Schweizer Bahnen

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Bergbahnen kurbeln den Tourismus an

Die ersten touristischen Bergbahnen müssen auf Grund des Eisenbahngesetzes von 1852 noch in Normalspur gebaut werden. So erhält der Rigi-Kulm ab 1871 die erste Zahnradbahn Europas in dieser Spur. Ihr Konstrukteur Niklaus Riggenbach feiert sich als Erfinder der Zahnradbahn. Erst viel später kommt ein Dossier zum Vorschein, das eine Dokumentation über die wirklich erste Zahnradbahn auf den Mount Washington in den USA enthält, in Auftrag gegeben von Riggenbach.32 Doch die beiden Bahnen von Vitznau und Arth-Goldau aus sind ein Erfolg, sie verdreissigfachen die Besucherzahl auf dem zentralschweizerischen Aussichtsberg in den kommenden 140 Jahren auf jährlich 1,3 Millionen. Die neuen Bergbahnen bringen in Hochkonjunkturzeiten hohe Renditen, in Krisenzeiten auch hohe Verluste: Als Ergänzung zu den Rigi-Gipfelbahnen erstellt die Rigi—Scheidegg-Bahn eine meterspurige Aussichtsbahn für 1,35 Millionen Franken. Nach ihrem Konkurs geht sie für 10000 Franken an die Vitznau—Rigi-Bahn, in deren Verwaltungsrat der Basler Bankier Rudi Kaufmann sitzt. Die Gläubiger erwirken vor Bundesgericht schliesslich eine Abgeltung von 60000 Franken.


Niklaus Riggenbach konzipiert die erste Zahnradbahn Europas zum Rigi-Kulm. Probefahrt 1875. Nachlass Fam. Riggenbach.

Slg. H. P. Bärtschi.


Nach Mürren führt eine der frühen elektrischen Bahnen, ursprünglich erschlossen durch eine Standseilbahn.

Foto H. P. Bärtschi 2006.

Die Industrie fördert die «Bergbahnisierung» der Schweiz und eines Teils der Welt mit weiteren Zahnrad-, Standseil- und Luftseilbahnen. Als «Panorama-Casino» bezeichnet Mark Twain 1878 die «Königin der Berge»; er habe bei seiner Rigiwanderung dem zehnten am Wegrand stehenden Jodler einen Franken gegeben, damit er nicht jodle: «Die Schweiz ist nur noch ein Panorama-Casino, das von einer ungeheuer reichen Compagnie mit Millionen Milliarden ausgebeutet wird – ein wahres Heidengeld hat es natürlich gebraucht, um dieses Gebiet zu pachten, sauber herauszuputzen und zu schmücken, um ein ganzes Volk von Angestellten und Statisten zu besolden.» Der amerikanische Autor des sozialkritischen «Huckleberry Finn» trifft mit dieser Schilderung den Nerv des aufblühenden Luxus- und Massentourismus.33 Die Kommerzialisierung der Alpen macht nicht Halt am Rigi. 1888 erhält das Berner Bauunternehmen Pümpin & Herzog die Konzession für den Bau einer meterspurigen Bahn von Interlaken-Ost nach Lauterbrunnen und Grindelwald. Auf den Steilstrecken kommen Riggenbachsche Zahnstangen zum Einsatz. 1890 eröffnet die «Berner Oberland-Bahn» BOB ihren Betrieb. Sie wird 1914 mit 1500 Volt Gleichstrom elektrifiziert. Noch vor der BOB erhielt die Mürrenbahn 1887 eine Konzession zugunsten von Bieler Bauunternehmern im Verein mit dem Winterthurer Maschinenlieferanten Fritz Marti. Ihr Ziel ist der Bau einer Hotelstadt in Mürren. Von der geplanten BOB-Endstation in Lauterbrunnen wird die Standseilbahn zur Grütschalp gebaut und von dort auf der Talschulter die grossartige, meterspurige Aussichtsbahn nach Mürren. Drei Jahre nach der ersten elektrischen Trambahn Vevey—Chillon ist die Mürrenbahn 1891 zusammen mit der Bahn Sissach—Gelterkinden die erste elektrische Überlandbahn der Schweiz. Sie wird mit 550 Volt Gleichstrom betrieben. 1894 bis 1945 besteht in Mürren auch eine Pferdestrassenbahn mit der Spurweite eines halben Meters. Der letzte Wagen ist in der Station Mürren ausgestellt. 1912 vervollkommnet die Standseilbahn auf den Allmendhubel die Aussichtsmöglichkeit auf die Dreiergruppe Eiger, Mönch und Jungfrau. In diesem Jahr eröffnet auch die höchste Bergbahn Europas, die Jungfraubahn, ihren Betrieb bis zum Joch. Der bereits erwähnte Adolf Guyer-Zeller hat das Projekt während eines Ferienaufenthalts 1893 von Mürren aus skizziert. Für die Finanzierung gründet er seine Guyer-Zeller-Bank. Die Bahn wird nie bis zum Jungfraugipfel vollendet, aber immerhin 13 Jahre nach Guyers Tod bis zum Jungfraujoch, in Meterspur, mit Strubscher Zahnstange und mit Drehstrom von 50 Hertz.34


Die Brienz—Rothorn-Bahn führt ab 1892 als typische Bergbahn vom See zum Hotel mit der grossartigen Aussicht auf das Berner Oberland. Die Bahn mit maximal 250 Promille Steigung wird als eine von zweien in der Schweiz nie elektrifiziert.

H. P. Bärtschi 1977.

Bis zum Ersten Weltkrieg wächst die Zahl der Übernachtungen in der Schweiz auf 22 Millionen, die Rigi-Hotels bleiben mit 2500 Betten die führende Goldgrube. Auch andere Orte erreichen in der «Belle Epoque» um 1900 ihren Höhepunkt. Interlaken und Montreux wachsen mit entsprechendem Bergbahnangebot zu Tourismusstädten an. Das Bündnerland schliesst mit Davos und St. Moritz auf. Zur Wirtschaftsbasis wird der Tourismus ferner am Vierwaldstättersee um Luzern und an den Tessiner Seen um Lugano und Locarno. Neben dem Zahnstangensystem von Riggenbach patentieren Abt, Strub und Locher Kletterstangen für Bergbahnen, letzterer für die 480 Promille steile Pilatusbahn. Bis 1913 entstehen 51 Bergbahnen. Für das Gastgewerbe arbeiten 80000 Menschen, viele sind Frauen oder Ausländer. Der Erste Weltkrieg bringt das Ende dieses Booms; einer kurzen Erholung in den «goldenen Zwanzigerjahren» folgen die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Erst 1955, nach 40 Jahren, empfangen die Touristenorte wieder gleich viele Besucher wie zu ihrer Glanzzeit; die wirtschaftliche Bedeutung von 1914 erreichen sie nie mehr.

Trambahnen ermöglichen die «Vergrossstädterung»

Bis zum industriellen Zeitalter genügen Gassen und Schiffsanlegestellen zur Bewältigung des Verkehrsaufkommens. Innerhalb der Städte ist in Gehdistanz alles leicht zu erreichen. Mit der Industrialisierung dehnen sich die Städte aus. Ausschlaggebend für die Nutzung und die Bodenpreise der zentralen Lagen einer Stadt ist nun die Erreichbarkeit. Dazu sind zuverlässige öffentliche Verkehrsmittel nötig. Die ersten schienengebundenen Trambahnen in den Städten entstehen noch in Normalspur, Pferde ziehen die Wagen, später Dampflokomotiven, bis die Technik so weit ist, dass die Städte nicht mehr verrusst werden müssen. Elektrische Strassenbahnen bilden nun das Rückgrat des innerstädtischen Verkehrs. Das früheste und umfangreichste Strassenbahnnetz bauen in der Schweiz private Gesellschaften ab 1862 in Genf. Strassenbahnen erschliessen den ganzen Stadtkanton bis in die französischen Nachbardörfer. Die maximale Netzlänge beträgt am Jahresende 1923 fast 120 Kilometer. Früh schon, ab 1877, entsteht auch in der Industriestadt Biel ein Netz von Strassenbahngleisen. Zürich realisiert auf die erste Schweizerische Landesausstellung 1883 hin nicht nur eine bessere Energie- und Wasserversorgung, sondern auch neue Strassen und 1882 das erste Pferdetram bis in die Nachbargemeinden hinaus. Ab 1894 fahren erste elektrische Tramwagen, ab 1896 beginnt die Stadt die privaten Strassenbahngesellschaften aufzukaufen. Alle Tramwagen erhalten nach und nach die Stadtfarben blau und weiss und werden so zum öffentlichen Werbeträger für Zürich. Bern experimentiert ab 1890 mit Dampfund mit Luftdruckstrassenbahnen. In Neuenburg verbindet ab 1892 ein Dampftram die seenahen Stadtquartiere mit dem hoch gelegenen Normalspurbahnhof. Schliesslich holt Basel 1895 mit einer Grossinvestition für eine elektrische Strassenbahn auf. Mit den Überlandstrassenbahnen entsteht dort langfristig das grösste Tramnetz der Schweiz – es erschliesst auch Nachbargebiete in Deutschland und Frankreich. Es folgen die Eröffnungen von Trambahnen in Lausanne, Lugano, St. Gallen, La Chaux-de-Fonds, Fribourg, Winterthur, Luzern, Schaffhausen und Locarno. Die Entwicklung der Stadt zur Tramstadt verläuft allerdings nicht geradlinig. Der Erste Weltkrieg stoppt einen weiteren Ausbau; danach werden bereits erste Linien stillgelegt.35 Das eigentliche Tramsterben findet zugunsten der autogerechten Stadt dann in den Jahren um 1960 statt.36


Zum grössten verbleibenden Tramnetz der Schweiz wächst dasjenige der Region Basel. Die Linie nach Lörrach mit den Tramwagen von 1899 wird allerdings 1967 eingestellt.

H. P. Bärtschi 1965.


Die Strassenbahnnetze kleinerer Städte überleben die autogerecht werdende Zeit nicht: Schaffhausen nach dem letzten Betriebstag.

H. P. Bärtschi 1966.

Bahnhöfe verbinden, trennen und zentralisieren Ortschaften

Die Frage, wo der Bahnhof gebaut werden soll, bewegt längst nicht nur die Städte, welche Eisenbahnpolitiker stützen oder stürzen. Die Konkurrenz der Eisenbahnen überträgt sich auf die mitfinanzierenden Gemeinden. Sieg oder Niederlage in entscheidenden Eisenbahnbau-Schlachten bestimmen die Ströme der modernen Völkerwanderung. Dass der Standort der meisten Bahnhöfe ursprünglich ausserhalb bestehender Siedlungsstrukturen liegt, hängt mit den technisch bedingten Linienführungen und den günstig zur Verfügung stehenden Grundstücken zusammen. Für ziemlich alle realisierten Bahnlinien erarbeiten die Vermesser und Planer Varianten von Linienführungen. Sie erschliessen ein Mehr oder Weniger an Ortschaften mit mehr oder weniger kostspieligen Bauarbeiten. In manchen Fällen erstellen Gesellschaften Bahnhöfe für mehrere Ortschaften; dies führt zu Doppelbezeichnungen wie Arth-Goldau. Aber auch in Randsituationen entwickeln sich die neuen Verkehrsknoten zu sozialen und wirtschaftlichen Zentren. Vor den Bahnhöfen entstehen Geschäftszentren auf Grundstücken mit hohen Preisen, hinter den Bahnhöfen konzentrieren sich Lager-, Gewerbe- und Industriebetriebe, vermischt mit hoch verdichtetem Wohnungsbau für die Arbeiter. Die Lage der Bahnhöfe dominiert Siedlungen, fördert und behindert ihre Ausdehnungen und die inneren Verbindungen. So gestaltet die Eisenbahn nicht nur Agrar- und Gebirgs-Landschaften um, sondern auch Siedlungslandschaften. Sie wird zum wichtigsten Element ihrer Strukturierung. Neue günstige Standorte bestimmen über die Bodenpreise auch die Siedlungsentwicklung – stärker als viele, oft nur im Ansatz ausgeführte Planungen: Bahnkonzerne machen oder bestimmen Stadtplanungen, notwendige Korrekturen können erst nach der Verstaatlichung stattfinden: Basel vereinigt seine drei Kopfbahnhöfe, die Bahnhöfe wie in Biel oder Luzern werden verlegt.

 

Kleinste Bahnhöfe haben per Definition mindestens zwei Weichen, damit Züge zusammengestellt, kreuzen, enden, wenden oder überholen können. Die dazugehörenden Hochbauten umfassen bei grossen Anlagen Aufnahmegebäude für Reisende mit Bahnhofhallen, Perrondächern und Aborthäuschen, Güter- und Wagenschuppen, Lokomotivdepots mit Wassertürmen und Werkstätten.37


Das älteste Wärterposten- und Stationsgebäude der Schweiz steht seit 1847 in Dietikon.

Foto H. P. Bärtschi 1980.


Am 1857 erbauten Bahnhof Aigle treffen die Schmalspurbahnen nach Leysin, Champéry und Les Diablerets die Hauptbahn.

H. P. Bärtschi 1985.


Als ältester Bahnhof der Schweiz steht in Baden das 1846 geplante Aufnahmegebäude, das 1980 eine sorgfältige Renovation erfährt.

H. P. Bärtschi 1980.


Eine monumentale Halle aus der Privatbahnzeit bilden die erhaltenen Teile des 1896 erstellten Centralbahnhofs Luzern.

Foto H. P. Bärtschi 2015.


In Zürich schenkt die Stadt der projektierenden Privatbahn den Bauplatz ausserhalb der Festungsanlage und beseitigt diese. In Personalunion plant der Politiker, Jurist und Bahninvestor Alfred Escher die Bahnhofverlegung an den See. Er scheitert an der Opposition, die eine Seepromenade und keinen Hafenbahnhof will. Der Bahnhof bleibt am alten Standort (rechts unten).

Projekt Wild/Wetli 1862/63.

Architektonisch sind die Bahnhofbauten oft die ältesten erhaltenen, bedeutenden Zeugen des frühen Eisenbahnwesens. So sind von der ersten Schweizer Bahngesellschaft nur Teile eines einzigen Wagens von 1847 erhalten, hingegen existieren noch das Aufnahmegebäude Baden (ohne Bahnhofhalle) und – vergrössert – die Wärterstation Dietikon, beide aus dem Jahre 1846.38 Da die Aufgabe zur Erstellung von Bahnhochbauten sich wiederholt, haben die Bahnunternehmen Normalien für Bautypen erarbeiten lassen. Personenbahnhöfe können so nach Form (Kopf-, Keil-, Insel-, Hochbahnhof) oder nach Grössenordnungen eingeteilt werden. Im für die Generaldirektion der SBB 1979–1984 erstellten Bahnhofinventar39 werden die über 900 Stationen folgenden Grössenordnungen zugeteilt: In kleinen Orten richten die Bahnen Wartehäuschen, Wärterstationen oder Güterstationen ein. Bei letzteren handelt es sich um Güterschuppen mit Wohnung für den Stationsvorstand und Schalterraum für die Personenbeförderung. Betriebstechnisch gehören einzelne dieser Gebäude zu Dienst- und Haltestellen, andere zu kleinen Bahnhöfen, die später oft durch den Abbau von Weichen ihre Stellung als Bahnhof verlieren. In Dörfern entstehen die am meisten verbreiteten Landstationen. Sie umfassen eine Wohnung für den Bahnhofvorstand und Dienst-, Gepäck-, Schalter- und Warteräume in zweigeschossigen, meist traufständigen Satteldachgebäuden. Diese sind in der Mehrzahl gemauert und verputzt, seltener weisen sie Chalet- und Regionalformen auf. Für Kleinstädte werden mittelgrosse Bahnhöfe erbaut. Sie umfassen zusätzliche Nutzungen und weisen meist klassizistische Formen und Verzierungen auf. Dabei lässt sich die erwähnte Tendenz der abnehmenden Grosszügigkeit gerade bei dieser Grössenordnung von Aufnahmegebäuden verfolgen. So entstehen die ersten Bahnhöfe der Tessiner Talstrecken der Gotthardbahn als grosszügige «Palazzi», später baut die Bahn an den Rampenstrecken aus Spargründen nur noch kleine, zierlose Stationsgebäude. Die grossen Stadt- und Grenzbahnhöfe bilden Sonderformen. Ferner sind die Güter-, Werk-, Hafen- und Rangierbahnhöfe zu erwähnen. Ihre Gleisfelder, Ablaufberge und die Richtungs- und Ausfahrgruppe bilden flächenmässig die grössten zusammenhängenden Bahnanlagen. Wo sie in alten Vorbahnhofbereichen liegen, bilden sie grosse innerstädtische Flächen ohne Hochbauten, also eine Form von Freiflächen, die nicht öffentlich zugänglich sind.

Die baukünstlerisch aufwändigsten Bahnbauten gelten dem Eintritt in die Stadt – oder dem Abschied von der Stadt. Nirgends repräsentiert sich die Eisenbahn prunkvoller als im Hauptbahnhof einer grossen Stadt. Die Reisenden werden in grossen Hallen empfangen oder abgefertigt. In der Verbindung von Massivbauten und überdachten Zugsgleisen entsteht eine neue Ästhetik. Repräsentative Stadtbahnhöfe erstellen im 19. Jahrhundert die Gotthardbahn in Bellinzona, Lugano und Locarno, die Centralbahn in Luzern und die Nordostbahn in Zürich. Der Hauptbahnhof Zürich ist die Krönung der schweizerischen Bahnhofarchitektur während der Privatbahnzeit. Noch anfangs der 1860er-Jahre will Alfred Escher den 1846 erstellten ersten Bahnhof vom Platzspitz an das Seeufer verlegen, was aber an der Opposition scheitert. Schon 1855 hat Escher als Gründer des Polytechnikums, der NOB und der Kreditanstalt den Stararchitekten Gottfried Semper nach Zürich an die ETH geholt. 1861 wird Semper mit dem Entwurf für einen neuen Hauptbahnhof beauftragt. Dieser skizziert nach römischem Vorbild den Bau einer grossen Basilika-Halle für die ein- und ausfahrenden Züge und zur Stadt hin seitliche Monumentalbauten. Die deutschfeindlichen Ausschreitungen nach dem Krieg 1871 in Zürich und die Berufung nach Wien führen zum Wegzug des Stararchitekten. Zum Hausarchitekten von Alfred Escher ist inzwischen Jakob Friedrich Wanner geworden. Wanner entwirft den Neubau der Schweizerischen Kreditanstalt am Paradeplatz und viele Bahnhofgebäude für die Nordostbahn. Er leitet – als letzter Architekt in der Schweiz – den Bau des Hauptbahnhofs in Zürich von der Gleishallenkonstruktion bis zum Figurenschmuck.40 Escher setzt gleichzeitig eine Stadtplanung durch, die den neuen Bahnhof ins Zentrum setzt, mit Triumphbogen, Bahnhofstrasse und umgebenden Quartieren für Geschäfte, Arbeitermietskasernen und Fabriken: die Eisenbahn beweist sich als dominierender städtebaulicher Faktor.


Einer der grössten kohleverarbeitenden Betriebe entsteht 1896 in Schlieren für die Gasversorgung der Region Zürich. Über den Werkgleisen, die zwischen aufgeschütteten Kohlehalden laufen, steht in der Bildmitte die Lagerhalle für Industriekoks.

Gasverbund Ostschweiz.

Die Abhängigkeit von importierten Energieressourcen

Ausgehend von England verbreitet sich für das Erschmelzen von Metallen die Nutzung von bergmännisch abgebauter Kohle.41 Zur Zeit der ersten Hochkonjunktur der Kohlewirtschaft in England und ihrer ab 1850 beginnenden Blütezeit in Deutschland und Frankreich basiert jedoch die schweizerische Energiewirtschaft zu 87 Prozent auf Holzenergie. Wichtig sind auch Torf und schliesslich die Wasserkraft.

König Kohle


Begünstigt durch billige Importmöglichkeiten mit der Eisenbahn stellen die Industriebetriebe, die Haushalte und die Transportunternehmen ihren Energiebedarf auf Kohle um: Industriequartier Zürich 1898.

H. P. Bärtschi 1973.

Die Anbindung an das internationale Eisenbahnnetz hat dann, spät genug, die völlige Umstellung der Energiewirtschaft des Landes zur Folge. Importkohle wird zum wichtigsten Transportgut. Bis zum Ersten Weltkrieg verfünffacht sich der Energiekonsum. Kohle liefert nun 78 Prozent der Primärenergie, Holz 16 Prozent. Dank ersten leistungsfähigen Elektrizitätswerken folgt die Wasserkraftnutzung mit nunmehr 5 Prozent. Torf spielt keine Rolle mehr, dafür bereits Erdöl – mit einem Prozent.42 Die Abhängigkeit der Gesellschaft von fossilen Energiequellen wird bleiben, nur verlagert sie sich auf Erdöl und Erdgas.

Die kohletransportierende Bahn ist selbst ein grosser Kohlekonsument: Dampflokdepot Delémont von 1889.

Foto H. P. Bärtschi 1997.

Das Bild der Schwerindustrie mit Wäldern von rauchenden Kaminen prägt ab den 1870er-Jahren auch in der Schweiz immer mehr Industrielandschaften. Kohle macht Fabrikgründungen unabhängig von nahen Wasserkraftstandorten. Wärmekraftmaschinen lassen sich überall einsetzen, wo in der Nähe ein Gleisanschluss besteht. Dampf, in kohlegefeuerten Kesseln erzeugt, bildet die neue, ungebundene Kraft für den Antrieb von Arbeitsund Transportmaschinen. Die Winterthurer Maschinenfabrik Sulzer wird international führend im Bau von Dampfkesseln und stationären Dampfmaschinen. Andere schweizerische Firmen forcieren die Kohlewirtschaft mit dem Bau von Dampfschiffen und Dampflokomotiven.43 Alles setzt auf Kohle. Die vom Bund koordinierte Tarifordnung begünstigt mit der niedrigen Tarifierung von Kohletransporten den Kohleverbrauch von Haushalten, von Industrie- und Bahnbetrieben und – über den Transit – von Nachbarländern mit geringen Kohlevorkommen. Allein die grossen Privatbahnkonzerne verbrauchen vor der Verstaatlichung jährlich gegen 700000 Tonnen Kohle für ihre Dampflokomotiven. Als bedeutende Kohleverwerter funktionierten während 150 Jahren auch die Gaswerke. Als erste führen die Spinnereibesitzer die Gasbeleuchtung ein, um die Arbeitszeit in die Nacht verlängern zu können. In der Schweiz entstehen ab 1823 eine nicht bekannte, grosse Zahl von werkseigenen Kleingaswerken. Öffentliche «Illumination» bleibt vorerst die Ausnahme: die Nacht soll dem Ausruhen dienen, die Beleuchtung von Strassen und Plätzen hingegen droht das Nachtleben zu fördern und somit die Sittlichkeit bei Betrunkenen und Verliebten zu beeinträchtigen.44 Pioniere der Gasbeleuchtung sind nebst den Fabriken auch die Hotels. 1841 lässt Bern das erste öffentliche Gaswerk der Schweiz errichten – mit Kohle aus kantonalen Bergwerken am Niederhorn! Es folgen Genf, Basel, Lausanne und 1856 Zürich. Dort entsteht sechs Kilometer limmatabwärts vom Stadtzentrum 1896 das grösste Gaswerk der Schweiz mit Gleisanschluss und Arbeitersiedlungen. Mit 13 Rangier- und Abstellgleisen betreibt das Gaswerk Schlieren die umfangreichste konzentrierte Werkbahnanlage des Landes. Erzeugt wird nicht nur Stadtgas, sondern auch Koks für die Industrie. Zum witterungsgeschützten Lagern von Koks übernimmt die Stadt Zürich die «Halle des machines» von der zweiten Schweizer Landesausstellung in Genf.45


Die Bahn von Chavornay nach Orbe ist 1894 die erste elektrifizierte Normalspurbahn der Schweiz.

 

Foto H. P. Bärtschi 1967.

In der Privatbahnzeit bleibt importierte Kohle die dominierende Energiequelle. Kohle aus Deutschland und Frankreich ist für die Bahnen das wichtigste Transportgut. Entsprechend wichtig sind Kohle- und Brikettlager zur Überbrückung von Lieferungsengpässen. Bei den Dampflokomotiven verbessern die Hersteller die Energieeffizienz durch Dampf-Überhitzung und doppelte Dampfentspannung. Bis in die 1910er-Jahre führt die Abhängigkeit von ausländischer Kohle zu keinen gravierenden wirtschaftspolitischen Problemen. Dann allerdings hat die Versechsfachung des Preises von Importkohle im Ersten Weltkrieg schwerwiegende Folgen für die ganze Wirtschaft.