Grundkurs Soziologie

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

 Soziologie der Soziologie.

Der Wissens- und Forschungsstand in diesen speziellen Soziologien, die untereinander auch theoretisch und empirisch mehr oder weniger verknüpft werden, ist recht unterschiedlich. Einige dieser Teildisziplinen, die bereits auch mit eigenen »Sektionen« innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vertreten sind, verfügen bereits über einen sehr großen Fundus an empirischen Untersuchungen und theoretischen Konstrukten, andere sind noch relativ jung und haben eher den Charakter von »Orchideenfächern«. Neben persönlichen Neigungen ist das unterschiedlich starke Interesse von Soziologen an diesen materiellen Spezialisierungen sicher u. a. auch als Reflex entsprechender gesellschaftlich und politisch aktueller Problemlagen, vielleicht auch sogar manchmal als eine Art lokal und temporär gebundene »Wissenschaftsmode« zu interpretieren.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Johann Binder (1986): Vom Nutzen der Bindestrich-Soziologien. In Bulletin 54 der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, S. 8–10.

Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff & Nicole Burzan (Hrsg.) (2014): Wörterbuch der Soziologie. 3. Aufl. (mit lexikalischen Informationen zu einzelnen Speziellen Soziologien). UVK: Konstanz.

Harald Kerber & Arnold Schmieder (Hrsg.) (1991): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung, (insbes. S. 62–104). Rowohlt: Reinbek.

Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.) (1997): Einführung in Praxisfelder der Soziologie. (Mit Kurzdarstellungen der wichtigsten Speziellen Soziologien.) 2. Aufl. Leske + Budrich: Opladen.


1.4.3Funktionen soziologischer Erkenntnis

Auf unsere Ausgangsfrage nach den Aufgaben und dem Nutzen der Soziologie zurückkehrend, lässt sich zusammenfassend sagen, dass verschiedene Soziologen in Nuancen, Akzentsetzungen, im Grad der Konkretheit sowie in Abhängigkeit von ihrem »strukturellen« Erkenntnisinteresse wohl unterschiedliche Antworten geben werden. Gemeinsam ist ihnen aber die Überzeugung, dass wir durch soziologisches Denken und Forschen bessere Einsichten in die mannigfaltigen Formen und Prozesse unseres zwischenmenschlichen Zusammenlebens erhalten werden, als uns dies durch bloße Alltagserfahrung je möglich sein wird.

Bei der Durchsicht der einschlägigen soziologischen Literatur lassen sich hierbei quer zur Pluralität der verschiedenen Erkenntniszugänge verschiedene funktionale Wirkungen der Soziologie ausmachen:

 Indem Soziologie versucht, die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebenslagen in ihrer Entstehung und Entwicklung, in ihrem Zusammenhang und in ihrer ideologischen Begründung sowie mit ihren Macht- und Herrschaftsansprüchen einsichtig und transparent zu machen, verfolgt sie zweifellos zunächst eine aufklärende und informierende Funktion.

 Da sie darüber hinaus den Menschen helfen will, die Motive, Bedingungen und Folgen ihres Verhaltens und Handelns zu erkennen und sie über diese Einsichten dazu befähigen möchte, ihren Zielen entsprechend rational zu handeln, erfüllt sie auch eine diagnostische und pädagogische Funktion.

 Daneben hat die Soziologie von Anfang an – wenn auch nicht in dem einleitend beschriebenen vulgären Missverständnis – immer auch eine kritische Funktion und eine prognostische Absicht begleitet. Als kritische Wissenschaft ist sie »verpflichtet auf das sapere aude, auf die Distanz gegenüber geltenden Werten und Institutionen« (Jonas 1981, 12). In diesem Sinne möchte sie anhand der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und der Bedingungen ihrer Verwirklichung ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Status quo erzeugen, bestimmte Missstände in herrschenden Zuständen aufzeigen und möglichst rationale Alternativen des sozialen Handelns entwerfen. Langfristiges Ziel dabei ist es, durch methodisch gesicherte Erklärungen zu versuchen, hinsichtlich künftig zu erwartender oder auch bewusst angestrebter Veränderungen sozialer Bedingungszusammenhänge Prognosen über erwünschte oder unerwünschte gesellschaftliche Wirkungen beim Einsatz verschiedener Mittel aufzustellen.

 Schließlich soll auch die potenziell gesellschaftlich affirmative Stabilisierungs- und Konservierungsfunktion von Soziologie nicht unterschlagen werden. Insbesondere in stark ideologisierten, fundamentalistischen und rationalen Zielen gegenüber nicht offenen Gesellschaften findet Soziologie – wenn sie überhaupt als wissenschaftliche Disziplin toleriert wird – oft nur insoweit Unterstützung und Entfaltung, als sie sich in der Analyse und Beschreibung auf das gesellschaftlich Bestehende beschränkt und die Interessen und Privilegien von herrschenden Gruppen durch unkritische Anwendung soziologischen Wissens zu unterstützen geneigt ist. In diesem Sinne kann Soziologie auch zur Zementierung der jeweils herrschenden Zustände missbraucht werden.

Wenn die Soziologie – wie wahrscheinlich jede andere Denkrichtung auch – letztlich nicht gefeit ist gegen bestimmte ideologische Uminterpretationen und Missverständnisse im Sinne einer revolutionären Heilslehre oder einer letztlich nur noch vorgegebenen administrativen Zielen dienenden Hilfswissenschaft, so kann sie sich dennoch jenseits dieser extremen Positionen für alle, denen Wissenschaft nicht Selbstzweck bedeutet, sondern die von ihr einen praktischen Nutzen zum Wohle der Menschen erwarten, vor allem aus folgenden drei Gründen (Behrendt 1962, 17 f.) empfehlen:

 Sie hilft, einzelne Erlebnisse und Beobachtungen nicht isoliert – und damit ohne Aussicht auf Verständnis ihrer Ursachen und Bedeutung – zu sehen, sondern sie als Teil umfassender gesellschaftlicher Strukturen, u. a. als Auswirkungen von Wertsystemen, Schichtungsordnungen und sozial-kulturellen Milieus interpretierend zu verstehen.

 Sie hilft, die Relativität der Werte und Verhaltensweisen der eigenen Umwelt und Zeit zu erkennen und fördert damit die Fähigkeit – und zuweilen auch die Bereitschaft –, die Verhaltensweisen von Angehörigen anderer Sozialgebilde und Kulturkreise zu verstehen und sich einfühlend in ihre Lage zu versetzen.

 Sie hilft, den dynamischen Charakter von Verhaltensweisen und Gesellschaftsstrukturen insbesondere in unserer Zeit verständlich zu machen und hiermit die Panik zu bekämpfen, die aus mangelndem Verständnis komplizierter und sich rasch wandelnder gesellschaftlicher Strukturen entspringt. So kann Soziologie die Wurzeln aufdecken, aus denen die Tagesereignisse entspringen und aus deren Kenntnis diese dann besser verstanden und gelassener bewältigt werden können.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin die »Einführung«, S. 11–35). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.

Joachim Fritz-Vannahme (Hrsg.) (1996): Wozu heute noch Soziologie? (= Beiträge der Wochenzeitung DIE ZEIT unter dem Serientitel »Der Streit um die Soziologie«). Leske + Budrich: Opladen.

Anthony Giddens (2009): Soziologie. 3. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Was ist Soziologie?«). Nausner: Graz, Wien.


1.5Einige Vorväter und Begründer: Soziologie als Krisenwissenschaft


1.5.1Die lange Vorgeschichte:Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Gelegentlich mag der Eindruck entstehen, Soziologie sei eine hochmoderne, eher geschichtslose Wissenschaft, die sich weder um ihre eigene Geschichte noch um historische Prozesse viel kümmere. Tatsächlich lässt sich aber die Soziologie – zumindest in ihrer Vorgeschichte – zurückführen bis in die Antike und das Mittelalter. Schon Platon, Aristoteles, die Sophisten oder Thomas von Aquin haben sich mit elementaren Problemen des menschlichen Zusammenlebens kritisch auseinandergesetzt.

Der österreichisch-britische Philosoph, Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902–1994) etwa sieht (in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) »Platons Größe als Soziologe in der Fülle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstaunenswerten Schärfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind.« (Popper 1975, I, 68). Wie »modern« Platon (427–347 v. Chr.) in seiner Staats- und Gesellschaftslehre in gewissem Sinne ist, lässt sich beispielsweise an der Wahl seiner Themen erkennen: »Dazu gehören die Prinzipien und Auswirkungen der Arbeitsteilung, die Gefahren des Privateigentums, der Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Expansion des Wirtschaftsraumes, die entfremdenden Folgen der Geldwirtschaft, die Entstehung von Ständen, die Geschichte der Gesellschaft als Geschichte von Standeskämpfen, die Spaltung von Eliten als Voraussetzung von Revolutionen« sowie die Einbindung dieser mehr theoretischen Überlegungen »in einen historischen Zusammenhang, der von der patriarchalischen Viehzüchterfamilie zur Sippenorganisation, [bis hin] zur Dorf- und Städtebildung mit monarchischer Verfassung und gesetztem Recht nach dem Muster eines Gesellschaftsvertrages reicht« (Rüegg 1969, 25). Ähnliche soziologische Perspektiven finden sich auch bereits bei den Sophisten, die die Gesellschaft ihres religiösen Nimbus und metaphysischen Schleiers zu entkleiden suchten und sie als Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Übereinkunft betrachteten.

Auch Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), dessen Schrift »Politik« nach der Einschätzung des amerikanischen Soziologen Franklin H. Giddings (1855–1931) das bedeutendste Werk ist, das jemals die menschliche Gesellschaft behandelt hat, ist in dem Sinne bereits »modern«, als Aristoteles zur Grundlegung seiner sozialen und politischen Erkenntnisse zunächst auf die sozialphilosophisch üblichen, wertgeladenen Spekulationen verzichtete. Dafür sammelte er erst einmal umfangreiches empirisches Material und versuchte so in seinen Arbeiten bereits jenem Anspruch einer möglichst werturteilsfreien Erfahrungswissenschaft gerecht zu werden, der heute als fundamentale Voraussetzung für soziologisches Denken eingefordert wird. Denn »wer irgendeinen Zweig des Wissens wirklich wissenschaftlich behandeln und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zu Tage zu fördern« (Aristoteles, Politik, III, 5).

 

Von Aristoteles stammt übrigens auch jene berühmte Aussage, die später u. a. auch von Thomas von Aquin (1225–1274) wieder aufgegriffen wurde: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen sei (»ánthropos zóon politikón«, Politik, I, 2) – eine Kurzformel, in der im Grunde genommen bereits das spätere Forschungsprogramm der Soziologie enthalten ist, wenn auch ein noch sehr weiter Weg zur Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin blieb. Denn »trotz der überragenden Leistungen des Aristoteles vermochten die Griechen nicht zur Soziologie als einer spezifischen Wissensdisziplin vorzudringen, da ihnen das Vermögen fehlte, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden, so dass sie die sozialen Beziehungen niemals völlig unabhängig von ihren politischen Aspekten betrachteten, ja im Zweifelsfall dem politischen Aspekt stets Priorität vor dem sozialen einräumten« (Eisermann 1973, 4).

Das Mittelalter führte auf diesem Weg nicht weiter. Die starke Bindung an Autoritäten sowie das vorherrschende Interesse am »Wesen der Dinge«, d. h. an der »richtigen Ordnung« der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer »vollkommenen Gesellschaft« (»societas perfecta«, Thomas von Aquin) standen einer strikt erfahrungswissenschaftlichen und undogmatischen Auffassung von Gesellschaft im Wege.

Relativ isoliert und ohne unmittelbaren Einfluss auf die Soziologie blieb auch der Berber Ibn Chaldun (1333–1406), der – in heute erstaunlicher Aktualität – in seinen Auseinandersetzungen mit der arabisch-islamischen Orthodoxie und ihrem Fundamentalismus die mittelalterlichen Fesseln der unbedingten Autoritätsgläubigkeit zerbrach und methodisch über die Beobachtung und rationale Analyse des menschlichen Zusammenlebens vielleicht als Erster die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft zu machen versuchte. Nicht umsonst knüpfen an ihn einige spätere soziologische Denker des 19. Jahrhunderts wie Frédéric Le Play, Karl Marx, Ludwig Gumplowicz und Franz Oppenheimer wieder an.

Als weiterer Vorvater der Soziologie kann sicher auch der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469–1527) gelten, der sich zu Beginn der italienischen Renaissance gegen jeglichen scholastischtheologischen Dogmatismus wandte und die sozialen Gleichförmigkeiten in Geschichte, Gesellschaft und Politik einer rein auf Erfahrung und Beobachtung beruhenden empirischen Analyse zu unterziehen suchte. Insbesondere in seiner 1532 erschienenen Schrift »Über den Fürsten« (Il Principe) stellt er nachdrücklich fest, dass die Menschen betrachtet werden müssten, wie sie sind und nicht, wie sie nach bestimmten Glaubenssätzen zu sein hätten. In seinem konsequenten Realismus verfocht er die These, dass das soziale Handeln des Menschen aus seinen Antrieben heraus verstanden werden müsse. Hierzu lieferte er im Principe bereits eine klassische sozialpsychologische Studie über die Ursachen und Effekte verschiedener Motivstrukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem begründete er mit dieser Schrift eine Klassifikation politischer Herrschaft und legte eine bis heute häufig zitierte Liste bestimmter moralischer Eigenschaften des Regierenden und seiner Macht- und Herrschaftstechniken im Hinblick auf eine möglichst effiziente Ordnung und Zielerreichung vor. Seitdem sind allerdings auch der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung einer skrupellosen Politik immer wieder Gegenstand macht- und herrschaftstheoretischer Diskussionen.

Die eigentliche zusammenhängende Vorgeschichte der Soziologie beginnt jedoch wohl erst mit der Krise des absolutistischen Staates, jener »crise de la conscience européenne« (Hazard 1935), die die Gesellschaftslehre der Aufklärung hervorbrachte und zur Trennung von Staat und Gesellschaft führte. Neben vielen, in erster Linie philosophisch orientierten Beiträgen zur Gesellschaft und Politik ihrer Zeit (vgl. hierzu Jonas 1981, 12 ff.) werden jetzt für die erwachende Soziologie insbesondere jene Arbeiten begründend, die die Gesellschaft aus dem globalen philosophischen und theologischen Problembezug lösen und die bislang selbstverständliche Geltung von tradierten Werten und Institutionen in Frage stellen.

Hierzu zählen z. B. in England die staatspolitischen Schriften von Thomas Hobbes (1588–1679), insbesondere dessen Abhandlung »Leviathan« von 1651, sodann die Vertreter eines empirischen Skeptizismus wie John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) sowie die Theoretiker der sogenannten Schottischen Schule Adam Smith (1723–1790), Adam Ferguson (1723–1816) und John Millar (1735–1801).

In Frankreich wird diese Entwicklung vor allem von Montesquieu (1689–1755) vorangetrieben, der seine zeitgenössische Gesellschaft einer beißend-ironischen Kritik unterzog und im Anschluss daran eine historisch-analytische Theorie des sozialen Wandels entwarf. In ähnlicher Weise profilieren sich nicht nur Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Marquis de Condorcet (1743–1794) als engagierte Kritiker einer moralisch verrotteten, feudalen Rokoko-Gesellschaft, sondern auch der zu den Frühsozialisten zählende Comte de Saint-Simon (1760–1825).

Wichtige vorsoziologische Quellen sind beispielsweise nicht nur Rousseaus berühmt gewordene Abhandlung über den »Gesellschaftsvertrag« (Du contrat social, 1762), sondern auch seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon (»ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beitrage«, 1750), in der der Autor nachhaltig und kompromisslos die von der Akademie gestellte Frage verneint und seine Auffassung insbesondere mit den Folgen der sozialen Ungleichheit begründet. Diesen Gedanken führt er dann in der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755) systematisch weiter, wobei er den folgenschweren Gedanken entwickelt, dass die Entstehung des Eigentums den eigentlichen Sündenfall des Menschengeschlechts bilde.

Grundlegende Beiträge für eine spätere Theorie des menschlichen Handelns sowie eine differenzierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates lieferten im damals allerdings »revolutionsabstinenten« Deutschland vor allem die großen Philosophen der Romantik bzw. des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Schleiermacher (1768–1835), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775– 1854). Auch ist in diesem Zusammenhang der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890) zu nennen, der im deutschen Vormärz die ideologischen und politischen Positionen des in Bewegung geratenen Bürgertums zu klären versuchte.

Sie und viele andere bedeutende Denker dieser Epoche wurden aufgrund bereits spürbarer tief greifender Veränderungen dazu angeregt, die Gesellschaft ihrer Zeit mit neuen Augen zu sehen:

 An Stelle der traditionellen Agrarwirtschaft, die vor allem auf Selbstversorgung ihrer Angehörigen angelegt war (marktunabhängige Subsistenzwirtschaft), trat in immer stärkerem Maße die Produktion von Waren, die man auf dem Markt gewinnbringend verkaufen konnte. Naturwissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technische Erfindungen und Entwicklungen verstärkten diesen Prozess.

 Für Autoren, die den Beginn der Industrialisierung aus eigener Anschauung und Erfahrung miterlebten, wird die fortschreitende Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung in den Manufakturen und Fabriken und die damit einhergehende berufliche Spezialisierung zu einem besonders auffälligen Vorgang, der die zwischenmenschlichen Beziehungen wie die gesamtgesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändert.

 Die feste Verankerung der Menschen in den sozialen Gruppen und Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, begann sich zu lockern. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung, sondern das unterschiedliche Maß an Eigentum wurde zunehmend als die große Quelle der Distinktion zwischen den Menschen erkannt. Folglich wurden auch die herkömmlichen Überlieferungen, traditionellen Symbole und Sitten einer ständischen Gesellschaft längst nicht mehr von allen als selbstverständlich und unveränderbar begriffen.

 Insbesondere das aufsteigende Bürgertum rüttelt jetzt an der jahrhundertelang unangefochtenen Herrschaft des Adels und beginnt, seine eigenen Interessen zu artikulieren. Es postuliert in seiner neuen Philosophie ein in erster Linie rational handelndes Individuum, das – dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt entsprechend – von feudal-klerikalen Bevormundungen und berufsständischen Bindungen sowie von ideologischen Einengungen und Einschränkungen vitaler Bedürfnisse befreit sein sollte.

 Neue gesellschaftliche und politische Ordnungen werden diskutiert und in zunehmendem Maße auch praktisch ausprobiert, – in England bereits im 17. Jahrhundert in pragmatischen Kompromissen zwischen dem Adel und dem selbstbewussten Bürgertum, in Frankreich erst später im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen sozialen und politischen Erfahrungen von Revolution und Kaiserreich.

Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die »stillere« industrielle Revolution insgesamt tiefer greifende und andauerndere Umwälzungen im sozialen Alltag bewirkte als die diversen politischen Veränderungen und spektakulär lärmenden Revolutionsakte in dieser Zeit.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Friedrich Jonas (1981): Geschichte der Soziologie I. Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft (mit Quellentexten). (Darin exemplarisch Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechts«, S. 355–363.) 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Von den Anfängen der Soziologie: Hoffnung auf eine neue Welt«, S. 11–26.) 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

Gerhard Möbius (1964): Die Politischen Theorien von der Antike bis zur Renaissance. 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen


1.5.2Die Großväter der Soziologie: Soziologie als Fortschrittstheorie und Universalwissenschaft im 19. Jahrhundert

Eine präzise Aussage, wer denn nun eigentlich als Begründer der Soziologie zu gelten habe, lässt sich kaum machen. Sicherlich sind die – als eigentliche founding fathers oder »Großväter« der Soziologie im Sinne einer Universalwissenschaft – immer wieder genannten Autoren des 19. Jahrhunderts wie Auguste Comte Herbert Spencer oder Karl Marx ohne die Vorarbeiten der Aufklärung sowie der verschiedenen Varianten der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau) oder der Vordenker eines (auch revolutionären) sozialen Wandels nicht denkbar.


1.5.2.1Auguste Comte

Das Hauptanliegen von Auguste Comte (1798–1857), auf den, wie wir schon gesehen haben, der Begriff Soziologie ja zurückgeht (vgl. Abschnitt 1.3.2), war der wissenschaftliche Entwurf einer für seine Zeit passenden sozialen und politischen Ordnung. Aus einem sozialreformerischen Elan heraus suchte er, wie andere vor und nach ihm, nach den Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsentwicklung, um störende Einflüsse auf den »sozialen Organismus« auszuschalten, bei unvermeidlichen Krisen »weise zu intervenieren« (»savoir pour prévoir, et prévoir pour prévenir«) und den »naturgeschichtlichen Entwicklungen« der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. hierzu A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, in Jonas, I, 1981, 419 ff.). Als erklärter Gegner jeglicher Metaphysik waren für ihn Fragen nach dem Sein oder Spekulationen nach Sinn- und Zweckzusammenhängen der Geschichte müßig. Vielmehr stellte sich für ihn die Geschichte der Menschheit als eine lineare Entwicklung des Verstandes dar, die nach festen Gesetzen abläuft.

 

In Weiterführung entsprechender Ansätze seiner Landsleute Turgot, Condorcet und vor allem Saint-Simon entwarf er ein geschichtsphilosophisches Schema als Grundlage seiner wissenschaftlichen Perspektive, das sogenannte Dreistadiengesetz: Nach Überwindung einer vorausgegangenen theologischen und metaphysischen Epoche folge jetzt ein »positives« Zeitalter, das von der Soziologie als der neuen Königin aller Wissenschaften bestimmt werde. Diese »positivistische« Aufklärung verband Comte mit einer Heilslehre der Vernunft, in der der Soziologie gleichfalls die entscheidende Rolle zugedacht war. Ähnlich der in den aufblühenden Naturwissenschaften angewandten und erstaunlich erfolgreichen Methoden sollten auch auf die sozialen Organisationen rationale Denkweisen und Verfahren angewandt werden, um zu ähnlich »positiven« Resultaten zu gelangen.

Mit anderen Worten: Die »positive« Soziologie sollte – wie Comte sich ausdrückte – nur über die sorgfältige Beobachtung und Beschreibung sinnlich wahrnehmbarer Tatbestände in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. über erfahrbare, sogenannte »objektive Tatbestände«, zu »allgemeingültigen sozialen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen« gelangen. Von den so gewonnenen Einsichten versprach er sich – ähnlich der technischen Verwertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – wichtige Hinweise für eine stabilere Neugestaltung und praktisch-politische Steuerung von Gesellschaften im Sinne einer modernen Sozialtechnik, die letztlich allen ein Höchstmaß an Glück und Zufriedenheit eröffnen könne.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1979): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 1. Band. (Darin »Auguste Comte«, S. 71–130). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Auguste Comte«, S. 62–66). Westdt. Verlag: Opladen.

Auguste Comte (1981): Rede über den Geist des Positivismus. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 419–433. Westdt. Verlag: Opladen.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie (Darin »Der ›erste‹ Soziologe: August Comte«, S. 27–41). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.


1.5.2.2Herbert Spencer

Auch Herbert Spencer (1820–1903), dessen berühmte dreibändige »Principles of Sociology« zwischen 1876 und 1896 entstanden und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts schlechthin als der englische Soziologe galt (und zugleich den größten Einfluss auf die aufsteigende amerikanische Soziologie ausüben sollte) war überzeugt, einen Weg gefunden zu haben, der es ihm ermöglichte, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zu verstehen. Er ging davon aus, dass alle Formen des sozialen Lebens, die kleineren zwischenmenschlichen Verflechtungen wie die größeren sozialen Gruppen und Organisationen und erst recht das Ganze der Gesellschaft als soziale Organismen aufzufassen seien.

Ebenso wie bei den individuellen Organismen von Menschen, Tieren oder Pflanzen liege auch den sozialen Organismen eine eigene Dynamik zugrunde. Hier wie dort bedeute dies »Wachstum« im Sinne der Vermehrung von Grundelementen oder Bausteinen (z. B. im gesellschaftlichen Bereich: Vermehrung der Bevölkerung), aber auch »Entwicklung« im Sinne einer natürlichen Evolution von niederen zu höheren, von einfachen zu komplexeren Gebilden (in der Gesellschaft: die vielfältigen Zusammenschlüsse kleinerer Einheiten zu größeren sozialen »Geweben« der verschiedensten Art, z. B. der Familien zur Verwandtschaft, der Verwandtschaften zu Sippen, der Sippen zu Stämmen, der Stämme zu Völkern, der Völker zu Staatengemeinschaften usw.). Schließlich: Wie es im Leben der natürlichen Organismen Steuerungsprogramme gebe, die das Zusammenwirken der einzelnen Elemente und Teile regulieren, so gebe es auch in der Gesellschaft Regulierungen, die dafür sorgten, dass der soziale Organismus überdauere und arbeitsteilige Differenzierungen auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet durch Prozesse der Verflechtung und Integration wieder aufgefangen würden. Spencer fasst dies in seiner universalen Weltformel zusammen: »Vom Aggregat zum System« und versteht Soziologie als Studium der Evolution.

Daher war er davon überzeugt, dass die beobachtbaren Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich insgesamt als Fortschritt anzusehen seien und letztlich auf eine vollkommenere und bessere Welt von freien und verantwortungsvollen Individuen hinausliefen. Zwar ließen sich diese evolutionären Vorgänge gedanklich erfassen und unterstützend steuern, doch als Anhänger des Darwinismus hielt es Spencer für eher störend bzw. für weitgehend zwecklos, in die mit jedem Fortschritt im Bereich des Lebens verbundenen Prozesse der natürlichen Auslese (Darwin: »survival of the fittest«) etwa durch sozialpolitische Aktivitäten (z. B. durch Unterstützungsprogramme für Behinderte, Kranke, Bildungsschwache, Arme, Obdachlose usw.) einzugreifen. Im Gegenteil: Je weniger politische Regulierung und Kontrolle, desto besser. Der gesellschaftliche Organismus bzw. das soziale System sei auch dank der »überragenden Weisheit der Natur« ohne Herrschaft und Zwang denkbar, ja eine liberale Anarchie als Idealzustand sogar wünschenswert.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, (Darin »Herbert Spencer«, S. 532–540). Westdt. Verlag: Opladen.

Ralf Dahrendorf & Colin Crouch (1980): Herbert Spencer. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon. Band 1, S. 406–408. Enke: Stuttgart.

Michael Kunczik (1999): Herbert Spencer. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 74–93. Beck: München.

Herbert Spencer (1981): »Die Prinzipien der Soziologie« (The Principles of Sociology). In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 441–444. Westdt. Verlag: Opladen.


1.5.2.3Karl Marx

Selbst ein kursorischer Überblick über die Soziologiegeschichte kann Karl Marx (1818–1883) als Soziologen nicht unerwähnt lassen. Dabei liegt die Bedeutung von Marx weniger im Gehalt seiner soziologischen (und ökonomischen) Theorien begründet, als vielmehr in deren faktischen Wirkungen auf die soziale und politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und in der Faszination, die der Marxismus auf Generationen von Gelehrten und Sozialreformern ausübte. Dies ist wohl nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass es nicht ganz einfach ist, den Soziologen Karl Marx von Karl Marx als dem spekulativen Philosophen und rigorosen Moralisten sowie dem sozialistischen Agitator und Propheten der Revolution zu lösen.

Wie jeder Denker übernahm auch Marx Vorstellungen anderer und deutete sie, seinen Prämissen folgend, entsprechend um. So entlehnte er von dem Philosophen des deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel das geschichtsphilosophische Konzept, übernahm von dem Staatsrechtler Lorenz von Stein den Klassenbegriff und die Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen und gewann seine volkswirtschaftlichen Überlegungen in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen des englischen Nationalökonomen David Ricardo. Von den Positivisten seiner Zeit unterschied sich Marx dadurch, dass er durchaus noch Sinnfragen stellt und folglich seinen soziologischen Ansatz offen in sein philosophisches System einbettet. Andererseits glaubt er wie sie und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts noch fest an eine stetige Entwicklung der Geschichte im Sinne eines linearen Fortschritts. Von den aufstrebenden Naturwissenschaften und ihren Erfolgen ebenso fasziniert wie Auguste Comte und andere Denker seiner Zeit suchte auch er nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten in den historischen Abläufen, um die Wandlungen der Gesellschaftsstruktur durch Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge erklären und künftige Entwicklungen sicher prognostizieren zu können.