Die unschuldige Königin

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2.8.

Im nun folgenden Winter geschieht noch etwas. Ana Théla ruft nach Hilfe. „Hilfe“ schreit sie und die Geschwister machen sich sofort auf den Weg nach Mexiko. Nicht nur Elvira und ihre Generation. Alle, sogar Opa Leon und Chénoa.

In Mexiko hatte es wochenlang geregnet. Nun war ein Staudamm gebrochen und bedroht gut zwanzig Dörfer und mehrere Städte am Unterlauf des Flusses. Sie evakuieren in aller Eile Dörfer, bringen Rinder, Hunde, Ziegen und Schafe auf die Bergkämme und sie bauen nun mit der Kraft ihrer Energie einen gewaltigen unsichtbaren Staudamm, der die herantosenden Fluten aufhält. Dann öffnet Tante Chénoa den Staudamm links und rechts ein wenig, und sie lässt das Wasser ablaufen. Es dauert sechs lange Stunden und sie sind danach alle völlig groggy. Nur Chénoa und einige der Großen, so, wie Opa Leon und Clara haben ihre Kraft noch und sie springen mit der ganzen Kindergruppe zu Onkel Nakoma und pflegen sie.

Es ist ein Ereignis, das beängstigt und zugleich Mut macht. Die Familie erlebt zum ersten Mal den ganz großen Zusammenhalt. Sie erlebt, was die Familie erreichen kann. Naturgewalten sind gewaltige Ereignisse. Tausende Tonnen Wasser, Schlamm und Steine, die durch ein Tal brausen, die sind eine Gewalt, die scheinbar durch nichts aufgehalten werden kann.

Sie haben diese Flutwelle aufgehalten. Es ist ein befriedigendes und tief greifendes Erlebnis.

In der nächsten Nacht liegt Elvira in den Armen von Rochen. Sie schläft mit Rochen, und sie schreit alles aus sich heraus. Sie legt all diese Erlebnisse in dieses eine Mal der Liebe, und sie muss das danach noch einmal und noch einmal tun. Sie wütet und sie schreit vor Zufriedenheit und Wollust.

Erst dann kann sie Rochen von dem Ereignis erzählen. Sie kann nicht weinen, sie kann nicht lachen, und sie will ihn einweihen. Rochen kennt einige ihrer Kräfte. Von diesem Ausmaß hatte er bisher keine Ahnung gehabt. Er hält Elvira bewundernd in den Armen. Er streicht ihr sinnend über die Stirn und den Arm und diesmal sagt Rochen „Whow“. Das sagt er sonst nicht. Rochen ist nicht leicht zu beeindrucken, aber diesmal ist Rochen wirklich beeindruckt.

In dieser Nacht geht die Aktivität ganz von Elvira aus. Sie will noch mal und noch mal mit Rochen schlafen. Schließlich dämmern sie zusammen weg. Die Sonne steht schon auf und weil es Winter ist, ist das schon ziemlich spät. An diesem Tag muss jemand aus der Gruppe Rochens Dienst übernehmen. Das kommt sonst nie vor, aber Rochen ruft Pedro an, und meint, „ich kann hier jetzt nicht weg. Mach du das heute Vormittag für mich. Um eins bin ich wieder auf dem Posten.“

Kapitel 3. Die Unschuld der Jugend
3.1.

Trotz seiner Jugend ist Rochen bereits ein mächtiger Mann. Er befehligt eine gewaltige Truppe von gut ausgebildeten Männern und Frauen.

Nun, „befehligen“ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Die Truppe besteht aus Freiwilligen. Sie besteht aus Jungen und Mädchen, die alle ihre traurige Geschichte hatten, die sie zu etwas Einzigartigem gemacht hat. Es gibt in dieser Truppe viele, die sofort an die Stelle von Rochen hätten treten können.

Rochen hat ein einzigartiges Team. Dennoch ist Rochen der Kopf der Truppe. Er zieht Fäden. Er macht Vorschläge. Er hört zu. Er berät, er lässt abstimmen. Vieles, was geschieht, kommt als Vorschlag aus der Truppe. Wo von selbst etwas Gutes entsteht, da braucht Rochen sich nicht einzumischen. Er kann das dann laufen lassen. Außerdem ist kein Mensch unfehlbar. Dennoch steuert Rochen das Geschehen. Er bleibt unsichtbar im Hintergrund, und er kennt viele andere mächtige Männer und Frauen.

Vielleicht soll ich diese Geschichte von Rochen einmal erzählen, aber in diesem Buch geht es nicht primär um Rochen. Wenigstens soviel solltet ihr über Rochen wissen: Rochen ist serbokroatisch-deutscher Abstammung. Sein Vater hatte seiner Zeit wohl diverse Kriegsverbrechen verübt und er war nach Deutschland gekommen, um hier unterzutauchen. Er hatte hier mit einer Deutschen ein Kind gezeugt, aber er hatte an dem Kind kein Interesse, und es gab wohl noch mehr solcher Kinder mit anderen Frauen. Rochen weiß das heute noch nicht so genau.

Sein Vater hatte mit Heroin gehandelt. Nicht als kleiner Dealer, sondern durchaus in verantwortlicher Position, und er war irgendwann auf offener Straße erschossen worden. Das war bei einem dieser Bandenkriege, die es in dieser Zeit gegeben hatte.

Solange der Mann noch lebte, war er spendabel gewesen, wenn es darum ging, mit Madeleine um die Häuser zu ziehen. Als Madeleine dann schwanger geworden war, hatte der Vater das Interesse an ihr verloren, er tauchte nur manchmal auf, aus welchen Gründen auch immer.

Weil er sehr bestimmend war, und weil er sehr charmant sein konnte, wenn er etwas wollte, hatte er Rochens Mutter immer wieder rumgekriegt. Rochens Mutter hatte von diesem Mann aber nur ganz selten ein paar Euro bekommen, seit sie schwanger geworden war. Es muss eine harte Zeit gewesen sein. Rochens Mutter lebte in dieser Zeit von der Sozialhilfe.

Ein paar Jahre später hatten die U-Bahn-Kids den kleinen Jungen aufgelesen, weil er sich beim Klauen so ungeschickt angestellt hatte. Sie hatten ihn unter ihre Fittiche genommen.

Dann war Rochen, der damals bei den Kids noch Horst genannt wurde (was sein bürgerlicher Name ist) aufgeblüht und irgendwann war er in die geheime Gruppe von Roy aufgenommen worden. Durch seine Geschichte war er geprägt, und die Gruppe von Roy war für ihn wohl das richtige Auffangbecken.

Als Rochen größer wurde, passierten dann mehrere Vorfälle, so dass „Horst“ bald „der Stachelrochen“ genannt wurde. Bei der Verfolgung der Heroindealer war „Horst“ unerbittlich. Die Kids hatten das schließlich auf Rochen verkürzt. Das war leichter auszusprechen. Seit dieser Zeit war dieser Name haften geblieben. Den andern Namen hatten die Kids vergessen.

Das Schicksal seines Vaters hatte Rochen dazu gebracht, sich in der Organisation von Roy gegen die mächtigen Dealer zu stellen. Das geschah nie in einer offenen Auseinandersetzung. Roy hatte da seine eigene Methode, in dem Geschehen unsichtbar zu bleiben, und Rochen war ganz in diese Organisation hineingewachsen. Er hatte von Roy gelernt, der wie ein Vater für ihn geworden war.

In so einer Position braucht man eine legale Identität, und so hatte Rochen irgendwann eine zivile Ordnergruppe im Zentrum übernommen. Er unterstützte seine Mutter immer noch mit Geld, aber er hatte ihr auch längst einen Job besorgt, von dem sie leben konnte. Den Kontakt hatte er aber weitgehend abgebrochen. Er hatte hier seine Aufgabe.

Rochen ist trotz seiner jungen Jahre schon ein harter und mächtiger Mann, und er hat sich dennoch in die kleine Elvira verliebt.

Aber das beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Elvira wächst jetzt durch Rochen, und Rochen wächst durch Elvira. Rochen öffnet Elvira auch eine ganz neue Welt. Nicht, wie wenn man eine Tür aufstößt, sondern indem man langsam, ganz langsam die Klinke herunterdrückt, und dann die Tür Zentimeter um Zentimeter öffnet, bis sie ganz offen ist, und man durch sie hindurch tritt, in diese neue Welt.

Obwohl Rochen stahlhart sein kann, ist Rochen für Elvira ein zärtlicher und doch anleitender Liebhaber. Er weiß genau um Elviras heimliche Qualitäten. Elvira muss gefördert werden. Durch Elvira erfährt er jetzt eine jugendliche Zartheit und gleichzeitig eine Wildheit, die ihn überrascht und fast verblendet. Zartheit und ungestüme Wildheit, das sind vollkommene Gegensätze, aber Elvira beherrscht diesen Spagat. Sie frisst Rochen geradezu auf.

Es ist nicht so, dass sie nicht mehr aus dem Bett herauskommen. Elvira hat Aufgaben. Rochen hat Aufgaben. Sie nehmen das sehr ernst. Sie vernachlässigen ihre Pflichten nicht. sind Teil eines Systems, das mit ihnen und dank ihnen funktioniert. Elvira steht darin noch am Anfang, aber sie beginnt das Geschehen um sich herum langsam zu gestalten und zu steuern.

Man fragt sich als Außenstehender, wie kann das sein. Ein knallharter Mann, der im Drogengeschäft groß geworden ist, und der dennoch ganz zart mit Elvira umgeht. Ist das überhaupt möglich? Doch es ist dieser Spagat, den auch Rochen so unvergleichlich beherrscht, denn genau so, wie er seinen Freunden zuhört, genau so, wie er sie in ihrer Entwicklung fördert, so knallhart ist er, wenn es um die Durchsetzung von Prinzipien geht. Und genau diese Haltung findet er auch bei Elvira. Elvira ist für ihr Alter ungewöhnlich prinzipientreu und hart in der Sache, obwohl sie auch ein Vertreter der sanften Überzeugungsmethode ist. Reden darüber, was gut ist, aber ein kategorisches Nein zu Abweichlern, die nicht in das Schema passen. Das hat sie bereits von Oma Katharina und Lara gelernt. Ein Zentrum dieser Größenordnung ist ohne eine innere und äußere Ordnung nicht durchführbar. Chaos wird nicht geduldet.

Ein Jahr später sieht Oma Katharina ihre Tochter Lara lächelnd an und meint. „Verstehst du jetzt, dass ich Elvira als die zukünftige Königin des Zentrums sehe?“

Der Begriff „Königin“ ist nur ein Synonym. Eine Beschreibung. Nicht wörtlich zu verstehen, aber Lara weiß natürlich, was Mama da meint. Sie nickt. „Wer hätte das geahnt, dass der gefährliche Rochen und die jugendlich zarte Elvira derart aneinander wachsen. “Ich sehe und beobachte das jeden Tag. Ich sehe, wie Elviras Selbstbewusstsein wächst. Ich sehe, welchen Einfluss sie auf die Kids hat. Sie braucht nur irgendwo aufzutauchen und sie ist der Mittelpunkt des Geschehens. Nein, nicht vielleicht wie du das denkst. Sie lässt das Geschehen laufen, aber es genügt ein Wort oder eine Handbewegung, dann hören die Kids auf Elvira. Ich habe das schon ein paar mal erlebt. Es ist fast zum Fürchten, aber Elvira hat inzwischen den Wert des Begriffes Demut verinnerlicht. Sie nutzt das nicht aus, aber manchmal benutzt sie diese Kraft. Diese Aura, die sie umgibt. Dann steuert sie das Geschehen, sorgt für Ruhe, und lenkt die Menschen in eine bestimmte Richtung. So etwas kenne ich in letzter Konsequenz nur von Chénoa. Leon hat das auch, aber Elvira ist Leon schon jetzt in vielen Dingen überlegen. Es ist ein Wunder.“

 

Elvira weiß von diesem Gespräch nichts und das ist auch gut so.

Elvira und Rochen sind sich ihrer Kraft bewusst und sie steuern mit zarter Hand. Alle beide. Jeder auf seine Weise. Rochen und Elvira haben sich wirklich gefunden. Sie sind sich ebenbürtig.

3.2.

Elvira ist nicht blind. Ihre Mutter ist eine Schönheit gewesen, und sie selbst ist auch eine Schönheit. Sie ist dunkelhaarig und schlank. Sie hat einen zarten Teint und lange Wimpern. Ihre Augen sind groß und dunkelbraun, von einer Farbe, die man als warmes kastanienbraun bezeichnet. Sie ist körperlich noch nicht ausgewachsen, aber sie hat bereits jetzt volle Brüste. Nicht riesig, sondern es passt einfach alles zusammen. Sie ist grazil, fast tänzerisch, und sie hat einen leichten, fast schwebenden Gang. Das fröhliche Wesen hat sie von Oma Katharina und von Lara geerbt und wenn Elvira lacht, dann liegen ihr die Männer zu Füssen. Sie sieht auch die Blicke, die sie ihr hinterher werfen.

Viele Kids im Zentrum wissen, dass Elvira mit Rochen zusammen ist. Sie machen kein Geheimnis daraus, aber sie zeigen das auch nicht in aller Öffentlichkeit. Jeder hat irgendwo seine eigenen Aufgaben und Bereiche. Sie sind in ihrem jeweiligen Bereich Ansprechpartner für alle.

Ein paar der Kids hatten versucht, Elvira anzugraben, aber sie waren ziemlich schnell von den Freunden in die Seite gestoßen worden. „Lass das lieber. Elvira ist tabu.“

Elvira lässt so etwas auch gar nicht zu. Sie geht lächelnd darüber hinweg. Sie ignoriert das einfach. Bisher war ihr noch niemand zu nahegetreten, oder war gar zudringlich geworden. Elvira verbreitet Respekt. Sie kann oder will sich das nicht erklären. Es ist einfach nur da. Sie hört zu und sie gibt Impulse, wenn es notwendig erscheint. Viele der Kids haben das im letzten Jahr gespürt. Elvira hat so etwas entwickelt wie einen untrüglichen Instinkt, verbunden mit diplomatischen Fähigkeiten. Anders als bei Politikern kann man sich aber voll und ganz darauf verlassen, was Elvira sagt. Wenn sie etwas verspricht, dann hält sie das auch.

Manchmal sitzt sie bei den Gruppen und hört nur zu. Manchmal nimmt sie eines dieser Notenblätter und kritzelt plötzlich versonnen darin herum. Sie ändert Texte oder einzelne Noten oder Takte. Manchmal ist sie bei Tonaufnahmen dabei und drückt plötzlich auf Stopp. Dann sagt sie ein paar Worte, so wie, „das mach mal etwas kräftiger“, oder „nimm dich mal ein bisschen zurück, mit mehr Gefühl und Zärtlichkeit, bevor du deine Stimme laufen lässt“. Manchmal sagt sie, „ich möchte, das der Chor das jetzt eine Oktave höher begleitet, in Kopflage, wie ein Engelschor“. Irgendetwas in dieser Art. Wenn die Kids dann später die Bänder anhören oder die Videos ansehen, nicken sie. Elvira sieht und hört Dinge, die andere nicht sehen und hören.

Vieles ist Elvira nicht bewusst und es ist ihr auch egal. Sie ist, was sie ist. Ein Teil der Gruppe. Durch Lara und Oma Katharina war sie unbewusst in diese Rolle hineingewachsen und Rochen, der legt auch ein Stück seines Einflusses in diese Mixtur.

Elvira tut das auch bei den Tänzern. Sie tut das bei bei den Kids auf den Halfpipes, oder sie mischt sich mit leichter Hand in irgendwelche Gespräche im großen Saal. „Kann man das nicht so oder so machen??“ Langsam entwickelte sich Elvira zu einer Art guter Geist des Zentrums. Sie gibt Tipps, sie vermittelt, und wenn sie gerufen wird, ist sie zur Stelle.

Sie braucht ihre Kraft nicht einmal bewusst einzuschalten. Sie ist einfach da. Die Kraft begleitet Elvira jetzt auf Schritt und Tritt. Dabei geht sie immer noch zu den Treffen der Geschwister und sie übt. Sie drängt sich auch dort nie in den Vordergrund. Sie ist einfach da, wenn sie gebraucht wird, und sie hilft mit leichter Hand. Selbst Chénoa, die manchmal dabei ist, die staunt. Das ist schon fast unheimlich. Elvira hat ihre ganz eigene Form der Kraft gefunden, und sie baut sie jeden Tag ein Stückchen mehr aus.

Sie ist eine Art Integrationsfigur geworden. Sie braucht einen Raum nur zu betreten, und sie wird zu einem unsichtbaren Zentrum dieser Versammlung, wie ein schlagendes Herz, das die Muskeln, das Gehirn und die Knochen mit Blut und Sauerstoff versorgt.

Rochen hatte das damals gespürt. Diese tief verwurzelte Kraft. Er bekommt ständig geheime Berichte, auch über Elvira, und er lacht dann manchmal leise in sich hinein. Er liebt dieses Mädchen von Tag zu Tag mehr.

3.3.

Es gibt in diesem Halbjahr nichts irgendwie Herausragendes. Es ist, als läuft das Zentrum besser als vorher. Es ist, als wenn die Kids im Untergrund etwas glücklicher sind als sonst, und auch die Gruppe von Rochen hat etwas mehr Erfolge in der Verfolgung der Drogenmafia als sonst.

Oma Katharina und Lara fällt das natürlich auf, und auch Rochen ist sich dessen bewusst. Der Grund hierfür ist nur Elvira und vielleicht die tiefe Befriedigung, die sie in ihrem Verhältnis zu Rochen gefunden hat, aber das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.

Dabei ist Rochen so wachsam wie immer. Vielleicht noch eine Spur wachsamer, denn er weiß, wer verliebt ist, der ist angreifbar, und er instruiert seine Truppe, das Geschehen im Zentrum und in seinem Wohnblock noch etwas besser im Auge zu behalten.

Elvira und Rochen können sich über sehr ernste Dinge unterhalten, aber wenn sie Sex miteinander haben, dann „kracht die Kiste“, wie man so sagt. Nein, das ist nicht so ein Ringkampf, den manche Paare miteinander veranstalten. Sie sind neugierig. Sie probieren alles Mögliche aus. Sie sind mal ekstatisch, mal ruhig. Manchmal schreien sie vor Lust und manchmal liegen sie sich nur genüsslich in den Armen und atmen nur die Haut und den Geruch, der sich durch ihre Liebe verändert hat. Manchmal ist Elvira dominant, manchmal Rochen. Sie sind stets voller Respekt und Achtung voreinander, und sie tun nie etwas, um den anderen zu verletzen.

Ursprünglich hatte Rochen Elvira angeleitet. Sie war damals ja noch Jungfrau gewesen, aber Elvira hatte längst die Initiative ergriffen, und sie kann sagen, wenn sie etwas will, und wie sie es will. Man muss sich nur gegenseitig zuhören und auch die jeweilige Stimmung erfassen. Elvira ist genauso aufmerksam, wie Rochen. Sie passen einfach zueinander. Nur in ihrem andern Leben, da können sie völlig anders sein. Nicht nur Rochen ist gefährlich, auch Elvira kann gefährlich werden.

Einmal war sie mit der U-Bahn gefahren, als eine Gruppe Jugendlicher das Abteil stürmte. Sie hatten Messer. Einer von ihnen hatte eine Pistole und sie bedrohten die Fahrgäste.

Elvira war nur ruhig aufgestanden, sie war ihnen entgegengetreten und plötzlich spuckte ihr Körper geradezu tödliche Energie aus. Die Energie entlud sich unsichtbar. Es war keine dieser blitzartigen Entladungen, die Opa Leon früher manchmal benutzte. Lara hatte sie das gelehrt, und Elvira war inzwischen sogar viel besser als Lara geworden.

Die Jugendlichen wurden zurückgeworfen, wie durch eine unsichtbare Faust. Sie krachten an die Verbindungstür, sie fielen durcheinander, dann blieben sie aufeinander kleben, wie magnetisiert. Sie konnten sich nicht rühren und fingen an zu jammern.

An der nächsten Station öffnete Elvira die Tür, sie sah zwei der U-Bahn-Polizisten und winkte sie heran. „Wir haben hier ein Problem.“

Die Polizisten funkten nach Verstärkung, Die Fahrgäste erzählten, die Polizisten protokollierten. Die Jugendlichen klebten aneinander, wie durch Sekundenkleber festgehalten. Elvira war immer noch im Zug. Sie löste jetzt den Bann, so dass die Polizisten einen nach dem anderen aus dem Knäuel herauslösen konnten. Sie legten ihnen Handfesseln an und führten sie bei der nächsten Station ab.

Als Rochen wenig später davon hörte, schmunzelte er. Sein Informationssystem funktionierte phantastisch. Einer der Beamten hatte einen der Kids angerufen, und der hatte Rochen informiert. In dieser Nacht „explodierte die Kiste“, aber diesmal war Rochen das steuernde Element. Er versenkte sich in Elvira, um nicht herauszulachen. Er legte alle seine Bewunderung und seine Liebe in diesen Akt der Befreiung, in dieses sexuelle Erleben der Wollust, bis sie schrien wie die wilden Tiere.

Seit dieser Zeit legt sich in der U-Bahn niemand mehr mit Elvira an.

Sie hatte nichts getan, das irgendwie sichtbar gewesen wäre, aber die Berliner Gangs sind nicht dumm. Solche Gerüchte gibt es um den Clan von Leon seit Jahren. Mit Lara hatten sie das schon ein paar mal erlebt. Lara ist „unantastbar“. Jetzt war wieder so etwas passiert. Völlig unerklärlich eigentlich, durch nichts nur annähernd nachzuweisen. Dennoch ist es da. Viele der Gangs sind auch im Zentrum. Sie kennen Elvira. Sie kennen Rochen. Im Zentrum wagen sie es nicht, irgendetwas anzuzetteln. Der Einfluss von Katharina ist einfach zu stark. Sie hatten auch erlebt, dass Elvira stets so etwas war, wie eine unsichtbare Göttin, wenn sie einen Raum nur betrat.

Langsam begannen sich die Berliner Gangs vor diesem Mädchen zu verneigen.

3.4.

In diesem Jahr kommt Irina nach Berlin. Sie hat nach dem Abitur erst ein Jahr lang bei ihrem Vater und bei Vera in der Fabrik gearbeitet. Sie hat überall hospitiert. Sie hat an Untersuchungen und Promotion-Aktivitäten teilgenommen, sie hat gelernt, was eine Umfrage ist, und wie man eine Marktstrategie entwirft. Sie hat bei den Buchhaltern reingeschaut und war auf den Trucks mitgefahren.

Irina war in diesem einen Jahr gereift. Sie ist nicht wiederzuerkennen.

Sie ist immer noch mit Paolo zusammen, der jetzt in Edinburgh studiert (das liegt in Schottland). Sie quartiert sich bei Oma Katharina ein und sie fängt an, sich einen Stundenplan auszuarbeiten. Im ersten Semester ist man da noch ungeübt, und alles ist ziemlich verwirrend.

Dann beginnt sie mit ihren Grundkursen. Sie findet das ziemlich spannend, aber sie meint, “wenn ich ganz im Studium aufgehe, dann kann ich nicht von der Familie lernen.” So beginnt sie, sich im Zentrum und bei den Kids im Untergrund umzusehen, und sie fängt an, von der “Familie” zu lernen. Sie hat längst begriffen, dass alle diese Freunde ihre Familie sind, auch wenn nicht immer eine genetische Verwandtschaft nachzuweisen ist.

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