Schweizer Bahnen

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1877 eröffnet die Nordostbahn die Linie Winterthur—Basel. In Wülflingen entsteht eine typische Güterstation mit Billettschalter, die von den SBB mit einem definitiven Aufnahmegebäude ergänzt wird.

H. P. Bärtschi 1986.


Den grössten Güterbahnhof der Schweiz erstellt die Nordostbahn 1895 als Pflichtbau nach der Eisenbahnkrise in Zürich (2015 abgebrochen). Kammförmig angelegte Gleise ermöglichen das direkte Aus- und Beladen der Stückgüter in die beiden 411 Meter langen Hallen.

H. P. Bärtschi 1982.

Immer mehr Güterverkehr, immer schnellerer Personenverkehr

Mit dem Bahnbau setzt das Industriezeitalter seine beiden wichtigsten Massstäbe durch: immer mehr, immer schneller. Fabriken waren zuvor lokale und mit dem Seetransport ihrer Güter auch schon globale Phänomene, nun aber werden Güter und Menschen flächendeckend auf dem Festland mobil: Je mobiler die Arbeitskräfte und je billiger der Gütertransport sind, desto höher kann der Profit sein – immer mehr Kapital verliert seine lokale Bindung.

Reisen – ein Zustand der Ruhelosigkeit

Euphorische Zeitgenossen preisen das Reisen als neuen, zentralen Inhalt der industriellen Gesellschaft: Mobilität, Dynamik – nur Reisen ist Leben, proklamiert der zu Beginn der industriellen Revolution verstorbene Dichter Jean Paul. Endlich wird die Grand Tour, die oft mehrjährige Europareise junger, begüterter Söhne, schneller und bequemer. Mit der Eisenbahn erleben sie zum ersten Mal die ihnen sonst in Fabriken nicht zugängliche neue Technik. «Die Eisenbahn wird zu einem bedeutungsvollen Sinnbild der technischen Entwicklung. In der Eisenbahn vereinigten sich kapitalistischer Wirtschaftsgeist, exakte Naturwissenschaften und technisches Machbarkeitsdenken zum modernen Fortschritttsglauben.»81 Skeptische Zeitgenossen behaupten dagegen, die Geschwindigkeit der Eisenbahn vernichte den Raum, die Zeit und die Erfahrung, sie mache die Menschheit nervös, sei eine Bewegungstyrannei; die Eisenbahn ermögliche Zeitgewinn durch Zeitvernichtung. «Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet … vor meiner Tür brandet die Nordsee», schreibt der 1856 verstorbene Heinrich Heine.82 Die Entfernung verliert ihre Sinnlichkeit. Die eigene Ermüdung, die Ermüdung des Pferdes spürt man, diejenige der Maschine nicht mehr. Selbst im Falle einer aufkommenden Übelkeit kann man die Eisenbahn nicht zum Halten bringen, um auszusteigen: die Maschinerie hält uns unermüdlich in Trab, lässt uns in Eile verharren. Als Entschädigung für diesen Verlust von Raum zwischen Abreise und Ankunft steht uns jeder beliebige Ort zur Verfügung, wobei mit zunehmender Geschwindigkeit der Bezug zur Distanz abnimmt. Mit dem Raum geht auch die Wirklichkeit verloren, wir verlieren die Orientierung, stellt Wolfgang Schivelbusch 1993 in seinen Betrachtungen zur Geschichte des Reisens fest. Dadurch, dass sich die gesamte Bevölkerung in Bewegung setzt, schrumpft die Welt zum Weltdorf.

Die Eisenbahn beschleunigt die industrielle Revolution massgebend, sie verändert die alltägliche Erfahrungsmöglichkeit des Menschen grundlegend. Wohin könnte ich noch rasch fahren? Ein solcher Gedanke ist vor der Einführung der Eisenbahn müssig, weil «rasch» nicht möglich war. Ein weitgereister Mensch ist vor dem Eisenbahnzeitalter ein er-fahrener Mensch, der mit Intelligenz, Kommunikation und vor allem mit Resistenz lange Reisezeiten durchsteht. Die modernen Verkehrsmittel schützen die Reisenden vor Erfahrungen und schränken bei gleichzeitiger Zunahme der Eindrücke die Reizqualität ein. Auf der Fahrt in schnellen Verkehrsmitteln sind andere Sinne als das Sehen kaum angesprochen. Der Gesichtssinn erhält das Übergewicht über alle Sinne, wobei er überlastet wird: die Seh-Eindrücke nehmen im Vergleich zum Beispiel zum Wandern explosionsartig zu. «Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; so wie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei,» stellte Jacob Burckhardt fest.83 Der Blick muss sich verflüchtigen, er wird zerstreut. Victor Hugo bemerkte 1837 über eine der frühesten Eisenbahnreisen: Alles wird Streifen. Die Augen müssen sich auf unendlich fokussieren, sie suchen aus dem Abteilfenster einen festhaltbaren Ausschnitt aus einem Landschaftsbild. Das fahrende Abteilfenster hat so eine Sehgewohnheit erzeugt, wie sie später der Fotoapparat, der die Landschaft auf einen zweidimensionalen Ausschnitt reduziert, und noch später der Fernsehapparat, der auf einem Bildschirm einen bewegten Ausschnitt wiedergibt, voraussetzen.

Internationale Zeit: Fahrplanmässig Reisen, fahrplanmässig warten

Das Eisenbahnreisen erfordert eine weitere neue Sichtweise, nämlich diejenige der Uhrzeit: Züge verkehren sinnvollerweise nach Fahrplan. Den Blick auf die Uhrzeit hat bereits die rund vier Jahrzehnte vor der Eisenbahn eingeführte Fabrikarbeit erfordert. Die Fabrikzeit diente der Arbeitsdisziplinierung und der Arbeitsorganisation in der Fabrik; dafür genügt die Lokalzeit. Mit der Eisenbahn hält eine neue Form der Zeitwahrnehmung Einzug: der Kult der Pünktlichkeit muss sich grossräumig durchsetzen, denn entlang einer Strecke ist nun eine Einheitszeit notwendig. Die Eisenbahn weitete die lokale zeitliche Disziplin der Industrie zur überregional zu koordinierenden Zeit aus, auch wenn vorerst verschiedene Privatbahnen unterschiedliche Privatzeiten beibehalten. Erste Ansätze zur Zeitvereinheitlichung setzten sich in den 1840er-Jahren in England durch. Und in der Schweiz beginnt mit der Bundesstaatsgründung ab 1848 im europäischen Rahmen eine frühe, grossräumige Zeitvereinheitlichung. Im Jura blüht die Uhrenexportindustrie; Schweizer Uhren werden ein Symbol nationaler Identität, ergänzt durch ein protestantisches Ethos, das Arbeitseifer mit Pflichttreue und Zeitdisziplin gleichsetzt: Zeit ist Geld. Als verbindliche Schweizerzeit gilt die Zeit der Sternwarte Bern, welche ihre Zeitmessung telegrafisch zu übermitteln beginnt. 1859 erhält die Hauptstadt des Uhrenkantons Neuenburg eine neue Sternwarte, die ihre Messung mit der internationalen Telegrafenzeit abstimmt und nach Bern übermittelt.

Immer noch bleibt aber das Problem der unterschiedlichen Zeitzonen ungelöst, das Albert Riggenbach anschaulich so schildert: «Fahren wir mit einem Kourierzug, der 60 Kilometer die Stunde durcheilt und alle Stunden ein Mal anhält, genau ostwärts, so müssen wir an jeder Station unsere Taschenuhr um drei Minuten vorstellen.»84 1883 löst Washington an einer Konferenz das Problem für Amerika mit dem Stundenzonenkonzept, das auf der Londoner Greenwich-Zeit aufbaut. Ein Jahr später schliesst sich Europa mit der Westeuropäischen und der Mitteleuropäischen Zeit der Standardzonenzeit an. Bei diesem letzten Integrationsschritt ist dann allerdings die Schweiz nicht mehr führend. Genf hat seit 1848 mit der eigenen Sternwarte eine Lokalzeit beibehalten, und die Berner Zeit weicht sowohl von der mitteleuropäischen als auch von westeuropäischen Zeit um eine halbe Stunde ab, da der Zeitzonen-Meridian die Schweiz teilt. Nach heftigen Debatten um das «Zeitdiktat aus der Deutschschweiz»85 schliesst sich die Schweiz – «nur um es den Eisenbahnverwaltungen noch bequemer zu machen»86 – auf den 1. Juni 1894 der mitteleuropäischen Zeit an. Damit hat der internationale Verkehr auch die Schweiz endgültig zur Internationalisierung der Zeit gezwungen.

Die Anpassung an die internationale Zeit beschränkt sich aber nicht auf das Vorstellen des Uhrzeigers. Die Zeitvereinheitlichung ist grundsätzlich mit einem tiefgreifenden Wandel des Zeitempfindens verbunden, was eine Schrift zur Zeit der Zeitauseinandersetzung im Jahre 1893 unter dem Titel «Über die wachsende Nervosität unserer Zeit» anprangert: «Durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert; alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benutzt, selbst die ‹Erholungsreisen› werden zu Strapazen für das Nervensystem; grosse politische, industrielle Krisen tragen ihre Aufregung in viel weitere Bevölkerungskreise als früher.»87 Doch solche Klagen über den Verlust der Beschaulichkeit gehen in einer allgemeinen Fortschrittseuphorie unter. Ein Glaube, der Fortschritt mit automatischen, evolutionären Verbesserungen durch Fortschreiten der Zeit gleichsetzt, wird auch ohne besonderes Bekenntnis zur Lebenseinstellung. Diese huldigt der Illusion, dass man durch immer höhere Geschwindigkeiten immer mehr Zeit gewinne. Inzwischen haben wir dank umfassender Beschleunigung so viel Zeit gewonnen, dass wir für nichts mehr Zeit haben.

Bahnhof- und Reiseatmosphäre im Wandel der Zeit

Wer also fahrplanmässig reist, muss zu diesem Zweck zunächst einmal fahrplanmässig warten – und sich fahrplanmässig vorbereiten. Der Ort dieses für kurze oder längere Zeit erzwungenen Nichtstuns und Abgefertigtwerdens heisst Bahnhof. «Der Bahnhof»! Er ist Hauptdarsteller in vielen Filmen, atmosphärischer Schauplatz von Abreisen und Empfängen; Ort des Zurücklassens von Sorgen und Siebensachen zu Hause, Ort von Freude, Abschiedstrauer, Sehnsüchten und Ängsten. Die Dampflokomotiven mit ihrem «taktmässigen Gang der Maschinen und das Pfeifen und Schnauben des ausgelassenen Dampfes», wie Christian Andersen sich schon 1843 begeistert über die Bahnhofathmosphäre äusserte, dürfen nicht fehlen. In den ersten Jahren des Eisenbahnbetriebs ist der mittelgrosse Bahnhof eine hofförmige Anlage, ein «Sammelplatz für Waaren und Reisende», auf dem insbesondere die Reisenden mit einer gewissen Feierlichkeit empfangen und abgefertigt werden. Die Personenbahnhofbauten werden dementsprechend Abfertigungs-, Aufnahme- oder Empfangsgebäude genannt. Nach dem Abfertigen und Warten wird dann endlich der erwartete Zug angekündigt, durch den Klang der Bahnhofglocke. Schon die erste schweizerische Bahn stellt im Juni 1847 ein Reglement für Glockentöne auf. Die Reisenden werden noch lange über Glockentöne informiert: zehn Minuten vor Zugsabfahrt erfolgt ein erster Glockenschlag, der Lokführer muss sich abfahrbereit machen, der Kondukteur und der Bahnhofvorstand öffnen die Wartsaal- und Wagentüren. Mit zwei Glockenschlägen muss der ganze Zug mit den Reisenden und dem Gepäck fünf Minuten vor Abfahrt abgefertigt sein. Bei Abteilwagen schliesst der Kondukteur jede Tür einzeln mit einem Schlüssel von Hand ab. Ab 1902 allerdings dienen Glockentöne nur noch dienstlichen Nachrichten, und auch die letzten drei Bahnhofglockenschläge gelten nicht mehr als Abfahrsignal; der Zugführer muss darauf achten, dass die Reisenden alle Türen vor der Abfahrt geschlossen haben.

 

Der Zug fährt leise ab. Andersens Bahnreise beginnt 1843 mit dem Pfiff der Lokomotive: «Sie klingt nicht hübsch, sie hat viel Ähnlichkeit mit dem Schwanengesang des Schweins, wenn ihm das Messer in den Hals dringt … der Conducteur schliesst den Schlag und nimmt den Schlüssel zu sich, aber wir können die Fenster herunterlassen.»88 Unabhängig vom Streckenzustand und vom Komfort des Rollmaterials kann das Reisen ein geruhsames Vergnügen sein. Die Aussicht kann wie vorbeiflitzende Postkartenmotive erscheinen und die Lust des Fahrens zum Glückszustand erhöhen. Gewährleistet bleibt in der Bahn die Bewegungsfreiheit, man kann sich unterhalten, Bücher studieren. Zum Missvergnügen kann die Fahrt werden, wenn man von unangenehmen Umständen begleitet wird: ausgesetzt der Kälte oder Hitze, dem Durchzug oder Staub, inmitten von Gerüchen nach Abort, Ausdünstungen oder Zigarettenrauch. Der Leib scheint zum lebendigen Stückgut zu werden: Wie lange dauert es noch? Übelkeit, Verdauungsstörungen – ist es Reisekrankheit, die Aufregung, wegzufahren? Man sehnt das Ende der Reise herbei und sitzt ungeduldig in der erzwungenen Untätigkeit, sucht vielleicht den Anblick von Mitreisenden oder weicht dem gaffenden Blick anderer Mitreisenden aus. Man vertieft sich in die Reiselektüre und kommt endlich an.

Rentabilität im Dschungel der Tarife

Es ist das grundlegende Interesse der Bahn, immer mehr immer schneller zu transportieren. Nur so kann sie mit den bislang dargestellten Rahmenbedingungen wirtschaften: Beeinflussung durch die Politik, Verzinsung des Kapitals, Amortisierung der gewaltigen Bausummen, Verbrauch von Energie, Einrichtung von Sicherheitssystemen, Abnutzung und Überalterung des Rollmaterials und Besoldung des Personals. Den Schweizer Bahnen gelingt es, die Anzahl Züge pro Kilometer auf ihren Netzen von 1860 bis 1900 zu verdreifachen. Die Geschwindigkeit der Züge steigt inklusive Zwischenhalte je nach Strecke, Anhängelast und Triebfahrzeug von durchschnittlich 24,7 auf 55,3 Stundenkilometer. Nach der Jahrhundertwende verkehren pro Kilometer Bahnlinie jährlich zwischen 2000 und 38000 Züge – die höchste Zahl betrifft die Strassenbahn Genf—Veyrier.89 Den Rekord im Gütertransport weist die Gotthardbahn mit jährlich 500000 Tonnen pro Kilometer auf. Gute Streckenbelegungen ermöglichen die raschere Amortisation der Bauinvestitionen. Wirtschaftlich entscheidend sind schliesslich die Fahrkarten- und die Frachteinnahmen – und die Subventionen, schon im 19. Jahrhundert.


Edmondson-Billettkasten mit 56 Nachschubfächern für kleine Stationen, gefüllt mit einem breiten Sortiment von schweizerischen und ausländischen Fahrkarten 1950–2018.

Slg. H. P. Bärtschi.

Konkurse und mit Steuergeldern gerettete Privatbahnen, Katastrophen wegen mangelhafter Sicherheit der Bauten und des Rollmaterials und vor allem die zwischen den Privatbahnen entstehenden Transportschranken bedingen eine zunehmende Reglementierung des Bahnbetriebs. Hat der Bundesrat 1852 den Bau und das Betreiben von Eisenbahnen der Privatwirtschaft überlassen, so versucht er ab 1872 vor allem zu Gunsten der Industrie und der Landwirtschaft über Konzessionen und Tarifgrundlagen chaotische Verkehrszustände zu verhindern: Das eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement legt Betriebspflichten und Tarifsysteme fest. Militärtransporte und der Schienenpostverkehr werden vom Bund entschädigt. Tarifgrundlagen gibt es für den Personen- und Gepäckverkehr, Generalabonnemente sollen den Berufsverkehr und das Umsteigen von einer Privatbahn auf die andere erleichtern. Denn die Privatbahnkonkurrenz hat zu schwierigen Situationen geführt, die zum Beispiel die Fahrgäste einer Trambahn vor dem Kreuzen mit einer Hauptbahn zum Aussteigen und danach zum Wiedereinsteigen zwingen, denn die kleine Konkurrenzbahn darf die grosse Bahn nicht mit Passagieren kreuzen. Im Güterverkehr hat die Nordostbahn mit juristischen Tricks die Übernahme von Wagen der konkurrierenden Nationalbahn verhindert und diese zum Aus- und Umladen auf Nordostbahn-Wagen gezwungen. Erste Versuche der Privatbahnen, mindestens den direkten durchgehenden Güterverkehr zu regeln, gehen auf die Jahre 1860 bis 1862 zurück. Vorbilder sind die deutschen und die französischen Bahnen. Mit der Zunahme des Transitverkehrs wird eine Vereinheitlichung der Tarife immer dringlicher. Vor allem die grossen Transitbahnen, die Centralbahn und die Gotthardbahn, drängen darauf.

Der Güterverkehr ist in den ersten 120 Jahren der Schweizer Bahnen der dominierende Verkehr. Die Bahnen erlangen dabei – sei es regional, sei es im Transit – weitgehende Monopole. Der Güterverkehr generiert die grössten Einnahmen und benötigt, wie im Kapitel Rollmaterial dargestellt, die weitaus meisten Wagen. Industrie und Gewerbe haben ein existentielles Interesse, dass der Bahngüterverkehr reibungslos und günstig abgewickelt wird. Dabei ist ein Gerangel der verschiedenen Güterverkehrsteilnehmer nicht zu verhindern. Die frühen Bahnen befördern Güter in Stückformen, die von Hand bewegt werden und vorerst im Packwagen von Personenzügen. An der Grenze zu einer anderen Privatbahn müssen sie «oft eine wenig schonliche Umladung über sich ergehen lassen, ehe sie ihr Ziel erreichen».90 Um 1860 führen einzelne Privatbahnen Güterkurswagen ein, bei denen das Umladen entfällt. Das ist auch die Zeit der Einführung spezieller Güterzüge und der entsprechenden Infrastruktur: Güter müssen angenommen, ein- und ausgeladen und ausgeliefert werden. Im ersten Jahrhundert der Schweizer Bahnen wichtig ist die Beförderung von lebenden Tieren mit Einhaltung der veterinärpolizeilichen Vorschriften. Es entstehen die Hauptgattungen Stückgüterverkehr und Wagenladungsverkehr: Für grössere Sendungen können ganze Wagen genutzt werden. Kleinere werden in den Güterstationen aus- und umgeladen. Zu diesem Zweck entsteht eine umfangreiche Infrastruktur. Sie schafft auf Bahnstationen Gütergleise und umfasst auf dem Höhepunkt landesweit 1918 Güterbahnhöfe. In kleineren Stationen sind die Güterbahnschuppen mit den Personenaufnahmegebäuden zusammengebaut, manchmal sind auch Billettschalter in den Güterschuppen untergebracht. Problematisch bleibt zur Privatbahnzeit das Rangieren. Die Wagen sind nicht nach Zielen geordnet; somit muss in den Übergabestationen zu anderen Bahnen die Übernahmebahn umfangreiche Rangierarbeiten vornehmen. Ab 1875 entstehen erste Rangierbahnhöfe mit Einfahrts- und Abfahrtsgruppen und erste Ablaufberge. Diese ermöglichen das Hochziehen gemischter Züge, die dann wagenweise hinuntergelassen werden und per Weichenstellung in die richtigen Abfahrtsgleise rollen. Dort setzt ein Rangierarbeiter einen Hemmschuh auf die Schiene, damit der Wagen nicht auf den zusammenzustellenden Zug auffährt.


In den Übergabebahnhöfen müssen die Wagen rangiert werden. Auch 150 Jahre nach der allgemeinen Einführung der Schraubenkupplung verbinden und trennen die Rangierer die Wagen auf die altherkömmliche, gefährliche Art zwischen den Puffern.

Fotodienst SBB/VHS 1997.

Mit der Zunahme des industriellen Güterverkehrs erstellen die grossen Betriebe Anschlussgleise und kaufen sich firmeneigene Privatwagen, die vom Sende- zum Empfangsort in die Güterzüge eingereiht werden. Für die Belieferungen der Domizile mit Stückgütern stellen die Bahnen Verträge mit Pferdefuhrhaltern aus. Die Güterarbeiter organisieren die ganze Transportkette im «inneren Güterdienst» über Frachtbriefe. Anstelle eines Computers verfügen sie noch über ein grosses Hirn. Denn es gibt unzählige Kombinationsmöglichkeiten, die sich von Bahn zu Bahn unterscheiden können und pro Doppelzentner Transportgut verschiedene Tarife haben. Als teuerste Bahn verlangt die Nordostbahn 10 Rappen pro Wegstunde zu 4,8 Kilometer. Andere Bahnen haben Einkilometertarife. Im Stückgut- und im Wagenladungsverkehr gibt es Eilgutmöglichkeiten und verschiedene Klassen von Gütern. Eine schweizerische Eisenbahnkonferenz von 1878 bewirkt bis 1886 eine gewisse Vereinheitlichung. Nun kommen aber zunehmend Expeditionsgebühren und Wirtschaftslenkungs-Tarifabstufungen dazu. Sehr begünstigt sind der Transport von Kohle, Salz und Zuckerrüben, etwas weniger derjenige von Brot, Butter, Milch, Käse oder Getreide. Calciumkarbonat muss, soll es günstig transportiert werden, schweizerischen Ursprungs sein. Industrie- und Baustoffe wie Steine, Kalk und Gips, Erze und verarbeitete Metalle oder Holz und Papier liegen im mittleren Preissegment. Vergängliche Güter wie Bier müssen als Eilgut befördert werden; um die höchsten Tarife umgehen zu können, besitzen auch schon kleine Brauereien Privatwagen. Fix in diesem Quodlibet von Tarifen ist nur die Post: Da die Bahnkonzessionen dem alten öffentlichen Transportmittel das Monopol und die Einnahmen wegnehmen, muss die Bahn Sendungen bis 5 Kilogramm unentgeltlich in speziellen, von der Post gestellten Wagen mitnehmen. In diesen Postwagen sortieren Pöstler die Sendungen während der Fahrt. Um die Abgeltung für das Befördern von schwereren Sendungen wird seit Bestehen der Bahnpost gerungen. Die Abgeltungen der Post an die Bahn nehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um das Fünfzehnfache zu.91

Die Tarife im Güter- und Viehverkehr begünstigten die Industrie und die Landwirtschaft zu Lasten des Personenverkehrs. Für diesen besteht im Unterschied zu privaten Strassenverkehrsunternehmen eine Transportpflicht, wie sie auch für den Schienengüterverkehr gilt. Der Personenverkehr muss jedoch nach festgelegten Fahrplänen und streng streckenabhängigen Tarifen abgewickelt werden. Ab 1872 verhindert das eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement Umwegentschädigungen; nur der Weg auf der kürzesten gebauten Schienenstrecke darf in Rechnung gestellt werden. Das führt unter anderem zum Bau von unsinnigen Abkürzungsstrecken und zusätzlichen festen Kosten, ohne dass ein Mehrverkehr dies rechtfertigen könnte. Die Bahnen versuchen, das mit Tarif- und Komfortabstufungen wettzumachen. Im ersten gedruckten Fahrplan für die Nordbahn Zürich—Baden sind zwischen den fünf Stationen zehn Verbindungen möglich, und diese können in 1., 2., 3. und in der Kinderklasse gelöst werden. Das erheischt schon 40 verschiedene Fahrkarten mit entsprechenden Preisen. Nun kommen Retourbillette dazu und allerlei Ermässigungen zum Beispiel für Ausflugs- und Sonntagsreisen, für Rundfahrten, für Generalabonnemente, für Schüler und Familien, für Gruppen- und Gesellschaftsfahrten, für Militärpersonen und Krankenpflegerinnen. Später gibt es Zuschläge für die Benutzung von Schnellzügen oder von Bergbahnen mit besonderen Kilometersätzen, für das Mitnehmen von Kinderwagen, Fahrrädern und Hunden – und überhaupt für das Gepäck, für das die Bahnen spezielle Gepäckwagen anschaffen.


85 Prozent der Bahnreisenden können sich in der Privatbahnzeit nur die dritte Klasse leisten. Zum «Komfort» gehören Holzbänke, Durchzug, mangelhafte Heizung und Federung und im besten Fall Nachbarn, die gefälligst fragen sollten, falls sie rauchen wollen.

 

Sammlung H. P. Bärtschi 1966.

Wie nun sollen all diese Transportscheine ausgegeben und kontrolliert werden? Es ist der Engländer Thomas Edmondson, der 1838 Transportscheine aus Karton in der Grösse von 30 mal 57 Millimetern kreiert. Das vorgedruckte Billett zeigt auf einen Blick auch farblich erkennbar seine Gattung, den Ausgangs- und den Bestimmungsort, die Wagenklasse, die Geltungsdauer, den Preis und eine Kontrollnummer. Beim Verkauf des Billetts prägt der Stationsbeamte das Datum in das Billett ein und macht es so gültig. Zum System gehören eine Druckpresse und eine Nummerierungs- und Zählmaschine, welche das Abrechnen erleichtern. Das älteste erhaltene Edmondsonsche Billett ist auf den 31. Januar 1858 für die Strecke Subingen—Solothurn gestempelt.92

Wie sieht nun die Verteilung der Reisenden auf die «harte Klasse», die «weiche Klasse» und die «Luxusklasse» zur Privatbahnzeit aus? 85 Prozent der Reisenden setzen sich dem unbequemen Reisen in der dritten Klasse aus, nur etwa 14 Prozent können sich ein Zweitklassbillett leisten, das Erstklassreisen ist dem einen Prozent der Reichen vorbehalten.


Neben dem Aufdruck von Strecke, Klasse, Geltungsdauer und Preis dienen Farben, diagonale und horizontale Streifen dem Erkennen von Vergünstigungen. Mit der Schere stellt der Stationsbeamte Halbtax- und Kinderbillette her.

Slg. Beat Winterberger, Ausstellung Fribourg 2017.

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