Schweizer Bahnen

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Shareholder Value anno 1857 und 1875

Der Eisenbahnbau benötigt ein nie dagewesenes Mass an Kapital. In der Schweiz verschlingen die Bahninvestitionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen dominierenden Teil aller Anlageinvestitionen. In den Jahren des höchsten Eisenbahnfiebers, also 1857 und 1875, übertreffen sie alle Investitionen für den Häuser-, den Strassen- und den Wasserbau. Hinzu kommt ein Teil der Kosten für Maschinenimporte, die ebenso der Industrie wie den Bahnen dienen. Allerdings unterliegen die Eisenbahninvestitionen noch grösseren Schwankungen als die übrigen Bauinvestitionen. Nach dem ersten Bahnbauboom fallen sie auf unter 5 Prozent des Spekulationsjahres von 1857, mit entsprechenden Folgen für die Arbeitsplätze. Ähnlich sieht das Verhältnis für die Zeit nach 1875 aus.23

Was bewegt Banken, Klein- und Grosskapitalisten zu solch unausgewogenen Einsätzen? Die im 19. Jahrhundert entstehenden Kreditbanken führen die Handelbarkeit aller Arten von Schulden ein, die anonymen Aktiengesellschaften wenden sich vom Prinzip der persönlichen Haftung ab; sie kreieren Wertpapiere, die beim Wertzerfall zu Nonvaleurs werden.24 Dem versucht der Bundesstaat 1851 entgegenzuwirken, indem er sich das Recht auf Ausstellung von «Gutscheinen für die Auszahlung von Münzen» zuspricht. Doch trotz der Einführung einer einzigen nationalen Notenbank im Jahre 1874 und schliesslich der Gründung der Nationalbank verliert diese gegenüber den Geschäftsbanken 90 Prozent dieses Monopols, sie kontrolliert lediglich noch 10 Prozent der umlaufenden Geldmenge.


Der spekulative Charakter des Privatbahnbaus zeigt sich in den extremen Schwankungen der Investitionen zwischen Boom- und Krisenjahren.

Nach Hj. Siegenthaler, Die Schweiz 1850—1914, Stuttgart 1985.

Das für den Bahnbau notwendige Kapital wird angelockt mit dem Versprechen auf Dividenden und vor allem auf Kurssteigerungen von Aktien und Obligationen: Für die Finanzierung der geplanten Bahnbauten werden die Wertpapiere bewusst unter dem Nennwert und voraussichtlichen Kurswert angepriesen, zum Beispiel zu 80 Prozent. So verwandeln sich 80 einbezahlte Millionen über Nacht in 100 Millionen. Der Gründergewinn von 20 Millionen kommt nicht dem Bahnbau zu Gute, sondern den Verwaltern und Einlegern der Banken oder direkt den Grosskapitalisten. Diese nutzen ihr Vermögen für die Machtsteigerung, indem sie im Falle des Bahnbaus in der Schweiz Einsitz in die Direktions- und Verwaltungsgremien nehmen, um ihre Gewinne sichern zu können. Mittels Prioritäts- und Stammaktien hebeln sie die Aktionärsdemokratie aus. Ihre politische Einflussnahme sorgt für Steuererleichterungen, staatliche Subventionen und Garantien für ihre abzuschöpfenden Gewinne: Bereits 1861 fehlen den Privatbahnen die Erträge zur Deckung der Zinsen; sie nehmen neues Kapital auf und decken damit die Zinsen und zahlen Dividenden aus. Für 1876 stellt der Bund fest, dass ausser der Vitznau—Rigi-Bahn keine einzige Bahn rentiere. Am Jahreswechsel darauf kommt es zum Börsenkrach.

«Höher verschuldet als Frankreich nach dem Krieg 1871»

Die auf kurzsichtige Gewinnmaximierung ausgerichteten Mechanismen dieser Spielart des Liberalismus führen zur Aushöhlung der Substanz ganzer Konzerne. Bereits 1858 gibt es massive Krisenerscheinungen, 1867, im Jahr der Liquidation von Isaac Péreires Crédit Mobilier, verschärfen sie sich, um schliesslich 1877 zum Kollaps durch Börsensturz zu führen. Auch die Nordostbahn hat zur Steigerung ihres Shareholder Values Mittel aus dem Baubudget für defizitäre Betriebsbereiche abgezweigt, den Unterhalt vernachlässigt und ihre Direktoren und Verwaltungsräte fürstlich entschädigt. Beim Zusammenbruch der Eisenbahnspekulation sinkt der Kurs der Nordostbahnaktie von 670 Franken im Jahre 1871 auf 53 Franken im Jahre 1879. Derjenige der VSB sinkt sogar auf 37 Franken. Nach Karl Bürkli belastet der Wertpapierverlust der Schweizer Bahnen, dividiert durch die Einwohnerzahl, die Schweizer stärker als die Reparationen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1871 an Deutschland zahlen muss: «Dieses Landesunglück kann kaum mit einem verlorenen Krieg verglichen werden, namentlich für den Kanton Zürich, der so stark betheiligt ist.»25 Bürkli lanciert 1878 die Volksinitiative für die Eisenbahnverstaatlichung. Zwar ohne Erfolg; immerhin wird festgeschrieben, dass im Falle eines «Rückkaufs» keine übertriebenen Abgeltungen zu entschädigen sind.


Bereits sechs Jahre vor dem Eisenbahnkrach kann die NOB für ihre Tochtergesellschaft «Bülach—Regensberg-Bahn» keine Dividende auszahlen. Die in Richtung Koblenz und Deutschland geplante Bahn wird nie vollendet.

HPB Stiftung Industriekultur.

Die Finanzinstitute und die öffentliche Hand retten die alten Bahnkonzerne vor dem Konkurs mit verschiedenen Massnahmen. Eine ist das Moratorium für ihre vertraglich festgelegten Investitionen. Weitere neue Linien würden die Ertragslage noch mehr verschlechtern. Die NOB hat ihre Netzlänge verdoppelt, doch die Verkehrsleistungen sinken um einen Drittel, die Kosten für «Verschiedenes» steigen zwischen 1860 und 1877 um 462 Prozent. Nichts von alledem weiss der 30-köpfige Verwaltungsrat, dem auch die fünf Direktoren angehören. Alfred Escher sucht heimlich Kapitalhilfe in Paris, erhält sie zu knechtenden Bedingungen, gründet dann allerdings zwecks Rückzahlung der Obligationen mit der SKA und anderen Banken die Schweizerische Eisenbahnbank. Diese kann nach der wirtschaftlichen Erholung Mitte der 1880er-Jahre aufgelöst werden. Die Verluste sind sozialisiert, die Gewinne können erneut privatisiert werden.

Zürich im Zentrum des Bahnspinnennetzes

Der Eisenbahnbau mischt die Wirtschaftspolitik auf. Sie stösst nicht nur die allseitige Konkurrenz zwischen Bankhäusern und Bahngesellschaften an, der Kampf dehnt sich zur Rivalität zwischen Städten, Regionen und Nationen aus. Wo verschiedene Bahngesellschaften eine Stadt erreichen, entstehen mehrere Kopfbahnhöfe an verschiedenen Orten. London erhält deren zwölf, Paris neun, Berlin ebenfalls neun, Wien sieben. Der Bahnbau wird im Kampf um Zentralität zum städtebaulichen, zum regionalen und zum nationalen Politikum. Da sich in der Schweiz regionale Monopole bilden, erhalten die Städte in der Regel nur einen Hauptbahnhof. In Zürich ist der Bau eines Kopfbahnhofs der Nationalbahn verhindert worden, die Nordostbahn wertet die Zentralität ihres Hauptbahnhofs auch nach dem Tod von Alfred Escher weiter auf. Am Ruder ist nun der Zürcher Oberländer Textilfabrikantensohn Adolf Guyer-Zeller. Am 2. Juni 1894 lässt er mit Ausnahme zweier Günstlinge und wichtiger Regierungsvertreter alle Direktionsmitglieder und Verwaltungsräte absetzen – die Vertreter der Kreditanstalt werden durch solche der späteren UBS aus Basel ersetzt. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet von brutalster Interessenwirtschaft. Guyer lässt Bauprojekte nur noch unter seiner Aufsicht bewilligen. Eines seiner Ziele ist es, Zürichs Vorherrschaft zu festigen. So spitzt sich die Städtekonkurrenz weiter zu, und sie verändert die Rangfolge der Wirtschaftszentren grundlegend. Unter dem Ancien Régime besass Bern das grösste Territorium der Schweiz. Die Einwohnerzahl der Stadt Bern wird dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Genf übertroffen. Nach Basel folgt an vierter Stelle Lausanne. Zürich muss sich bis zur ersten Phase der Eingemeindungen von 1893 mit dem fünften Rang begnügen, gefolgt von La Chaux-de-Fonds, St. Gallen und Luzern. Winterthur liegt bezüglich der Einwohnerzahl weit hinten, holt aber mit der Industrialisierung auf. Alfred Escher und sein Nachfolger Adolf Guyer-Zeller machen mit ihrer Wirtschafts- und Eisenbahnpolitik die Limmatstadt trotz ihrer nicht zentralen Lage zum Verkehrszentrum der Schweiz. Die seit 1893 gültige Rangliste ist vor allem eine Folge des Eisenbahnpolitik: Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Winterthur.26


Helvetia, auf einem Flügelrad balancierend, bündelt in ihren Adern die Lebensströme von London und Berlin über den Gotthard nach Italien. Zürich wird der Bauchnabel des Weltverkehrs.

H. P. Bärtschi 2016


Für die Rampenstrecken der Gotthardbahn entstehen die aufwändigsten und teuersten Tiefbauten: unterste, mittlere und – über den Dampfloks – die obere Stufe der Linienentwicklung mit den Kehrtunneln bei Wassen.

H. P. Bärtschi 2016.

Grossartige Tiefbauten der Haupt- und Nebenbahnen, sparsam erstellte Hochbauten

Bahnbauten sind, wenn man auf Steilrampen und Abtreppungen verzichtet, Hunderte von Kilometern lang, sie durchdringen oder überschienen Berge und Täler mittels Kunstbauten. Während Land- und Wasserstrassen natürliche Elemente wie harte Bodenflächen oder Flüsse und Seen in ihre Linienführung einbeziehen können, bedingen eiserne Schienenbahnen einheitlich durchgehende Unterbauten mit geringen Steigungen, damit beim kleinen Reibungskoeffizient zwischen Stahlschiene und Stahlrad Züge gezogen und gebremst werden können. Das ermöglicht den Transport grosser Personen- und Gütermengen, es erfordert aber hohe Anlagekosten.

 

Der Bahnbau bedingt hohe Anlagekosten

Die Baukosten der im einfachen Gelände erstellten Strecke Zürich—Baden sind in der Abrechnung von 1848 mit 3,23 Millionen Franken ausgewiesen. Fast 30 Prozent davon hat der Unterbau mit Erdarbeiten, Sprengungen, Brücken, Mauern, Fluss- und Strassenkorrektionen gekostet. Der Oberbau mit Schienen, Schwellen, Schotter, Unterlagsplatten mit Nägeln und Schrauben macht inklusive Einfuhrkosten 24 Prozent des Budgets aus. Gegen 18 Prozent müssen für Landenteignungen und Gerichtskosten ausgelegt werden. Bei den Hochbauten schlagen die Anlagen in Zürich und Baden, ferner die Wärterhäuser mit 16 Prozent zu Buche. Ganze 9 Prozent machen der Kauf der Lokomotiven und Wagen aus, den Rest beanspruchen die Aktienemission und Managementauslagen. Im Verlaufe von 100 Jahren sollten sich die Anlagekosten pro gebautem Bahnkilometer verzehnfachen.27 Entsprechend höher werden die Schulden und die Kapitalkosten. Der Kapitalertrag sinkt und dementsprechend auch das Interesse für private Investitionen.

Der Bahnbau wühlt die Landschaft auf

Die politische Grundlage für die gewaltige Landschaftsveränderung ist das in der Bundesverfassung und im Eisenbahngesetz 1848–1852 verankerte Enteignungsrecht. Dieses mit der Unantastbarkeit des Privateigentums eigentlich unvereinbare Gesetz rechtfertigt sich mit dem übergeordneten Landesinteresse, welches letztlich der neuen Form des Privateigentums von anonymen Aktiengesellschaften dient. Nur so kann die Linienführung von Eisenbahnen nach den notwendigen technischen Grundsätzen festgelegt werden: Die Eisenbahn ist ein starres, zusammenhängendes System von Achsgewicht, Meterlasten, Zuglänge und Zughakenkraft der Lokomotiven in Übereinstimmung mit den Kunstbauten, dem Unter- und Oberbau inklusive Schotterbett, Schwellen und Schienen. Die Verwirklichung dieses Systems beschleunigt die Vermessung der Landschaft und das Denken in Richtung einer dreidimensionalen Geometrisierung des Raumes. Die entsprechenden Techniken sind vor allem für den Bergbau entwickelt worden.


Unterschiedlich belastbare Schienenprofile, Musée du fer et du Chemin de Fer Vallorbe.

Foto H. P. Bärtschi 1996.

Der Stolz der Nation Schweiz auf ihre Eisenbahn rührt gerade auch daher, dass die Überschienung des Juras und der Alpen besonders aufwändige Bauwerke erfordert: «der längste Tunnel der Welt», die «höchste Eisenbahnbrücke», «die höchste durchgehende Bahn Europas» und die «höchste Bergbahn Europas» prägen rückblickend und teilweise bis heute den nationalen Mythos des Landes. Die Überschienung von Gebirgen erfordert aber nicht nur aufwändige Brücken- und Tunnelbauten. Je mehr der Bahnbau in die Höhen vordringt, desto wichtiger werden neben den rein topografischen Kenntnissen die Naturkenntnisse. Und diese werden im Selbstverständnis einer Pionierzeit umgesetzt, das die Natur als Hindernis betrachtet, welches es zu überwinden gilt. Kataster über Naturgefahren werden angelegt: Wo gibt es Wildbäche und Überschwemmungsgefahren, wo Rutschungen und Steinschlaggefahren, wo Lawinenzüge? Speziell für Fundations- und Tunnelbauarbeiten sind vertiefte geologische Kenntnisse unerlässlich. So beginnt der Eisenbahnbau zur linear totalen Landschaftsveränderung zu werden. Die für die neue Technik «falsche» Natur muss korrigiert werden. Für den Bau der Rheintallinie Sargans—St. Margrethen wird der Rhein 1857–1858 abschnittsweise in grösserem Umfang «korrigiert». Der Bau der Bahnlinie durch das Birstal von Basel bis Moutier erfordert 1874–1875 bedeutende Eingriffe in den Wasserlauf.28 Eine Jahrhundertüberschwemmung überschattet 1876 die Bauvollendung der Tösstalbahn, in deren Folge tätigt der Kanton Zürich über mehrere Jahre seine grösste Investition für die Tösskorrektion.

Die Hauensteinbahn – die zweite Gebirgsbahn des europäischen Kontinents

Zeitgleich mit der Wasserstrassen- und Schienenverbindung Bodensee—Genfersee und den ersten Bahnbrücken über den Rhein entsteht die erste Gebirgsbahn der Schweiz.

Die obere Hauensteinbahn gehört zu den ersten Gebigsbahnen Europas. Bedeutende Bauwerke sind original erhalten.

Foto H. P. Bärtschi 1979.

Sie führt von Basel über die alte Hauensteinlinie nach Olten. Robert Stephenson schlägt diese Route schon 1850 dem Bundesrat vor: Die Linie ist «im Thalgrund bis in die Nähe von Bukten fortzuführen. An dieser Stelle beginnt die schiefe Ebene von drei Kilometern Länge mit almälig zunehmender Steigung von 30–35 per mille.» Schiefe Ebenen sind Möglichkeiten der frühen Bahnbauer, Hindernisse baukostengünstig zu überwinden. Die Züge werden in Wagengruppen aufgeteilt und mit Drahtseilantrieb über Steilstreckenabschnitte befördert. Mit zwei weiteren schiefen Ebenen sollte Olten über Trimbach erreicht werden. Als 1852 das Hauensteinprojekt in die Detailplanung kommt, steht die erste Gebirgsbahn des Kontinents, die österreichische Südbahn, kurz vor der Vollendung. Sie verbindet den österreichischen Adriahafen Triest über den Semmering-Pass mit Wien. Carl Ghega vergleicht für diese Bahn Drahtseilprojekte mit «Reibungs-Locomotiv-Eisenbahnen» und kommt nach dem Studium amerikanischer Bahnen mit Steilstrecken zum Schluss, dass Steigungen von 25 Promille mit Lokomotiven zu bewältigen sind. Mit einer typischen amerikanischen 2B-Lokomotive macht er erste Probefahrten. Im Wettbewerb für eine geeignete Gebirgslok entsteht unter Auswertung der Versuchsergebnisse Wilhelm Engerths Stütztenderlok, die das Gewicht des Kohlenwagens für die Reibung mit einbezieht. Der erfolgreiche Betrieb der Semmering-Steilstrecken mit Engerth-Lokomotiven ermuntert die Centralbahn, den Hauenstein ohne Drahtseilbahnen mit Rampenstrecken von 27 Promille zu bauen und mit Engerth-Lokomotiven zu betreiben. An diesem Beispiel zeigt sich eindrücklich das oben erwähnte «technische Ensemble», wobei in diesem Fall die Entwicklung eines neuen Dampfloktyps eine durchgehende Trassierung ohne «schiefe Ebenen» ermöglicht. Als aufwändigste Bauwerke bleiben der Scheiteltunnel, die Eisenviadukte bei Liestal und Olten und der Hausteinviadukt bei Rümlingen. Bis zu 3000 Arbeiter stehen gleichzeitig auf den Baustellen im Einsatz. Eine Tunnelbrandkatastrophe mit 63 Todesopfern und andere Schwierigkeiten führen zur verspäteten Eröffnung der ersten schweizerischen Gebirgsbahn am 1. Mai 1858.29

Den Tälern folgen, sie mit Brücken senkrecht queren, Tunnelbauten kurz halten

Die Muskelkraft von Arbeitern und Pferden auf der Baustelle und die beschränkten Möglichkeiten beim Bau weitgespannter Brücken setzen Grenzen bei Eingriffen, die dennoch zuvor nie erreichte Ausmasse annehmen. Bahnlinien werden entlang von Höhenkurven geführt, Abtragungen auf das Minimum reduziert, Aushub für den Bau von Dämmen in nächster Nähe verwendet. Nach Möglichkeit legt man neue Bahnlinien entlang der Flüsse an. In allen Fällen überquert man die Flüsse möglichst senkrecht, um die Brückenlänge über dem Wasser so kurz wie möglich halten zu können. Bei Koblenz wird der Rhein mit der heute ältesten grossen, engmaschigen Gitterfachwerkbrücke überbrückt. Den Rheinfall betrachtet man schon 1855 als Naturwunder, man wählt oberhalb des Kataraktes die Form einer Steinbogenbrücke. Der kurze Tunnel unter dem Schloss Laufen bildet dort eine faszinierende Einheit mit dem anschliessenden Brückenbauwerk, das mit seinem Fussgängersteg eine beliebte Verbindung vom Rheinfall zum Schloss Laufen darbietet. Für die Limmatquerung schliesslich nutzt man den Abraum, der beim Bau des Oerliker Tunnels und des Wipkinger Einschnittes entsteht, zum Aufschütten des grossen Erddammes am anderen Limmatufer. Die «Flachstrecken» ab Oerlikon Richtung Bodensee können etappenweise ab Mai 1855 eingeweiht werden, der an Kunstbauten reichste und schwierigste Abschnitt Zürich—Oerlikon jedoch erst am 26. Juni 1856.

Selbstredend gehören die drei Alpentransversalen Gotthard, Simplon/Lötschberg und Rhätische Bahn zu den kunstbautenreichsten Strecken der Schweiz. Weitere besonders dichte Abfolgen von Dämmen, Einschnitten, Brücken und Tunneln befinden sich auf den Bahnen im Toggenburg, im Birstal, durch das Centovalli und auf der Montreux—Oberland-Bahn und – eher überraschend – auf den Stadtgebieten von Zürich, Basel und Lausanne.

Für die Planung und den Bau der Zufahrtsrampen am Gotthard werden in den 1870er-Jahren die Naturgefahren systematisch inventarisiert: Viele Planunterlagen des Schlussrapports des Gotthardbahnbaus zeigen Querprofile, die nebst dem klein wirkenden Trassee die Umgestaltung ganzer Landschaftsabschnitte umfassen. Fels- und Hangrutschpartien, Strauch- und Baumbewuchs sind detailliert, die vorsorglichen baulichen Massnahmen weiträumig eingezeichnet: Terrainverbau, Wildbachverbau, Lawinenverbau, Steinschlag- und Felssturzgalerien übertreffen in einzelnen Abschnitten die baulichen Massnahmen für das eigentliche Bahntrassee bei weitem.30 Der Bau der Gotthardbahn treibt die «Verbesserung» der Natur nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts auf die Spitze. Davon zeugen die Bilder aus der Bauzeit. Ganze Talabschitte sehen oft für Jahre aus, als wäre eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen: gesprengte Felsenpartien, Abraumhalden, Wunde an Wunde.

Sparen mit steileren Bahnen und schmaleren Spurweiten

Mit dem Eisenbahngesetz von 1872 delegiert der Bundesrat einerseits die Hoheit für Bahnkonzessionen von den Kantonen an den Bund, andererseits lässt er gewisse Einschränkungen fallen. Bahnen müssen nicht mehr zwingend in Normalspur gebaut werden. Verschiedene Bahngesellschaften benutzen diese Gesetzesänderung für den Bau von Bahnen mit geringeren Radien, grösseren Steigungen und schmaleren Spuren. Es entstehen Bahnprojekte, die wegen der Erschliessung von Dörfern topografisch nicht optimiert sind oder den demografischen Gegebenheiten nicht entsprechen. Schmalspur bedeutet in der Schweiz meist einen Schienenabstand von 1000 mm, statt wie bei der Normalspur von 1435 mm. Bereits Ende 1873 eröffnet die Lausanne—Echallens—Bercher-Bahn ihren ersten Streckenabschnitt in Meterspur. Viele Tram- und Strassenbahnen entstehen in dieser Spurweite. Andererseits baut die im Ringen um Zentralität zu kurz gekommene Stadt Winterthur nach den Kriterien des damaligen Winterthurer Stadtpräsidenten die Schweizerische Nationalbahn SNB quer zu den Tälern: so könnten möglichst viele Ortschaften neu an das Schienennetz angeschlossen werden, was die Bahn zum Rentieren bringe. Die überrissenen Kosten für Landschaftsveränderungen und grosse Brücken in dünn besiedelten Gebieten führen schliesslich zum Konkurs der SNB.


Als typische «billige» Bahn entsteht bis 1889 die St. Gallen—Gais—Appenzell-Bahn in Meterspur mit Kurvenradien von 30 Metern und Zahnradabschnitten von 92 Promille Steigung. Die Zahnstange und die Riethüsli-Kurve werden 2018 ersetzt.

Zumbühl, Vadiana St. Gallen, 1906.

Nicht verwirklicht wird selbstverständlich das wohl phantastischste aller Bahnprojekte, Alfred Guyers «Orientbahn»: 1895 versucht er als Nordostbahnpräsident, eine neue normalspurige Transitbahn durchzusetzen, die er in einer Schrift als Verbindungsstück zwischen London und Bombay sieht. Als griechischer Konsul rechtfertigt er sein Albula—Ofenpass-Bahnprojekt mit der Aufteilung des Türkenreichs zugunsten von Deutschland, das so eine Direttissima zwischen Bodensee und Indien erhalten würde.31 Sein kleiner, über die väterliche Spinnerei im Neuthal gebauter Abschnitt zwischen Uerikon am Zürichsee und Bauma im Tösstal rentiert nie, er wird 1947 teilweise von den SBB übernommen, schliesslich ganz stillgelegt und ab 1978 als Museumsbahn genutzt. Eine Variante der nie gebauten Ostalpenbahn kommt schliesslich als dritte schweizerische Alpentransversale mit der Rhätischen Bahn zu Stande – in Meterspur und mit Maximalsteigungen von 35 Promille, auf der Berninabahn gar mit doppelt so grossen Steigungen. Mit dem sparsamen Bahnbau wachsen die Vielfalt und der Wirrwarr an Bahnlinien, zu denen jetzt noch Berg- und Trambahnen kommen.