie machen sich oft einen Spaß daraus, die ererbten Kräfte gemeinsam anzuwenden. Das ist lustig und sie spüren dann stets, wie sich ihre Kraft durch die gemeinsame Anstrengung und Konzentration potenziert. Dieser Quantensprung an Kraftzugewinn ist ein tiefes Erlebnis.

Clarissa ist Tante Chénoas ältestes eigenes Kind, und weil Tante Chénoa innerhalb von Solveigs Familienclan eine führende Rolle hat, erzieht Chénoa auch ihre Tochter Clarissa in dieser Rolle.

Es gibt also einen großen Unterschied zwischen der Aufgabe von Clarissa als Tochter der “Chefin” des süd-und mittelamerikanischen Familienclans und der freien Ungebundenheit von Solveig als Nesthäckchen.

Tante Chénoa hatte den Bürgermeister der kleinen Stadt geheiratet, und der hatte schon fünf Kinder von seiner verstorbenen Frau. Weil aber Clarissa von diesen sechs Kindern die einzige ist, die über die Kraft von Solveigs Familie verfügt, hat sie innerhalb dieser Familie eine besondere Aufgabe, auch wenn sie die Zweitjüngste der Geschwister ist. Clarissa hat schon früh gelernt, Verantwortung zu tragen und Fürsorge zu zeigen. Das ist keine Last. Chénoa übt das mit Clarissa spielerisch ein, aber natürlich ist sie da, diese besondere Pflicht, die normalerweise eine größere Schwester hat, die ihre Mutter in der Erziehung entlasten muss. So ist das zumindest bei den Indianern Südamerikas.

Die Beziehung zwischen Solveig und Clarissa ist vielleicht deshalb auch so gut, weil sie sich gegenseitig inspirieren. Die verantwortungsbewusste Clarissa und die ungebundene Solveig. Sie machen daraus ein Spiel, und Solveig kann vieles völlig ungebunden in eigener Verantwortung weiterführen, während Clarissa schon wieder in irgendwelche Aufgaben der Familie eingebunden wird.

Für Solveig ist dieses Erleben der Freiheit der vielleicht entscheidende Impuls in ihrer Kindheit.

Tante Chénoa bekommt noch andere eigene Kinder, die für Solveig alle wichtig werden, aber die Freundschaft zu Clarissa, die ist für Solveig schon etwas Fundamentales und Besonderes.

7.

Als Solveig größer wird, wird auch ihr Radius größer.

Sie wird eingeschult, und sie wächst immer mehr in dieses Wissen hinein, Teil dieser gigantischen Ausgrabung zu sein. Dabei kommt ihr zugute, dass ihre Großmutter Mila die Leiterin dieser Ausgrabung ist. Es kommt ihr zugute, dass ihre Tante Apanache und ihr Onkel „Bübchen“ das große Hotel leiten, das auch diese Kulturhalle betreibt, in der über das Jahr verteilt hunderte von guten Gruppen auftreten, mal im Bereich klassischer Musik, mal im Bereich Tanz, Gospel, Rockmusik, Pantomime oder Zauberei. Solveig hat freien Zutritt zu solchen Aufführungen, die sie oft mit ihrer Freundin Clarissa besucht, und sie kann auch jederzeit in diesem Hotel sein, mal als Zuhörerin, mal aus Aushilfe in der Küche, oder bei den Zimmermädchen. Sie hat längst gelernt, gut zuzuhören, und in die Köpfe ihrer Mitmenschen zu kriechen, um Stimmungen zu erkennen, und um offene und ehrliche Gespräche zu stimulieren.

Sie besucht auch ihren Onkel Nakoma und seine Kinder immer öfter, dort oben auf der Hochebene. Ihr Radius wird einfach größer. Manchmal sitzt sie mit Clarissa im Zentrum ihres Viertels. Es gibt da Kindstaufen, Hochzeiten und Geburtstagsfeiern, wo sie gern gesehen sind. Sie singen und tanzen. Manchmal gehen sie hinüber in die ehemalige Königsstadt, wo immer interessante Events, Vorträge und Führungen veranstaltet werden.

Tante Chénoa, die hat ja eine besondere Rolle innerhalb ihres indianischen Viertels. Sie hat die alten indianischen Riten wiederbelebt. Sie wird oft befragt, bevor sich zwei Menschen das Ehegelübde geben, und sie gilt den Indios als ihre Hohepriesterin.

Peru ist ja ein katholisches Land, und Solveig war einmal katholisch getauft worden. In der Stadt finden übers Jahr verteilt mehrere Prozessionen statt. Weil das aber früher stets ein großer trauriger und jammernder Zug war, war das Interesse der Indios an diesen Prozessionen irgendwann nahezu erloschen, in dem Maße, wo sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude wiedergewannen, die durch ihre Stellung als Teil der Ausgrabung und als Teil einer über 8.000 Jahre alten Kultur begründet war. Wie anders als bei den kirchlichen Prozessionen, ist das bei den rein indianischen Festen. Dort wird gelacht, getanzt und Musik gemacht. Das sind lebensfrohe Feste für alle. Selbst die Beerdigungen sind zwar zu Beginn still und in sich gekehrt, weil man mit Würde Abschied nimmt, aber sie werden dann laut und fröhlich. Chénoa hatte stets gesagt, „Während dieser Mensch zu Erde wird, wächst aus dieser fruchtbaren Erde ein neues Leben. Das ist ein Grund zur Freude. Es ist ein ewiger Kreislauf, der uns am Leben erhält. Wir vergessen diesen Menschen nicht. Wir halten die Erinnerung an ihn wach, den er gestattet dieses neue Leben. Lernen wir aus seiner Erfahrung.“

Bei den Indianern gibt es seit Jahren einen neuen alten Kult um die Wiedergeburt, und deshalb ist der Tod eines Menschen Teil eines Kreislaufs, von dem die christlich begründete Trauer sich völlig unterscheidet. Unter der Führung von Solveigs Tante Chénoa hatte sich die indianische Gemeinde in einem langen, zähen und unblutigen Kampf aus der früheren Abhängigkeit und Knechtschaft befreit und ihre eigene Kultur wiedergefunden. Nicht nur im Tal von Ciudad del Sol, sondern in ganz Peru und Bolivien. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die kleine Stadt Ciudad del Sol die geistige Hauptstadt der indianischen Bevölkerung dieser beiden südamerikanischen Länder geworden war, auch wenn die politischen Zentren dieser beiden Staaten in den Millionenstädten Lima und La Paz liegen. Die Hauptstadt der Region, zu der Ciudad del Sol gehörte, die liegt wiederum in der Luftlinie etwa 200 Km von Ciudad del Sol entfernt. Die 350.000 Einwohnerstadt Cusco hat ihre eigene Bedeutung als Verwaltungszentrum und als Weltkulturerbe des früheren Inkareiches.

Nun. Die kleine Stadt Ciudad del Sol hat ihre Bedeutung durch die Entdeckung dieser gewaltigen Königsstadt der Peruche-Krieger erlangt, und durch den Clan von Solveigs Familie war sie zum geistigen Zentrum der südamerikanischen Indianer geworden. Solveig ist - als Teil dieses Familienclans - dazu bestimmt, spätere Führungsrollen zu übernehmen. Solveig wird durch ihre Eltern wie ein Freigeist erzogen, aber sie nimmt alle diese unterschiedlichen Ereignisse mit wachen Augen auf. Es gibt indianische Familien, wo gebetet und gefastet wird, aber durch den Einfluss von Tante Chénoa hatte sich das bereits mit den alten indianischen Riten gemischt, die einmal ganz von dem Sonnenkult geprägt worden waren, der damals das Leben in der heiligen Stadt der Könige bestimmt hatte.

 

Solveig nimmt an solchen Gebeten manchmal teil, aber sie ist davon nicht sehr beeindruckt. Die Hoffnung, die sich im christlichen Glauben manifestiert, die kann einem Menschen Kraft geben, aber ist auf nichts anderes gebaut als eben nur Hoffnung. Die Kräfte, die Solveig von Mama lernt, die sind hingegen konkret und wirkungsvoll, und auch die Indios ihres Viertels hatten längst verinnerlicht, dass die Kräfte dieses Familienclans eine reale Kraft sind, mit der man rechnen kann, und auf die man sich verlassen kann. Nicht umsonst ist Solveigs Tante Chénoa den Indianern wie eine Hohepriesterin erschienen. Sie gilt den Indianern als ihr geistiges Oberhaupt, deren Führung man sich bereitwillig unterwirft, weil sie Kraft und Freiheit vermittelt. Ganz anders als bei den herkömmlichen Patriarchen der christlichen Glaubensrichtung, die stets auf Unfreiheit und Knechtschaft abzielte, bis hin zur Versklavung und zur Zwangssterilisation. So etwas gab es in Peru und Bolivien schon nicht mehr, als Solveig geboren wurde. Solveigs Großvater Leon und ihre Tante Chénoa hatten dieses Verbot politisch durchgesetzt, und seit durch den Einfluss von Tante Chénoa ein Indianer auf dem Posten des Ministerpräsidenten sitzt, waren die Rechte der indianischen Mehrheit in Peru nicht mehr von denen der weißen Bevölkerung zu unterscheiden, zumindest nicht auf dem Papier.

Die indianische Bevölkerung zelebriert ihren neuen alten Glauben inzwischen. Es gibt im Zentrum der Indianer sogar einen kleinen Raum, der ausschließlich für den Sonnenkult gedacht ist, und von dem nicht einmal der katholische Priester etwas weiß. Die Indianer hatten diesen Raum einmal heimlich eingerichtet, um zu Chénoa zu beten und ihr zu danken, und selbst Chénoa hatte anfangs nichts davon gewusst.

Tante Chénoa hatte nun einmal alte Riten wieder belebt, die heute etwa bei indianischen Hochzeiten oder Beerdigungen wieder durchgeführt werden. Sie war es, die den Indios ihre kollektive Identität wiedergegeben hatte. Sie war es, die den Indianern in diesem Land wieder zu Rechten verholfen hatte. Sie war es, die erreicht hatte, dass die Indios in diesem Land endlich freien Zugang zu Bildung, Universitäten und zu allen Berufen haben. Es gibt inzwischen indianische Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler, Kaufleute, Piloten oder Provinzgouverneure, die hoch angesehen sind, aber dieser Prozess war noch nicht abgeschlossen, als Solveig noch klein war. Es war Tante Chénoa, die in diesem heimlichen Raum heimlich verehrt wurde, wie eine Göttin. Die Indianer wissen das. Die Weißen nicht. Chénoa gilt den Indianern Süd-und Mittelamerikas als ihre heimliche Königin, die sie beschützt und bewacht, aber darüber sprechen sie mit den Weißen nicht.

Die alten Gebräuche sind Teil eines kollektiven geheimen indianischen Wissens, das von indianischen Schamanen über Jahrhunderte bewahrt worden war, längst bevor Solveigs Großvater Leon die politische Bühne erstmals betreten hatte. In der Familie von Solveigs Großmutter Mila, da gab es dieses Denken, denn Großmutter Mila stammt aus einer Sippe, die im Nachbarstaat Bolivien 200 Jahre lang an Aufständen gegen die weiße Oberschicht teilgenommen hatte. Heute gehört dieser Zweig der Familie in Bolivien zu den führenden Familien. Mit anderen Worten, Solveig entstammt einer wirklich alten Familie, in der stets Wert auf Familientradition gelegt wurde, und die Kenntnisse historischen Wissens als erhaltenswert, und an oberster Stelle standen.

Es gibt bei den Indianern eine katholische (kirchliche) Trauung und oft auch eine zweite rein indianische, die von Solveigs Tante Chénoa nach alten Riten durchgeführt wird. Das ist der Kirche inzwischen bekannt. Chénoa unterstützt aber auch die Kirche großzügig, und so war ein seltsames Agreement zwischen dem katholischen Priester und Chénoa entstanden, das für den Priester und die indianische Gemeinde konfliktfrei ist. Solveig erlebt das in ihrer Kindheit zunächst nur unbewusst. Immerhin bekommt sie schon früh mit, dass es innerhalb ihrer indianischen Gemeinde Geheimnisse gibt, die auch gegenüber dem katholischen Priester stets gewahrt werden.

Für die kleine Solveig sind solche Stimmungen von Belang, weil sie diese feinen Schwingungen wahrnimmt, aber sie spürt keine Bedrohung. Die katholischen und die indianischen Riten hatten bereits angefangen sich zu vermischen. Ihre Familie hatte in der Stadt und in diesem Land längst eine Stellung, die unantastbar scheint. Für Solveig gibt es andere Dinge, die wichtiger sind, als eine mögliche Auseinandersetzung zwischen katholischer Glaubenslehre und den alten Schamanen der Indianischen Bevölkerung.

Onkel Nakoma nimmt Solveig mit in den Urwald, wo Solveig lernt, all diese Heilpflanzen selbst aufzuspüren. Sie hilft bei der Pferdezucht, und sie begleitet ihren Onkel von Zeit zu Zeit bei seinen Aufträgen in Übersee, die er als „Wunderheiler“ von bekannten Gestüten überall auf der Welt erhält. Onkel Nakoma ist ein weltweit gesuchter und gebuchter Therapeut, aber er ist besonders gerne in den arabischen Ländern unterwegs. Dort hat er seit Jahren einen festen Kundenstamm, und dort geht es wirklich um sehr wertvolle Rennkamele, Falken und Rennpferde. Er kennt alle dieser Scheichs und Emire persönlich, und dort lernt Solveig auch ganz andere Riten kennen. Es ist eine komplett andere Welt, als die Kultur in Südamerika. Es spielt dabei keine Rolle, dass in der arabischen Welt einen Kampf zwischen Schiiten und Sunniten stattfindet, denn Onkel Nakoma hat das Talent, von den einen und von den anderen akzeptiert zu werden. Manchmal vermittelt er, und er hat in den letzten Jahrzehnten schon so manch einen bewaffneten Konflikt zwischen den Kontrahenten verhindern können.

Inzwischen sind zwei der Kinder von Onkel Nakoma besser als ihr Vater, aber auch das ist in der Familie kein Thema. Sie assistieren Nakoma, aber sie nehmen auch eigene Aufträge an. Sie sprechen sich ab und sie machen sich gegenseitig keine Konkurrenz. Auch Solveig wird in der Heilkunst phänomenal gut. Schon im Alter von 14 Jahren übertrifft sie ihren Onkel in einigen seiner Fähigkeiten. Dies gelingt ihr unter anderem durch ihre besondere Beobachtungsgabe. Im Aufspüren und Heilen von Krankheiten ist Solveig ein Genie.