Die unschuldige Königin

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1.5.

Nur wenige Wochen findet dann die große und weiße Hochzeit von Opa Leon und Vera statt. Sie kommen alle nach Wittenberge, in diese kleine Stadt in Brandenburg, wo Opa Leon die große Fabrik der Mac Best Food Corporation befehligt. Nun nicht nur das. Auch die gesamte europäische Organisation all dieser vielen Firmen, die inzwischen der Familie von Leon gehören.

Nur wenige von Elviras Freunden haben die Kraft durch den Raum zu gehen, so wie Tante Lara. Die ist mit Oma Katharina direkt nach Wittenberge gesprungen. Elvira ist schon einmal in Opas neuem Haus gewesen. Sie hätte auch dort hin springen können. Sie fährt aber mit Mama und den kleinen Geschwistern in einem dieser Sonderbusse nach Wittenberge, die Oma Katharina für die Freunde aus Berlin organisiert hat. Nur ihr Stiefvater bleibt zu Hause. Der hat dringende Aufgaben.

Die Fahrt ist sehr lustig. Viele von Elviras Freunden wollen dabei sein, wenn Opa Leon seine Hochzeit feiert. Die Sonderbusse sind brechend voll, und und sie sind alle guter Laune. Schon im Bus fangen sie an zu feiern. Sie haben Luftballons und Konfetti mit. Viele sind bunt geschminkt und haben Phantasiekleider an, Clowns, Bänkelsänger, Bären, Affen oder Manga-Mädchen. Eine ganze Reihe von Musikgruppen fahren mit, und sie stimmen schon während der Busfahrt Lieder an. Opas Hochzeit ist ein fröhliches Ereignis.

Es ist wirklich eine wunderbare Hochzeit. Die ganze Stadt ist geschmückt und feiert. Mehr noch. Der ganze Landkreis und darüber hinaus. Es ist ein gigantisches Volksfest und Elvira spürt an diesem Tag, dass ihre Familie noch viel viel größer ist, als dieser Zweig der Familie in Berlin. Allein in dieser kleinen Stadt arbeiten mehr als dreiviertel der Menschen direkt oder indirekt für Opas Fabrik und Opa Leon hat es geschafft, sich überall Freunde zu machen.

Es ist ein fast überschäumendes Fest und eine unglaubliche Gemeinsamkeit und Herzlichkeit. Es ist schlecht zu schätzen, wie viele Menschen heute hier sind, aber die ganze Stadt ist voll mit Menschen. Die Massen ziehen sich bis vor die Tore der Stadt. Überall gibt es Events, Tische, Bänke, Buden, Gebratenes, Kuchen und Getränke. Es gibt Hundeschauen, Malwettbewerbe, Karussells, Ponyreiten, Motorradstunts, Stelzenmänner und Zauberer, und auch die Weisse Flotte ist gleich mit mehreren Ausflugsschiffen gekommen.

Elvira bleibt an diesem Tag bei Mama und ihren kleinen Geschwistern, damit die in dem Gewühl nicht verlorengehen. Sie erlebt, wie glückselig ihre kleinen Geschwister Eileen, Roger und Juan überall mitmachen. Opa Leon hat wirklich an alles gedacht. Na ja, eigentlich war es Oma Katharina gewesen. Sie hat dieses fröhliche Fest für Leon und Vera organisiert.

Es ist ein Fest für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und für Alte, Arme und Reiche. Niemand kommt zu kurz. Vielleicht das Schönste ist, dass das Wetter an diesem Tag mitspielt. Es ist ein wunderbar warmer Tag.

Es gibt auch eine Hochzeitskutsche, die von acht Pferden gezogen wird, mit der Opa Leon und Vera am frühen Abend nach Hause fahren, begleitet von ganzen Scharen von Fotografen, die in den nächsten Tagen die bunten Blätter mit diesen Bildern füllen wollen. Traumhochzeiten lassen sich immer gut verkaufen.

Die Familie ist wirklich in vielen Teilen der Welt vertreten. Nicht nur in Berlin und in Brandenburg. Auch ihre Geschwister aus Peru, Mexiko und Amerika sind gekommen.

Eins wird Elvira an diesem Tag bewusst. Sie wird anfangen noch mehr zu lernen. Sie wird von Oma, Opa und Lara lernen, in dieser großen Organisation eine Rolle zu übernehmen. Sie wird mit den Geschwistern in Übersee mehr Kontakt aufnehmen. Elvira weiß schon, dass Opa und Tante Chénoa Pläne haben, um das möglich zu machen. Elvira ist an diesem Tag stolz, ein Teil dieser Familie zu sein. Dass das ganze Fest natürlich auch eine Promotionveranstaltung ist, um den Ruf der Stiftung auf der Erfolgsleiter zu halten, ist Elvira schon bewusst. Das die Veranstaltung sehr teuer ist, das ist ihr auch klar, aber die Präsenz in allen bunten Blättern, im Fernsehen und im Internet ist einfach unbezahlbar.

Sie selbst wird sich zunächst weiter darauf konzentrieren, in ihrem Teil der Welt, dort in Berlin, alles zu tun, damit es den Freunden gut geht.

Elvira ist zu diesem Zeitpunkt gerademal zwölf. Da ist es naheliegend, sich zunächst einmal dem direkten Umfeld zu widmen, also an das, was einem am nächsten liegt.

Lara liest Elviras Gedanken. Sie nimmt in einem ruhigen Moment Elvira und Oma Katharina zur Seite und sie sagt. „So ist es richtig. Wir müssen versuchen in unserer kleinen Welt Ordnung zu halten. Oma Katharina tut das, ich tue das, Maria und Pablo tun das, und du hast eben gesehen, dass du das auch tun musst. Verlieren wir nie die großen Dinge aus dem Auge, aber kümmern wir uns auch um unsere kleine Welt.“

Ja, Lara hat recht. Es ist ein wunderbarer Tag. Die Heimfahrt würde auch wunderbar werden. Elvira freut sich schon wieder auf ihre Freunde, die mit ihr aus Berlin gekommen waren, und die jetzt irgendwo dort in diesem Trubel untergetaucht sind. Irgendwann heute Abend werden sie gemeinsam nach Hause fahren und noch im Bus fröhlich weiter feiern. Elvira ist stolz auf ihre Freunde.

Am nächsten Tag gestattet sie sich, bei Oma Katharina anzuklopfen. Sie sieht sie lange an. „Oma. Ich kann mich deutlich an eure Rede auf der Konferenz erinnern. Jetzt hast du für Opa Leon und Vera dieses wunderbare Fest organisiert. Sage mir einmal ehrlich, tut das nicht weh?“

Oma Katharina seufzt, und sie nimmt Elviras Hände. „Es ist für dich schwer vorstellbar, nicht? Also höre mir einmal zu. Ich liebe Leon nun schon seit fast fünfzig Jahren. Wir sind einen großen Teil unseres Lebensweges gemeinsam gegangen. Wir haben uns körperliche Freuden geschenkt, und glaube mir, Leon ist ein wunderbarer Liebhaber. Du bist noch jung. Du verstehst nur, das man durch eine solche Trennung Schmerz erleidet, und dass du dir das gerne erhalten willst, was für dich gut ist, aber sieh es doch einmal so. Leon war nicht nur mein Mann, er ist einer meiner engsten Freunde, nun, eigentlich sogar der Engste. Denke einmal an deine Freunde unten im Tunnel. Würdest du nicht auch alles für diese Freunde tun?“

Elvira nickt. „Ja, aber...“

Oma Katharina lächelt. “Jede Freundschaft bedeutet auch Verzicht. Leon war früher nicht jede Nacht bei mir und heute ist er es auch nicht. Aber wir verstehen uns auch ohne Worte. Das macht eine besondere Freundschaft aus. Wenn wir dann zusammen sind, dann ist das wunderbar. Eins habe ich damals von Mila gelernt. Wir müssen begreifen, über den Schatten unserer Verletzbarkeit zu springen. Dann werden wir frei, und dann beginnen wir das Leben ganz neu zu genießen. Mach dir also keinen Kopf. Mir geht es gut. Ich habe Leon und Vera glücklich gemacht. Die Familie ist wieder einen Schritt weitergekommen. Mir geht es gut. Glaube mir.“

1.6.

Elvira kann nur zwei Tage in Berlin bleiben. Opa hat die Kinder der Familie nach Peru eingeladen. Nicht die eigenen, sondern alle seine Enkelkinder, also die dritte Generation. Es gibt einige Geburtstage, die gefeiert werden müssen. Sie werden sich oben bei Onkel Nakoma treffen, auf diesem riesigen Gestüt, das Nakoma besitzt. Die vielen Geschwister werden zum ersten mal mindestens eine Woche zusammenbleiben, um ihre Kräfte gemeinsam zu üben.

Elvira kennt die Geschichten um die Begründung der Familie. Oma Katharina und Lara hatten ihr das oft genug erzählt. Wenn du leben willst, hatten sie gesagt, dann musst du etwas über deine Geschichte wissen. Deine Geschichte ist die Geschichte deiner Familie, und die hat genaugenommen mit Opa Leon begonnen. Alles was vorher war, das ist nicht wirklich von Bedeutung, denn Opa Leon hat zum erstenmal die Kräfte entwickelt, die heute alle unsere Familienmitglieder kennzeichnen. Nicht die eingeheirateten, aber die Kinder und Enkelkinder von Leon. Das verpflichtet. Diese Kräfte machen dich zu etwas Besonderem, hatte Tante Lara gesagt, aber wir dürfen uns nie überheblich zeigen. Lerne von deiner Familie.

Lara ist die Tochter von Opa Leon und Oma Katharina in Berlin. Sie ist ein Genie. Lara hat eine eigene Werbeagentur und sie hat eine Filmgesellschaft, die vorwiegend Videoclips für Musiker und für die Werbung dreht. Lara ist oft bei Ihrer Mutter im Musikzentrum. Schließlich leitet Oma Katharina dieses Zentrum seit über 40 Jahren. Lara kennt all diese Musiker, Tänzer und die Cracks in den Halfpipes, die im Zentrum ein- und ausgehen. Sie hat vielen dieser Cracks zu Bekanntheit und Ruhm verholfen und sie hat Elvira schon viele Kontakte in ihrem erst zwölfjährigen Leben vermittelt.

Weil Elvira bei Oma Katharina im Zentrum aufgewachsen ist, war Lara so etwas wie eine zweite Mutter für sie geworden. Lara ist nicht einfach nur Lara. Sie hat enorme übersinnliche Kräfte. Sie kann Menschen beeinflussen und steuern, und sie hat Elvira seit der Geburt in ihre „Schule“ genommen. Dann wohnen auch noch Pablo und Maria Anethé bei Oma. Zwei von Opas erwachsenen Kindern aus Peru. Sie haben in Berlin studiert. Pablo ist jetzt 27 und Maria ist 25. Sie arbeiten jetzt beim Fernsehen und in der Presse, aber sie wohnen immer noch bei Oma Katharina. Naja. Nicht direkt in der Wohnung. Auf der Etage gibt es mehrere Gästewohnungen, die für die Familie reserviert sind.

In einer dieser Wohnungen wohnen Pablo und Maria Anethé. Sie haben einen spanischen und einen altindianischen Namen. So heißt Pablo mit seinem zweiten Namen zum Beispiel Mathé, was soviel heißt, wie „der weise Heerführer“. Nun ja. Das war eine andere Kultur.

 

Maria und Pablo haben sich in Berlin richtig eingelebt. Pablo hat inzwischen eine Freundin. Sie ist Dänin und arbeitet mittlerweile bei einer Zeitung in Kopenhagen. Sie hatten sich über das Studium kennengelernt. Birthe hat eine Weile mit Pablo zusammen gewohnt, und auch Maria hat einen Freund. Ricky ist Engländer. Er managt Musikgruppen. Er hat im Zentrum ein großes Büro, er hat eine große Wohnung in Berlin, und er hat in London noch ein zweites Büro. Ricky ist gut im Geschäft. Durch Maria ist seine Zukunft natürlich gesichert. Maria hat durch Oma Kontakte, die Ricky viele Türen aufschließen können.

In letzter Zeit hat Elvira zu Pablo und Maria jedenfalls nicht soviel Kontakt gehabt. Sie sind viel unterwegs und sie gehen jetzt ganz in ihrem Job auf. Sie haben manchmal Konferenzen mit Oma und Katharina, wo sie Elvira nicht mitnehmen, aber sie sind natürlich auch oft bei Oma zu Besuch. Manchmal zum Frühstück, oder am Abend. Dann wird immer viel gelacht und es werden Dinge besprochen, die Elvira hochinteressant findet. Manches kann sie mit ihren 12 Jahren auch noch nicht verstehen.

1.7.

Opa Leon hatte fünf Kinder mit Oma Mila in Peru gezeugt und zwei Kinder mit Oma Katharina in Berlin. Dann war da noch Onkel Nakoma. Auch der ist Opas Sohn, aber der ist nur wenige Jahre jünger als Opa Leon, und das kam so: Opa Leon war in jungen Jahren mehrfach in Südamerika gewesen. Dort hatte er auch die Königsstadt der Péruche entdeckt. Ein purer Zufall? Vielleicht. Opa Leon hatte irgendwelche Schwingungen gespürt, dann war er mit seinen Gedanken in die Erde unter ihm gekrochen. Dann hatte er gegraben, und er hatte Wertvolles gefunden. zwei Wochen später war er wieder da, diesmal in Begleitung von Oma Mila und einem Indio, den sie in den Bergen aufgelesen hatten, und der ihnen als Führer gedient hatte. Das ist Nakoma. Wie durch ein Wunder hatte er plötzlich auch die Kräfte erhalten, die Elviras Familie auszeichnen.

Elvira ist mit den Geschichten der Familie vertraut, aber sie ist weit davon entfernt, alle Enkelkinder von Opa zu kennen. Onkel Nakomas fünf Kinder haben selbst schon fast alle Kinder, und zusammengenommen hat Opa heute schon weit über 60 Kinder und Enkelkinder. Da ist es schon schwer, alle zu kennen und alle Namen zu wissen. Sie leben ziemlich verstreut in Amerika und in Deutschland. Elvira kennt nicht einmal die Hälfte davon. Dass es so viele Enkelkinder sind, liegt auch daran, dass Elviras Vater Paco und Onkel Fred so viele Kinder in die Welt gesetzt hatten, teils wahllos und teils ganz bewusst. Elviras Vater hatte es getrieben, wie ein durchgeknalltes Karnickel, und Elvira ist nicht stolz darauf, aber es ist nun mal so, wie es ist.

Von diesem Geschehen in Amerika ist Elvira immer weit weg gewesen. Sie ist hier in Berlin geboren und sie ist hier aufgewachsen. Sie kennt Lara, Pablo und Maria Anethé und sie kennt auch Irina und Dimmy, die jetzt bei Opa Leon in Wittenberge wohnen. Sie kennt einige der Geschwister in Peru und Mexiko. Viel mehr weiß Elvira nicht über die weitverzweigten Familienverbindungen.

Als Irina im Spätsommer gefordert hatte, dass sich die Kinder und Enkelkinder von Opa Leon endlich alle kennenlernen sollten, damit die Familie ihren Zusammenhalt wiederfindet, hatte Elvira das richtig gut gefunden. Sie war erst zwölf und bisher war das nicht ihre Sorge gewesen, aber der Vorfall dort in Amerika hatte sie nachdenklich gemacht. So etwas wie mit Boris durfte nie mehr passieren. Es war das erste Mal, dass ein Mitglied der Familie seine Kraft verloren hatte. Sie würden sich in Demut üben müssen, das ist Elvira jetzt klar.

Anders als in Wittenberge, ist das geplante Treffen in Peru nur für die Enkelkinder der Familie. Alle Kinder, die irgendetwas von den übersinnlichen Fähigkeiten geerbt haben. Viele von ihnen sind darin nur ungenügend ausgebildet. Nicht alle werden kommen, aber vielleicht 30 oder 35. Elvira weiß das nicht genau.

Sie wird endlich einmal einen großen Teil der Geschwister kennenlernen und etwas über die Städte und Familien erfahren, in denen die einzelnen Kinder leben. Sie werden aber auch gemeinsam über die Hochebene reiten, dort in Peru, sie werden alle im Freien campieren. Sie werden sich in Tiere verwandeln und sie werden versuchen, elektrische Felder zu produzieren. Das wird sicher Abenteuer pur und es ist ein Stück Familie. Ihre leibliche Familie.

Elviras kleine Geschwister müssen zu Hause bleiben. Sie haben nicht das Blut von Opa Leon. Sie haben nicht die Kraft, durch den Raum zu gehen, so wie Elvira. Sie sind traurig, dass Elvira sie verlassen wird, aber Elvira wird ja wiederkommen. Mama hat Elvira an sich gedrückt. Sie weint ein bisschen. Nein, es ist keine Trauer. Es ist Glück, dass Elvira diese Chance bekommt. Juanita unterstützt Elvira in all diesen Dingen. Sie hat von Oma Katharina, von Opa Leon und von Lara gelernt, dass auch sie und all ihre Kinder ein Teil der Familie sind. Nicht so, wie Elvira, sie wird nie diese Kräfte haben, aber Elvira, die soll die Chance bekommen, mehr aus sich zu machen.

Elvira schnürt sich einen warmen Schlafsack und eine Isomatte. Sie packt sich eine Tasche mit warmer Kleidung, denn im Herbst kann es auf der Hochebene schon ziemlich kalt werden, und sie springt jetzt zu Opa Leon nach Wittenberge. Sie kennt die Adresse. Nur dadurch geht das, dieser Sprung in Opas Haus in Wittenberge.

Opa Leon und seine neue Frau Vera werden mitkommen nach Peru. Wie eine Hochzeitsreise, aber Elvira weiß natürlich, dass Opa Leon den Kontakt zu seiner Familie halten will. Es ist eine Art Urlaub im Kreis der Familie. Irina und Dimmy werden natürlich auch mitkommen.

Elvira kennt die beiden schon seit ein paar Jahren. Eigentlich nur flüchtig. Sie sind ein paar Mal in Berlin gewesen und sie leben jetzt in Wittenberge. Es wird Zeit, einmal mehr voneinander in Erfahrung zu bringen.

Lara hatte ein paar Mal mit Elvira darüber geredet. „Ihr seid inzwischen so viele, aber ihr kennt euch nicht einmal. Es wird Zeit, dass wir das organisieren. Wir können das nicht beeinflussen, ob ihr euch versteht und ob ihr lernt, euch als Geschwister zu fühlen. Das ist eure Aufgabe. Ihr habt das in der Hand. Ihr entscheidet, ob die Familie zusammenwächst oder auseinanderfällt.“

Elvira war ein paar Mal bei wichtigen Konferenzen der Familie dabei gewesen. Sie hatte diesen inneren Zusammenhalt gespürt, und sie weiß auch, wie wichtig dieser Zusammenhalt ist. Bei ihren Freunden im Berliner Untergrund ist das so. Im Musikzentrum ist das so, und zuletzt hatte sie das bei Opas Hochzeit in Wittenberge erfahren. Ja wirklich. Dieser innere Zusammenhalt gibt ihnen unendlich viel Kraft.

Irgendwann wird die Verantwortung auf den Schultern ihrer Generation liegen. Elvira ist noch sehr jung, aber das weiß sie genau. Das muss gut vorbereitet werden. Sie wird die Kraft der Familie noch brauchen.

1.8.

Im Laufe des Tages trudeln alle bei Onkel Nakoma ein. Nakoma hat inzwischen eine Art Gästehaus und eine große Halle gebaut, nur für die Familienmitglieder. Es gibt gemeinsame Schlafsäle für zehn bis zwölf Kinder, die mit Matratzen ausgelegt sind, und es gibt Zweier-, Dreier- und Viererzimmer.

Das Gebäude ist über einen Gang mit dem Wohnhaus von Nakoma verbunden. Es gibt dort eine große Lounge und eine riesige Küche und dort leben auch ein Teil der vielen Hunde, die Nakoma hat. Große, graue, braune und schwarze Hirtenhunde mit langen zotteligen Haaren. Eine eigene Züchtung, die in der Hochebene wunderbar zurechtkommt. Es ist hier immerhin über 3.000 Meter hoch. Jetzt im Herbst wird es schon empfindlich kalt.

Elvira tritt als erstes hinaus, in diese wunderbare Landschaft. Es gibt hier so etwas wie einen Indian Summer. Nun, nicht in der Art, wie in Nordamerika, aber Gräser, Blumen und Büsche hatten die Farbe gewechselt, sie sind jetzt strohig gelb-braun. Draußen gibt es Koppeln, in denen die Pferde von Nakoma weiden. Diese kleinen Pferde, die Nakoma für das Hochland gezüchtet hat, und auch die „Arans“, die Verbindung aus Arabern und den Pferden der nordamerikanischen Prärien, der Mustangs. Jetzt im Herbst ist das Gras fest, nahrhaft und gut verdaulich. Elvira zieht die Luft tief ein. Es riecht hier würzig und frisch. So ganz anders als in Berlin.

Irina tritt plötzlich neben sie. Sie schiebt die Hand unter Elviras Arm und blinzelt in die Sonne. „Schön hier“, sagt sie. Nun, auch Irina kennt das. Sie ist schon oft hier oben gewesen, und es ist immer wieder ein besonderes Erlebnis, hierher zu kommen. Für Irina ist das jetzt noch aus einem andern Grund etwas Besonderes. Sie war im Sommer fünfzehn geworden und sie hatte sich das gewünscht, hier oben den Geburtstag zu feiern, im Kreis der Familie.

Zehn Tage können ziemlich kurz sein. Zumindest, wenn so viele neue Mitglieder der Familie da sind. Einige kennt Elvira schon, so wie die Kinder von Tante Chénoa und Tante Clara. Auch die Kinder von Onkel Fred kennt sie und auch die Kinder, die Papa und Zehra zusammen gezeugt haben, und die zu ihren kleinsten Geschwistern zählen. Papa und Zehra waren mitgekommen.

Auch wenn der Bezug zu ihrem leiblichen Vater Paco nie da war, so ist er doch ihr leiblicher Vater, und sie spürt an den Energieströmen von Papa etwas Vertrautes. Etwas, was sie selbst auch hat. Es ist, wie eine Art Band zwischen ihnen.

Als sie das Irina erzählt, nickt Irina. „Ja, das kenne ich. Ich habe meinen Vater Fred in den letzten Jahren nicht sehr oft gesehen, aber ich kenne das, dieses Band, und zwischen Opa Leon und mir gibt es dieses Band auch. Es ist inzwischen viel stärker, als bei Fred. Es ist, wie als wenn ich ein Teil von Fred und Leon wäre.“

„Naja, das bist du ja auch“, meint Elvira, „du bist ja schließlich Freds Tochter, und Leons Enkeltochter.“

Es ist gut, dass es in der Kindergruppe einige erfahrene Kids gibt. Da sind besonders die beiden Ramons, die Kinder von Tante Chénoa und von Tante Clara. Dann sind da noch Maria (die Tochter von Onkel Nakoma) und Solveig, die jüngste Tochter von Clara. Sie sind Meisterinnen in der Kunst der Heilkräuter und sie können in Tiere und Menschen „hineinkriechen“, um Krankheiten aufzuspüren.

Jedes der erfahrenen Kinder ist in einer anderen Disziplin besonders gut, und nur die „Neuen“, die Kinder aus Pacos wildem Leben, die sind völlig untrainiert. Sie staunen manchmal mit offenen Mündern und sie beginnen von den Kräften der Geschwister zu lernen.

Zwei Dinge bleiben Elvira in diesem Herbst besonders in Erinnerung. Der Ausflug mit den Pferden in die Hochebene und der Ausflug mit Tante Chénoa.

Der Ausflug in die Hochebene ist wunderbar. Sie hatten das schon einmal vor ein paar Wochen gemacht, direkt nach Opas Hochzeit vor dem Standesamt. Dieser Ausritt jetzt, diese Nächte in Zelten und in Schlafsäcken, zusammen mit den Geschwistern, die brennenden Feuer und das gemeinsame Baden in den klaren Bergseen, das ist einmalig schön.

Sie nehmen jetzt wieder Kontakt auf zu den Condoren, zu den Füchsen und den Bären, die es hier oben gibt. Sie lassen sich von den Mäusen erzählen, und sie verwandeln sich in Adler, um über die Hochebene zu fliegen. Auch das können „die Neuen“ noch nicht. Sie müssen noch viel lernen. Als sie zum ersten Mal vor einem ausgewachsenen Bären stehen, sind einige der „Neuen“ ziemlich erschrocken, aber das legt sich bald. Die Tiersprache beherrschen sie recht gut. Das war am Anfang auch so ziemlich das Einzige, was sie konnten. Jetzt nehmen Sie die Energie der Geschwister auf, wie wärmende Strahlen der Morgensonne, wenn auch zunächst in kleinen Dosen.

Auf jeden Fall ist dieser Ausritt eine besondere Art des Zusammenwachsens. Sie kuscheln sich nachts zusammen. Sie spüren die gegenseitige Wärme. Sie spüren, wenn es gegen Morgen richtig kalt wird, und sie müssen auch die Pferde bewachen. Die Hundemeute übernimmt den größten Teil der Arbeit, aber auch die Hunde brauchen Führung.

Dann stößt Tante Chénoa zu der Gruppe. Sie bildet mit allen Kids einen großen Kreis. Sie nimmt sie mit an den Fuß des Vulkans, der dort auf einer dieser Hochebenen liegt. Sie verwandeln sich in Adler und sie fliegen in den Trichter des Vulkans, in dem ein klarer Bergsee liegt. Es riecht eigentümlich nach Schwefel, und die Nackenhaare stellen sich bei Elvira auf. Danach erzeugen sie gemeinsam mit Chénoa ein Energiefeld, das einen Sturm entfacht, der über die Hochebene fährt. Ein kleiner Sturm nur. Sie sind ja noch ungeübt. „Lernt, eure Kraft gemeinsam zu entwickeln, lernt sie zielgerichtet einzusetzen und achtet stets die anderen Menschen und die Tiere“, warnt Chénoa an diesem Tag.

 

Elvira befreundet sich in diesen Tagen mit Irina an, und die beiden Mädchen sehen sich bei Chénoas Worten an. „Whow“, denken sie im selben Atemzug. Es ist ein Erlebnis, das Angst machen kann und es ist ein Erlebnis, das zugleich Mut macht. Mut, solche Dinge, wie z.B. einen pyroklastischen Strom in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ja wirklich. An solchen Kräften müssen sie sich üben.