Ethnologie und Weltkulturenmuseum

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Wissen durch Dinge: historische Praktiken der Erkenntnis

Worin genau bestanden nun die Praktiken in den hybriden Institutionen, die zugleich Orte der Präsentation und Verwahrung von Sammlungen, wie auch Ort der Forschung waren? Während damals die Vorstellung leitend war, durch die Betrachtung von Objekten mit spezifischer Herkunft und insbesondere durch das „Nebeneinanderstellen“ kulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen zu erkennen, so sind auch in der Gegenwart bestimmte epistemische Prinzipien leitend. Im 19. Jahrhundert gingen Ethnologen von der These aus, Objekte und deren formale Analyse könnten die Basis eines Referenzsystems sein, das über Kulturen in allen Weltteilen informiert. Ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten schien damals eine Kultur stellvertretend sichtbar zu machen (Gosden, Larson/Petch 2007). Die schon damals verbreitete Auffassung vom Museum als Labor betraf insbesondere die Arbeit mit den Sammlungen und deren Aufstellung in den Schauräumen.

In der Gegenwart sind die erkenntnisleitenden Prinzipien des Labors andere. Zu den epistemischen Anliegen des Museums als Labor gehört im 21. Jahrhundert insbesondere die Frage nach den beteiligten Personen sowie nach den von außerhalb der Ethnologie kommenden Anregungen, für die ethnografische Objekte eine spezifische Rolle spielen könnten. Objekte werden damit zu Schnittpunkten zwischen Feldern von Diskursen und Praktiken, die sich über kulturelle Differenzen und Kontinente hinweg entfalten, und dabei Wissenschaftler wie Künstler und auch Handwerker miteinbeziehen (Shelton 2009).

Das ethnologische Museum der Gründungsphase war ein Labor, in dem es um die Selbstvergewisserung einer noch jungen Wissenschaft ging. Die Suche nach Erkenntnis war auf das Wechselspiel zwischen formal ähnlichen oder gerade unterschiedlichen Objekten beschränkt; sie diente der Stabilisierung eines Wissenskorpus, der damals noch mehr eine Erwartung an die Zukunft als ein Faktum war.

Eine Bezugnahme auf den Laborcharakter im Lichte der Geschichte dieser Institutionen müsste also korrekterweise anmerken, dass es sich dabei auch um eine Rückkehr handelt: Damit knüpft das Museum an die Idee einer hybriden, wissenschaftlichen und öffentlichen Institution an, wie es sie schon einmal in den Jahren nach 1880 gab. Im Übrigen passt dies sehr gut zur Definition von Labor wie sie Henning Schmidgen vornimmt. Von der Werkstatt ist ein Labor ihm zufolge dadurch abzugrenzen, dass es vornehmlich ein Ort des Hantierens mit Dingen und der Ausbildung ist (Schmidgen 2011). Laboratorien waren im 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Innovationen der akademischen Ausbildung und sollten durch klare Regeln und arbeitsteiliges Vorgehen als ein Ort der Wissenserzeugung fungieren. Zudem sollten Labore auch ein Umfeld darstellen, in dem Wissenschaftler sich als Persönlichkeiten herausbilden. Diese besondere Verknüpfung von Anerkennung für Regeln, kollaborativem Arbeiten, Wissenserzeugung und Ausbildung von Persönlichkeit könnten auch heute als mögliche Motive dafür gelten, die Arbeit im Museum mit dem Begriff des Labors zu verknüpfen.

Wenn heute vom Museum als Labor die Rede ist, stehen dahinter definitiv völlig andere epistemische Prinzipien als im 19. Jahrhundert. Es geht nicht mehr um die Entwicklung eines Wissenskorpuses, sondern, im Gegenteil, um dessen Überwindung. In der Gegenwart steht eine Öffnung im Vordergrund, die bisherige Prinzipien der Beschreibung und Interpretation infrage stellt. Handelnde im Labor des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr nur Ethnologen. Hinzu kommen Künstler und andere, denen eine spezifische Verbindung zu den gezeigten Objekten zugesprochen wird. Ethnologisches Wissen scheint in den Hintergrund gerückt zu sein; anstelle dessen werden subjektive und affektive Bezüge zu den Dingen als wichtigste Erkenntnisse, die das Labor erzeugt, aufgefasst.

Aus diesen Anmerkungen zu Parallelen und Unterschieden zwischen der alten und der neuen Laborsituation ergeben sich wichtige Hinweise im Hinblick auf Gründe für den Namenswechsel der Museen heute. Einerseits wird dadurch nämlich erkenntlich, in welchem Ausmaß die Geschichte des Museums sich wiederholt, indem epistemische Praktiken als zentrale Faktoren für die Entwicklung dieser Institution in den Vordergrund rücken. Andererseits, und dies mag ein implizites Motiv für den Namenswechsel sein, sind es heute nicht mehr die Diskurse des Faches, sondern die Fragen der beteiligten Akteure, durch die das Museum als Labor ein Forum sein könnte.

Die Betrachtung der frühen Phase ethnologischer Museen zeigt noch mehr verdeckte oder gar vernachlässigte Parallelen mit der Gegenwart. So waren völkerkundliche Museen, trotz des deutlich erkennbaren Selbstbewusstseins der Ethnologen, damals keine Selbstläufer. Zumindest im Hinblick auf das Berliner Museum ist festzustellen, dass es für die weitere Öffentlichkeit nur wenig Anziehungskraft hatte. Die Ausstellung galt als schwierig, wenig interessant; sie scheint gar „Staubgeruch“ verbreitet zu haben (Scheffler 1921:12). Ereignisse für das Massenpublikum, wie etwa die Kolonialausstellung in Berlin von 1896, waren vor diesem Hintergrund willkommene Anlässe, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Nicht nur kam es zu Privatvorführungen für die Mitglieder der BGEAU (Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte), sondern Bastian und andere Ethnologen des Museums bestätigten zudem die „Echtheit“ der in der Ausstellung gezeigten Personen und der Objekte.

Obgleich, wie erwähnt, Bastian die Praxis des massenhaften Erwerbs von ethnografischen Objekten aus den Kolonien kritisch sah, ist die enge Verflechtung zwischen Ethnologie als einer an den Ort des Museums gebundenen Wissenschaft und kolonialen Ideologie ein historisches Faktum. Schon damals war eine Art Spagat zwischen den ideologisch geprägten Erwartungen des Publikums und wissenschaftlichem Interesse zu leisten. Die Parallele zur Gegenwart liegt auf der Hand: So wie damals Ethnologen bereit waren, sich im öffentlichen Leben bei Fragen einzumischen, die jenseits der Wissenschaft lagen, so gibt es auch heute die Bereitschaft, ethnografische Sammlungen zur Bearbeitung von Themen zu nutzen, die jenseits der ethnologischen Kompetenz liegen, die aber öffentlichen Erwartungen mehr entgegenzukommen scheinen.

Betrachtet man das 19. und das 21. Jahrhundert im Vergleich, so ergibt sich eine vorläufige Hypothese im Hinblick auf die Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und öffentlichen Anforderungen. In beiden Fällen stellt die Verbindung zwischen den Erwartungen eines Laienpublikums und dem Selbstanspruch des Fachwissenschaftlers für Ethnologen eine problematische, wenn nicht ethisch fragwürdige Herausforderung dar.

Neue Leitbilder der ethnologischen Forschung

Die Geschichte ethnologischen Wissens in den Museen mit ethnografischen Sammlungen enthält noch mehr Probleme, Divergenzen und Widersprüche. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verloren nämlich die damals noch durchweg so bezeichneten „Museen für Völkerkunde“ den gerade beschriebenen Status als Labor. Die Methodenentwicklung der Ethnologie jener Zeit war geprägt von neuen Paradigmen des Wissens und neuen Möglichkeiten, an Primärdaten zu gelangen. Auf die Definition der Feldethnologie durch Alfred Haddon im Jahre 1898 folgte die Entwicklung der teilnehmenden Beobachtung durch Bronislaw Malinowski in den 1920er-Jahren (Herle/Rouse 2008).

Mit dieser grundlegenden Neuorientierung verschob sich das Interesse empirisch arbeitender Ethnologen weg vom Studium materieller Objekte und hin zu direkten Gesprächen und direkter Beobachtung in den sie interessierenden Kulturen (Voges 2016). Mit dem rasch schwindenden Interesse an ethnografischen Objekten verloren auch die Sammlungen ihre Bedeutung als Schlüssel zur Beschreibung von Kulturen. Auf internationaler Ebene wurde in einem Überblicksartikel festgestellt, dass es über einen Zeitraum von 50 Jahren, nämlich 1920-1970, in einschlägigen ethnologischen Fachzeitschriften praktisch keine Publikationen zu materieller Kultur oder zu Museumssammlungen gab (Collier/Tschopik 1954, Fenton 1974).

Im Lichte der Entwicklung der Ethnologie als Disziplin lässt sich das so zusammenfassen: In dem Moment, in dem die Ethnologie als Wissenschaft Anerkennung gefunden hatte, verloren die Museen – einstmals Brutstätten des Faches – ihre Rolle als Orte der Forschung. Objektivität schien nun am besten durch die Beobachtung vor Ort im Zusammenhang mit den interessierenden Kulturen gewährleistet, nicht mehr jedoch durch das Sammeln, Nebeneinanderstellen und Beschreiben ethnografischer Objekte. Die gleichen kolonialen Rahmenbedingungen, die den Museen im 19. Jahrhundert eine so wesentliche Steigerung ihrer Sammlungen ermöglicht hatte, führten dazu, dass sich Ethnologen im frühen 20. Jahrhundert von den Museen und ihren Sammlungen abwendeten und den Methoden der Teilnahme am Alltag sowie der direkten Beobachtung den Vorrang gaben.

Die von Malinowski propagierte, sogenannte teilnehmende Beobachtung war für viele Ethnologen überhaupt nur deshalb möglich, weil ihr Aufenthalt in den Kolonien und ihre Arbeit dort durch die Kolonialmacht geschützt wurden. Die Geister, die die Ethnologie in ihrer frühen Phase rief, nämlich die Praktiken des Kolonialismus, waren auch diejenigen, die es für Ethnologen der darauffolgenden Generation verlockender erscheinen ließ, auf anderen Kontinenten zu forschen und nicht mehr die Museen zu konsultieren.

Der Befund einer weitgehenden Trennung von ethnologischer Forschung und Arbeit mit ethnografischen Sammlungen im Zeitraum 1920-1970 gilt trotz einiger wichtiger Texte aus den 1930er-Jahren, in denen prominente Ethnologen wie der bereits erwähnte Malinowski, aber auch Claude Lévi-Strauss sich sehr differenziert und detailliert mit Objekten auseinandersetzten. Im Fall von Malinowski ist es zum Beispiel ein Boot, das für den Kula-Tausch genutzt wird; bei Lévi-Strauss geht es hingegen um die Halsketten eines Schamanen im Amazonasgebiet (Hahn 2014). Tatsächlich ging es keinem der beiden genannten Ethnologen um die Materialität dieser Dinge, und auch die formale Analyse der Objekte stand nicht im Mittelpunkt ihrer Studien. Im Fall von Malinowski ging es um die mit der Herstellung verbundenen Arbeitsabläufe, Lévi-Strauss interessierte hingegen das System der Symbole, die in den Objekten lediglich einen „Niederschlag“ fand.

 

Ethnologie und Kunst

Noch aus einer anderen Richtung entstand in den frühen 1920er-Jahren eine dramatische Situation für die Museen mit ethnografischen Sammlungen. Im Kontext knapper öffentlicher Mittel in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde unüberhörbar die Forderung geäußert, Museen müssten der Öffentlichkeit dienen. Die Zugänglichkeit für ein breites Publikum und deren Hinwendung zu den Ausstellungen erschien nun als eine neue Priorität, die für die bis dahin wenig populären völkerkundlichen Museen eine gewisse Herausforderung darstellte. Timo Saalmann hat für das Berliner Museum die damals deutlich artikulierte Kritik unter dem Leitbegriff der „Schaubarkeit“ geschildert (Saalmann 2016).

Wichtige Hintergrundinformationen gibt ein zeitgenössisches Dokument des Kunst- und Museumskritikers Karl Scheffler. Im Jahr 1921 veröffentlichte er ein Pamphlet mit dem Titel „Berliner Museumskrieg“, in dem es vordergründig um die Ausstellung zeitgenössischer Kunst ging. In diesem kleinen Buch findet sich aber auch ein Kapitel mit einigen überraschenden Feststellungen zur damaligen Lage des völkerkundlichen Museums in Berlin. Seiner Analyse zufolge ist es nicht nur die hoffnungslose Überfüllung, unter der das Museum damals litt, sondern mehr noch die prinzipielle Unfähigkeit der verantwortlichen Ethnologen, zwischen sehenswerten und anderen Objekten aus der Sammlung zu unterscheiden. Scheffler vertritt die Auffassung, man müsse eine klare Trennlinie zwischen der durch Kunsthistoriker zu präsentierenden Kunst und den von Ethnologen betreuten Sammlungen ziehen. Während die Ethnologen möglichst viele Objekte von allen Kulturen zusammentragen würden, sei es die Aufgabe des Kunsthistorikers, die herausragenden Werke von den anderen zu trennen, und nur das Beste auszustellen.

Nach Scheffler hat die Ethnologie den Kampf um die Verantwortung für die ethnografischen Sammlungen mangels Kompetenz längst verloren. Wie er in seinem Buch aus dem Jahr 1921 hervorhebt, dürfe man Ethnologen nur solche Sammlungen überlassen, bei denen keine Kunst existiere. Sobald durch Fachleute für bestimmte Weltgegenden ein Kunstschaffen identifiziert werde, sollten diese Sammlungen in Spezialmuseen oder in allgemeine Kunstmuseen überführt und von Kunsthistorikern betreut werden.

Nach den Veröffentlichungen von Carl Einstein (1915) und nachdem Picassos Werke schon weithin Anerkennung gefunden hatten, ist die Position von Scheffler absolut überraschend. Aber offensichtlich glaubte zumindest er, eine Trennlinie zwischen Kunst und Ethnologie aufrecht erhalten zu müssen.6 Schefflers Verdikt über das ethnologische Museum lautet mit anderen Worten, die Unfähigkeit der Ethnologen, zwischen echter Kunst und Wissenschaft zu unterscheiden, müsse zum Scheitern von deren Ausstellungen führen. Die Konsequenz sollte sein, all die Kulturen, denen ein solches Kunstschaffen zugesprochen werden kann, abzusondern und in eigene Museen zu überführen.

Scheffler begründet dies zudem mit dem Argument, die Anerkennung von Kunst sei nur im Kontext des Bewusstseins der historischen Entwicklung eines Kunststils möglich, von Ethnologen untersuchte Kulturen seien hingegen völlig ahistorisch. Es ist naheliegend, in dieser Auffassung ein Echo der bereits erwähnten, 50 Jahre älteren Zurückweisung der Ethnologie durch Historiker zu erkennen. Aber selbst wenn es so wäre, dass Scheffler hier ein altes (Vor-)Urteil unbedacht wiedergibt, so ist es doch auch ein vernichtendes Urteil bzgl. der Fähigkeiten der Ethnologie, ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Die gerade in den deutschsprachigen Ländern so wichtige, sogenannte kulturhistorische Methode, über deren Bedeutung sich Bastian mit den anderen Gründerfiguren des Faches, etwa Ratzel und Frobenius, einig wusste, scheint in Schefflers Position überhaupt nicht eingeflossen zu sein.

Wenn Scheffler (1921:20) die ethnologischen Ausstellungen als „Spielzeuglager“ oder „Antiquitätengewölbe“ bezeichnet, so ist das sicher nicht mehr nur ein fachliches Urteil. Es handelt sich um eine scharfe Polemik. Obgleich man im Rückblick diese Auffassung als vorurteilsbeladen qualifizieren kann, sollte sie Ethnologen zu denken geben. Der Autor war ein prominenter Kulturkritiker, dessen Stimme zu seiner Zeit Gewicht hatte. So wurde in den Jahren nach dieser Veröffentlichung das völkerkundliche Museum in Berlin tatsächlich umgestaltet und fand später in Schefflers Augen ein milderes Urteil.7

Wichtiger für eine weitergehende Analyse der heutigen Lage ist aber die Schefflers Kritik zugrundeliegende Beschreibung des Verhältnisses von Kunstgeschichte, Kunst und Ethnologie. Zu einem Zeitpunkt, an dem zumindest einige Museen im deutschsprachigen Raum, wie z. B. München, sich dezidiert als Kunstmuseen darstellen (Gareis 1990), erscheint die von ihm empfohlene strikte Trennung anachronistisch. In der Konsequenz hätte die Trennung damals bedeutet, eine Objektgruppe, sobald sie als „Kunst“ Anerkennung findet, aus der ethnografischen Sammlung zu entfernen. Mehrfach haben sich Ethnologen in den darauffolgenden Jahrzehnten deutlich gegen die Trennung ausgesprochen (Harms 1990, Kohl 2010, Lavachery 1950). Dabei bleibt allerdings offen, wie mit solchen, auch als „Weltkunst“ klassifizierten Objekten umzugehen sei. Sind sie in die regional gegliederten Ausstellungen zu integrieren? Sollte man solchen Objekten einen besonderen Raum und eine spezifische Inszenierung vorbehalten?

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Ethnologie betrifft die Gegenwart von Museen mit ethnografischen Sammlungen genauso wie die Anfänge des Faches. Wie der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer (2008) ausführt, existierten schon im 19. Jahrhundert Brücken zwischen Ethnologie und Kunst. Nach Pfisterer ließ schon damals die Verbindung von Kunst und Ethnografie die Option einer noch näher zu beschreibenden Weltkultur aufscheinen. Pfisterer zufolge wären als frühe Zeugen für eine solche globale Utopie an erster Stelle Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt zu nennen. Beide vertraten eine kulturrelativistische Auffassung von Kunst und plädierten für eine Vielfalt ästhetischer Prinzipien und damit auch für eine breite Auffächerung der Zugänge zu Kunst. Eine solche breite Kunstauffassung, die damals mehr als eine Idee denn als empirische Tatsache beschrieben wurde, könnte heute die Grundlage dafür legen, tatsächlich von einer „Weltkunstgeschichte“ zu sprechen. Dies ist zumindest ein Vorschlag von Horst Bredekamp, der sich dabei auf die Studien von Franz Kugler bezieht (Bredekamp 2013).

Auch wenn manche Autoren dies einschränken, indem sie die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Kunstprinzipien evolutionistisch interpretieren, so gibt es doch immer wieder auch Aufrufe, die Bewertung und Einordnung in der Kunstgeschichte radikal zu überdenken. Pfisterer betont zudem, dass es auch später, etwa in den 1920er-Jahren, Apelle zur Öffnung zur Kunst gab. All dies könnte heute als Fundament und Vorläufer der Idee einer „Weltkultur“ im Sinne einer Zusammenstellung von Kunst verschiedenen Kulturen verstanden werden. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass wenigstens damals Ethnologen kaum mit solchen Perspektiven hervorgetreten sind.

Wie ein Blick auf die 1930er-Jahre zeigt, könnte Leo Frobenius als einer der wenigen Fachleute gelten, die damals eine solche Auffassung als praktisches Arbeitsprogramm nutzten. Immerhin ist es ihm zu jener Zeit gelungen, eine positive internationale Resonanz für seine Ausstellungen zur weltweit verbreiteten Felsbildkunst zu erhalten (Kuba 2016). Jedoch ist die Frage zu stellen, ob die seinen Aktivitäten zugrundliegende Sammlung – eine große Anzahl von Kopien von Felsbildern – überhaupt als ethnografische Sammlung im engeren Sinne zu bezeichnen wäre. Zudem würde Frobenius seine Arbeit selbst wahrscheinlich weniger als Beitrag zur Ethnologie der lebenden Gesellschaften weltweit verstehen, sondern eher als ein empirisches Argument für sein spezifisches Anliegen, nämlich der Rekonstruktion der Kulturgeschichte Afrikas und darüber hinaus.

Die Bilanz nach den 1920er-Jahren ist also ernüchternd: Museen mit ethnografischen Sammlungen hatten nicht nur ihre Attraktivität für die universitäre Ethnologie verloren, sie waren zudem massiv unter Kritik von Seiten der Kunstgeschichte geraten. Man sprach den von Ethnologen gestalteten Ausstellungen die Fähigkeit ab, historische Aussagen oder solche über Weltkunst zu vermitteln und plädierte für eine Arbeitsteilung, die unweigerlich zu einer Zerstückelung dieser Sammlungen geführt hätte. Das ist in etwa der Zustand, in dem sich diese Museen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs befanden, und vor diesem Hintergrund ist in den 1960er-Jahren erneut eine deutliche Kritik an Inhalten und didaktischen Prinzipien dieser Museen aufgekommen. Sie soll im folgenden Abschnitt kurz erläutert werden.

Musentempel contra Lernort8: Neuorientierung ethnologischer Museen

In der sogenannten Museumskrise der 1960er- und 70er-Jahre spielten die ethnologischen Museen eine zentrale Rolle. Zu jener Zeit fokussierte sich das Unbehagen mit dem Zustand der Museen einerseits auf die unbefriedigend niedrigen Besucherzahlen, andererseits beruhte es auf dem Verdacht, die soziale Zusammensetzung der Besuchergruppen entspreche nicht der Sozialstruktur der Bevölkerung (Schulze, Te Heesen/Dold 2015). Die Forderung lautete, mehr Besucher aus unteren Einkommensgruppen und mehr Bürger mit Migrationshintergrund – also, im Jargon jener Zeit „Gastarbeiter“ – für die Ausstellungen zu interessieren.

Diese Forderung hat unverkennbare Parallelen zu den 1920er-Jahren: Die Orientierung an der akademischen Ethnologie war weniger gefragt; an deren Stelle rückte die Sorge um die Besucher. Es gibt aus der Zeit der „Museumskrise“ ein Selbstzeugnis einer jungen Generation von Museumsfachleuten und Ethnologen, die gemeinsam nach neuen Wegen ethnologischen Ausstellens suchten. Es handelt sich dabei um einen Rundbrief in der Form einer jährlich einmal verschickten Broschüre mit dem einprägsamen Titel „Museum – Information – Forschung“ (=MIF). Diese in insgesamt 15 Heften (1973-1988) erschienene Zeitschrift orientierte sich, wie der Titel schon andeutet, an damals populären zeichentheoretischen Analysen der Gesellschaft: Aus der Überzeugung heraus, das Museum sei ein Ort der Vermittlung von Informationen, enthält jedes einzelne Heft Beiträge mit kritischen Bilanzen sowie der Analyse von Zielsetzungen einzelner Museen zwischen Bremen und Stuttgart. Sorgfältig wird beschrieben, welche Informationen zu einer Objekterfassung gehören (Nixdorff/Vossen 1973), und welche Zielgruppen beispielsweise durch die damals neu erarbeitete Peru-Ausstellung in Frankfurt am Main angesprochen werden sollen (Münzel 1973).

Heute, 40 Jahre später, zeigt sich, in welchem Ausmaß diese Zeitschrift das Dokument eines Aufbruchs ist. Es handelt sich um einen schonungslosen Versuch, die Grundlagen eines ethnologischen Museums und seine Spezifik neu zu definieren. Die klassische zeichentheoretische Frage „Welche Informationen vermitteln ethnografische Objekte und Ausstellungen an welche Besuchergruppen?“ führte die in der Zeitschrift vertretenen Autoren zur schonungslosen Kritik an den bisherigen Ausstellungspraktiken sowie zu der Forderung, Präsentationen ethnografischer Sammlungen komplett neu auszurichten. Die Frage nach dem Stellenwert von Informationen erschien als eine neue Priorität für Ausstellungen, zugleich warf sie jedoch auch grundlegende Probleme auf. So fragte man sich, ob „Kulturwandel“ hinreichend thematisiert wird, oder ob die Ausstellungsmacher die Marginalisierung der Amazonas-Indianer angemessen erläutert hätten. Kritik an den neuen Vermittlungszielen wurde ebenso zurückgewiesen wie der in zeitgenössischen Rezensionen in Feuilletons ausgesprochene Verdacht, die Objekte würden in solchen Ausstellungen durch die Texte zurückgedrängt (Heintze 1974).

Die innovative Kraft der neuen Ansätze war offensichtlich. Aber was waren die Wirkungen, und in welcher Weise wurden solche Ausstellungen vom Publikum aufgenommen?

 

Solche Fragen wurden an ausgewählten Beispielen offen und kritisch erörtert, etwa in der Ausstellungsbesprechung von Volker Harms mit einer Gruppe von Studierenden der Universität Tübingen über die damals neu konzipierte Dauerausstellung des Linden-Museums (Harms 1986). Der umfassende Charakter dieser Besprechung ist beeindruckend: Für diese Rezension wurde erstmals für die deutschsprachige Ethnologie eine systematische Besucherbeobachtung durchgeführt. Das Ergebnis ist nicht überraschend, aber für die Verantwortlichen der Ausstellung wahrscheinlich eher enttäuschend: Sehr viele Besucher lesen die langen Texte nicht, und überhaupt lässt das Besucherverhalten nicht darauf schließen, dass die Inhalte umfassend und systematisch zur persönlichen Information genutzt wurden.

Einerseits handelt es sich also um eine ernstzunehmende Entwicklung, deren Wirkungen bis in die Gegenwart spürbar sind. Besucherbefragungen gehören mittlerweile zum Standard aller Museen (Noschka-Roos/Lewalter 2013). Damit verbunden ist der Aufstieg des Arbeitsbereiches der Vermittlung, Museumspädagogik und im weiteren Sinne die Reflexion über inhaltliche Anliegen von Museen. In den letzten Jahren hat sich der Konsens durchgesetzt, dass museale Ausstellungen ethnografischer Objekte nicht mehr einfach Beschreibungen und Nebeneinanderstellungen von kulturellen Zeugnissen sind, sondern sich die Museumsfachleute einer selbständigen Definition von Zielen und Vermittlungsaufgaben verpflichtet fühlen (Fischer 1971). Das Museum wird hier ganz eindeutig als Lernort gesehen, womit sich solche problematischen Unterscheidungen wie die noch von Karl Scheffler vorgeschlagenen erübrigen.

Andererseits ist hier eine überraschende Einseitigkeit zu konstatieren: Die Objekte sind in diesen Reflexionen nicht mehr als Werkzeuge des Zeigens. Sie werden zu einem bloßen Medium der Erklärung über Inhalte, die im Grunde unabhängig von den verfügbaren Sammlungen zu definieren sind.9 Die hier zu konstatierende „Dingvergessenheit“ macht aus den Ausstellungen seltsam hybride Gebilde: Zwar werden durchaus noch Objekte aus den Sammlungen gezeigt – es gibt sogar Debatten darüber, was die didaktisch optimale Zahl an Objekten sein könnte – aber im Grunde entscheidet doch die Bereitschaft der Besucher, sich die begleitenden Texte anzueignen, über den Erfolg im Sinne von „vermittelter Information“.

In dem 1988 erschienen, letzten Band von „Museum – Information – Forschung“ kommt ein Journalist, ein fachfremder Autor zu Wort und thematisiert dieses Scheitern: Ihm zufolge sind die Museen für Ethnologie deshalb wenig überzeugend, weil den Ausstellungen eine „Unentschiedenheit“ anhaftet (Möller 1990). Der Journalist Johann Michael Möller lehnt ganz offen die Versuche der Kontextualisierung ab und prangert auch die Tendenz an, aus Ausstellungen „Lesehallen“ zu machen. Nach Möller gibt es keine Alternative zur Aneignung der Dinge durch den Besucher, wenn es überhaupt einen Zugang zu den ethnografischen Objekten geben soll.

Offensichtlich ist die Entlastung der Objekte durch umfassende erklärende Texte, Bilder und Filme nicht ausreichend, um dadurch das Ziel einer eindeutigen Vermittlung von Inhalten zu erreichen. Damit sind die in den 1970er-Jahren neuen semiotische Modelle ebenso fragwürdig, wie die Idee, bestimmte Inhalte im Sinne von „Botschaften“ durch Ausstellungen zu vermitteln. Möller weist solche Vorgehensweisen zurück und plädiert anstelle dessen für Ausstellungen, die sich auf eine Formengruppe oder eine Region beschränken und durch das geschickte Nebeneinanderstellen oder Gegenüberstellung von herausragenden Objekten deren Charakter hervortreten lassen. Wenig überraschend lobt Möller die Tatsache, dass mit Werner Schmalenbach in diesem letzten „Rundbrief“ auch ein Kunsthistoriker zu Wort kommt.

Die Parallelen dieser Kritik zu dem von Scheffler inszenierten „Museumskrieg“ der frühen 1920er-Jahre sind unübersehbar. Wieder wird die Kunst zu einem Argument, ethnologische Inhalte infrage zu stellen. Im Unterschied zu damals berufen sich die Museumsethnologen nun aber nicht mehr auf den Vorrang der wissenschaftlichen Arbeit. Ethnologie als Forschungsfeld und Ausstellungen mit ethnografischen Objekten sind im Zeithorizont von 1970 schon längst voneinander entkoppelt. Ethnografische Sammlungen sind kein Forschungsgegenstand mehr, sondern dienen primär als Werkzeuge der Vermittlung. Museen sind keine Forschungsstätten, sondern Einrichtungen der Erziehung für bestimmte Bereiche der Erwachsenenbildung (Frese 1960:104). Zeitgleich mit dem allmählichen Verschwinden ethnologischer Forschung aus den Museen orientiert man sich an einem dezidierten Vermittlungsziel. Botschaft und Aussage einer Ausstellung wird damit zum zentralen Anliegen. Sicherlich ist es aus heutiger Perspektive einseitig und fragwürdig, das Museum zum „Lernort“ zu erklären (Spickernagel/Walbe 1976). Aber die damals geführte Debatte leistete einen wichtigen Beitrag, um die gesellschaftliche Rolle von Museen zu hinterfragen und eine Neujustierung zu fordern.

Was war aber damals die Rolle ethnologischen Wissens in solchen vermittlungsorientierten Ausstellungen? Wie die Kritiker dieser Entwicklung nicht müde wurden herauszustreichen, wurden die Botschaften der Ausstellung gleichberechtigt mittels Objekt, Text und Bild transportiert. Das alte Prinzip der Fokussierung auf Objekte und der Verweis auf ihre genaue Herkunft war außer Kraft gesetzt, die Dinge standen nicht mehr im Mittelpunkt. Ethnologische Erkenntnisse wurden durchaus noch eingesetzt, aber eine spezifische Beziehung zu den Objekten fehlte.

In einer gewissen Weise gab es auch während dieser Neuausrichtung eine Verbindung zwischen universitärer Ethnologie und Museen. Aber diese Verbindung bezog sich nicht mehr auf die Objekte in den Sammlungen, sondern viel mehr auf die Inhalte und Botschaften der Ausstellung. Nachdem die ethnologische Forschung sich schon über Jahrzehnte hinweg nicht mehr für Museumssammlungen interessiert hatte, entwickelten Museumsethnologen neue Ziele und didaktische Prinzipien, um die Option der Vermittlung von Information unabhängig von den ethnografischen Sammlungen zu realisieren.

Trotz mancher Leistungen hatte der neue Ansatz bestimmte Mängel. Im Rückblick ist der Begeisterung für die neuen Ideen und der damit verbundenen besucherorientierten Innovation der Befund einer problematischen Verkürzung gegenüberzustellen. Die Bestimmung von Museen als Orte der Erwachsenenbildung stellt im besten Fall eine partielle Beschreibung der Möglichkeiten von Museen dar. Diese Bestimmung ist eng an semiotische Modelle von Gesellschaft angelehnt; aber ihr fehlt ein spezifischer Zugang zur Materialität der Objekte. Man suchte die Wahrheit „hinter den Dingen“ aber nicht mehr die Potentiale der Multivokalität der Objekte selbst (Münzel 2003). Ganz allgemein lässt sich vermuten, dass die Autoren der Zeitschrift „Museum – Information – Forschung“ nicht bereit waren, Fragen nach den spezifischen Eigenschaften der Gegenstände in den ethnografischen Sammlungen in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungen zu rücken.

Im Lichte einer umfassenden Kritik der historischen Entwicklung von solchen Museen hat der Pädagoge Edward Norris (1991) eine weitere Parallele zwischen der Situation im 19. Jahrhundert und den Ausstellungen der 1970er-Jahre identifiziert. Norris konstatiert eine „Trivialisierung der Allgemeinbildung“, bei der die Information über „Kulturen an anderen Orten“ reduziert wird auf das, was in den Augen der inhaltlich Verantwortlichen für den Besucher relevant sein könnte. Ging es im 19. Jahrhundert um Evolution, Exotik und Primitivität, so standen in den 1970er-Jahren internationale Kapitalverflechtung, Dependenztheorie und Kolonialgeschichte im Vordergrund. Die Sammlungen wurden zu Illustrationen globaler politischer Zusammenhänge. Museen (und im 19. Jahrhundert Kolonialausstellungen) werden als Einrichtungen der öffentlichen Erziehung instrumentalisiert. Sie erziehen den Bürger zum „Sehen“ gemäß bestimmter politischer Vorgaben (Hooper-Greenhill 1992), verlieren darüber aber das Potential des Museums, nämlich die Augen zu öffnen und zum Staunen anzuregen.

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